Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Zwölftes Kapitel

Dr. Bruchs war nicht zu Hause, hatte aber eine Karte für den Australier hinterlassen mit der Nachricht: »Bin Schwester entgegengefahren. Bitte warten.«

Hunter machte es sich im Arbeitszimmer bequem, und seine Geduld wurde auf keine harte Probe gestellt.

Mit dem Arzt erschien eine Frau von etwa fünfunddreißig Jahren, die Bruchs mit den Worten vorstellte: »Meine Schwester, Frau Doktor Stahl.«

Hunter war von der Geradheit und Herzlichkeit der Frau angenehm berührt. Aus dem frischen Gesicht sprach ein offenes Augenpaar, und ihre Haltung, ihre sicheren Bewegungen erweckten Vertrauen zu ihrer Selbständigkeit. Die nahe Blutsverwandtschaft mit dem Bruder wurde durch eine frappante Ähnlichkeit der Gesichtsform, des Teints, der tief aschfarbenen Haare und des Wuchses bestätigt, wenngleich die jugendliche Schlankheit des Bruders bei der Schwester durch frauliche Üppigkeit verdrängt war.

»Nun?« fragte Bruchs, als die drei sich behaglich niedergelassen hatten.

»Alles richtig«, erklärte Hunter und berichtete mit Genugtuung über den Gang und Erfolg seiner Verhandlungen, ohne indes der Höhe des dargebrachten Opfers Erwähnung zu tun. Aber Bruchs fragte danach.

Hunter bewahrte sein Geheimnis. »Nicht der Mühe wert«, bemerkte er.

»Ich gerate tiefer und tiefer in Ihre Schuld...«

»Lassen Sie sich davon nicht bedrücken. Gnädige Frau, Ihr Herr Bruder ist ein Egoist, der keinen an seinem Glücke mitbauen lassen möchte. Wir werden ihn aber nicht lange fragen, nicht wahr?«

»Mein Bruder hat mir viel Gutes von Ihnen erzählt. Ich kann Ihnen nur dankbar sein.«

In den blauen Augen der Frau leuchtete es warm.

»Und als dritte wird Ihnen meine Hede danken. Wollen Sie meiner Schwester bestätigen, daß meine Braut den Kampf wert ist, selbst mit den Eltern?«

»Ja, meine Gnädige, das kann ich. Ich glaube, der Charakter Hedwigs ist über jeden Zweifel erhaben, ohne Erbteil von den Eltern. Ich bin kein Schwärmer; ich sehe auch nicht mit den Augen des Verliebten; aber ich spreche nach meiner Überzeugung. Sie ist Aschenbrödel und Königin zugleich. Es ist doch merkwürdig, daß bei den Bildern immer die Phantasiegestalten der Jugend zum Vergleich herhalten müssen. Ein Aschenbrödel, ein Dornröschen in dem alten Spuknest ... Ich glaube, wenn ich lange nachdenke, muß auch noch das Schneewittchen sich einen Vergleich gefallen lassen...«

»Oder die Frau Königin mit meiner geehrten Schwiegermutter«, ergänzte Bruchs. »Gottlob, ich habe schon unterwegs meine Schwester beruhigen können, und wenn sie Hede erst kennenlernt, wird sie sie auch schnell in ihr Herz schließen. Mein Schwager hat ja eine großartige Frau; aber paß auf, meine Hedwig...«

Die Frau nahm den Scherz auf. »Ja, wenn die nur auch einen so guten Mann bekommt!«

»Bedenke: deinen Bruder! Lieber Herr Hunter, meine Schwester kommt in doppelter Beziehung als guter Engel: sie will helfen, und sie bringt auch gleich die Mittel mit. Mein Schwager ist ein Prachtmensch! Gutmütig, klug, ein bissel Pantof ...«

»Max!«

Der Name klang halb lachend, halb vorwurfsvoll.

»Ich will niemand kränken ... Vierundzwanzig Stunden Frist und auch sogar schon auf ein Unterkommen bedacht gewesen, das heiße ich die Zeit weise und entschlossen ausnützen. Zur Erklärung, Herr Hunter: ein Freund meines Schwagers, Universitätsprofessor in Leipzig, ist mit einer Engländerin verheiratet. Die Dame hat in einer Vorstadt Londons eine verwitwete Schwester. Diese Dame wird ratend helfen oder meine Braut selbst bei sich aufnehmen. Ich bin glücklich darüber und beruhigt. Wo so viel Hilfe und Güte verbündet ist, da ist kein unglücklicher Fehlschlag mehr zu befürchten ... Nun aber – ich bitte um Pardon! Wollen Sie meinen Brief für Hedwig morgen vormittag selbst dem Anwalt überbringen?«

»Wie verabredet, Doktor. Ich bin auch der sicherste Bote.«

»Ja, und der selbstloseste. Also Pardon – ich schreibe sofort.«

Er setzte sich an den Arbeitstisch, und Hunter unterhielt sich indessen in gedämpftem Ton mit der Frau. Er legte sich in der Beurteilung des Wutschowschen Ehepaares einige Beschränkung auf, sprach ironisch von dem würdigen Jendrowski, mitleidig von Hedwig und bewunderte die unbefangene, kluge, erquickend frische Denkweise seiner Partnerin. ›So ein Weib‹, dachte er, ›ja, wenn das an deiner Seite gewesen wäre.‹ Und der Gedanke stimmte ihn wehmütig.

»Lesen Sie«, bat Bruchs den Freund. »Ist noch etwas vergessen?«

»Nein, um einhalb zehn am Gartengitter...« Hunter nickte.

Hunter barg den Brief in seinem dickleibigen Taschenbuch und forderte die Freunde auf, in einer Weinstube seine Gäste zu sein.«

»Zum zweiten Male lasse ich mir von Ihnen keinen Korb geben, Doktor.«

Hunter ließ sich von dem bedienenden Kellner ein Kursbuch bringen. Er blätterte in dem herbeigebrachten dickleibigen Kursbuch nach und ersuchte den Doktor, die Angaben zu notieren: »Berlin ab abends dreiundzwanzig Uhr achtundzwanzig vom Bahnhof Friedrichstraße. Hm. Hannover drei Uhr fünfzig – das ist nebensächlich. An Vlissingen elf Uhr dreiundvierzig mittags – und London an sieben Uhr fünfzig abends.«

»Vorzüglich«, bekräftigte Bruchs.

»Ja, in doppelter Beziehung«, ergänzte der Australier zufrieden. »Die Abfahrtszeit könnte nicht günstiger liegen. Sie gibt uns Gelegenheit, nach der ›Abholung‹ der Braut noch eine Stunde irgendwo gemütlich zusammen zu sein. Ich werde, mit Ihrer Erlaubnis, das Lokal auswählen. Und sie bürgt uns zweitens dafür, daß die Reisenden, wenn der brave Jendrowski morgen mittag Lärm schlagt, längst über alle Berge, das heißt jenseits der Grenze in Sicherheit sind. Da kann die Frau Mama wüten, ganz Berlin absuchen lassen, die Polizei in Bewegung setzen – der Flüchtling ist unwiderruflich entwischt...«

Genugtuung malte sich in seinen Zügen. Er versuchte jedoch, den persönlichen Triumph zu verdecken, und erteilte Bruchs Schwester noch allerhand Winke und Ratschläge für die Ankunft in dem Riesenbabel, die dankbar angenommen wurden.

»Ich habe keine Sorge«, versicherte sie ruhig. »Reise ich doch nicht zum ersten Mal, wenn ich auch England bisher nicht gesehen habe. Italien, Frankreich, Österreich, Ungarn haben mein Mann und ich wiederholt besucht.«

»Very well. Und wenn's doch mal wo hapern sollte: immer sich an einen Policeman wenden. Die Leute wissen Bescheid und sind stets dienstwillig ...«

Am nächsten Vormittag gab auch der Rechtsanwalt seinem Besucher noch einen Wink, für den dieser aufrichtig dankbar war.

Hunter war pünktlich um die verabredete Stunde zur Stelle, traf Jendrowski bereits in seinem Kabinett und lieferte ihm den Brief aus.

»Ich möchte Ihnen noch einen Beweis meines Wohlwollens für die junge Dame geben«, sagte Jendrowski. »Ich weiß ja nicht, wohin Sie mit ihr zu gehen gedenken, und ich will auch nicht danach gefragt haben. Haben Sie, was ja wenigstens nicht ausgeschlossen ist, ein ferneres Ziel, so müßten Sie eine etwas prosaische, aber notwendige Vorsorge treffen: eine Ergänzung ihrer Garderobe – Kopfbedeckung, Mantel und was Sie sonst für wünschenswert erachten. Sie trägt ein einfaches Hauskleid, das auch für eine Reise genügt, aber einen Abendmantel, den Sie besser ersetzen. Das Kopftuch tauschen Sie vielleicht sogleich beim Zusammentreffen gegen eine bessere Umhüllung, etwa ein Pelzmützchen, aus, das bequem ist und ohne Proben paßt.«

Hunter dankte ehrlich, und selbst über das Habichtsgesicht Jendrowskis huschte ein Lächeln der Befriedigung.

Er zog die Uhr.

»Um zehn muß ich auf dem Gericht sein. Hm ...«

Er kramte unter den Akten auf dem Schreibtisch, fand anscheinend das Gesuchte nicht, klingelte nach dem Bürovorsteher und rief diesem zu: »Bitte, die Akten Pohl.«

»Verzeihung. Habe ich Herrn Doktor schon gestern abend vorgelegt.«

»Gestern abend? Da habe ich sie zu Hause vergessen. Lassen Sie mir sofort eine Droschke besorgen.«

Die Doppeltür fiel hinter dem Dicken wieder zu, und der Anwalt fuhr, zu Hunter gewandt, fort: »Sie soll die Botschaft sogleich erhalten, damit Sie sich vorbereiten kann.« Er lachte über seine Schlauheit. »So eine Vergeßlichkeit ist mitunter von Nutzen... Auf Wiedersehen morgen nachmittag...«

Der Australier kaufte in einem großen Modegeschäft verschwenderisch für seinen Schützling ein. Eine Verkäuferin von der Statur Hedwigs mußte den kostbaren Pelzmantel überwerfen und auch ein schickes Pelzbarett auf ihren hübschen Kopf drücken... Die Wahl der Handschuhe machte Schwierigkeiten. Das bedienende Fräulein riet zu einer Nummer, die für sie selbst paßte, und veranlaßte Hunter zu der Entscheidung: »Nein, eine Nummer größer. Mein Geburtstagskind hat viel arbeiten müssen und wird nicht so zierliche Händchen haben.«

»Wieviel Paare?«

»Ein Dutzend in allen Farben.« Er wählte selbst aus. Taschentücher von Seide und feinem Batist, Schleier, Pelz- oder Federboas kosteten eine Stange Geld. Er vergaß selbst ein Reisenecessaire, Koffer und Handtasche nicht, ließ sich in einer Buchhandlung ein Dutzend guter Bücher empfehlen und kaufte in den Läden auf dem Heimwege an Kleinigkeiten zusammen, was ihm für eine junge Dame verwendbar schien.

Die Pakete gelangten in eine Weinstube Unter den Linden, wo er zugleich für den Abend ein Séparée – zu einer »Geburtstagsfeier« – belegte.

Die Mittagszeit führte ihn mit Bruchs und Frau Marie zusammen, den größten Teil des Nachmittags verbrachte er zu Hause; er gab, als er auf dem Hofe den Kutscher Müller traf, diesem eine Handvoll Zigarren, sprach flüchtig bei Fantig vor und fuhr erst ziemlich spät nach der Neuenburger Straße.

Frau Marie war erregt und ungeduldig. Der Doktor merkwürdig ruhig und entschlossen.

Sie verließen die Wohnung vor neun und legten den Weg zu Fuß zurück. Wenige Minuten vor halb zehn langten sie an der Altonaer Straße an, und Hunter und Frau Doktor Stahl promenierten in der Brückenallee in Richtung des Bahnhofs Bellevue, während Bruchs allein vorging.

Der frostklare Himmel flimmerte im Sternenschein, und der Mond breitete eine träumerische Ruhe über die Stadt – Pferdebahnen, Droschken, vereinzelte leere Lastwagen belegten allein den Straßenzug, dessen Häuserfronten vornehm hinter den vergitterten Gartenanlagen zurücktraten. Die wenigen Läden der Straße waren geschlossen, die Bürgersteige menschenleer.

Bruchs spähte, als er sich dem Hause des Anwalts näherte, angestrengt voraus, und die Schläfen und das Herz pochten ihm. Sein Blick drang durch das Gitterwerk, forschte hinter den Pfeilern und im seitlichen Dunkel des Hauseinganges – Hedwig war noch nicht da. Stolpernd ging er weiter, bis ans Ende der Straße; in gesteigerter Erregung kehrte er um, verlangsamte den Schritt und verdoppelte seine Aufmerksamkeit, je näher er abermals dem Hause kam. Parterre und erste Etage lagen im tiefsten Dunkel; im zweiten Stock zeigte nur ein einziges Fenster matt durch Vorhänge schimmernde Beleuchtung. Bruchs Fuß stockte vor der Eingangspforte – Sie war vorher geschlossen gewesen, jetzt leicht geöffnet ... Die Tränen schossen ihm brennend in die Augen, als aus dem Schatten des Haustores sich eine Gestalt löste und mit heißem, ersticktem Jubel auf ihn zuflog.

»Hede, meine einzige Hede ...«

Bebend legte er ihren Arm in den seinigen und zog sie rasch mit sich.

»Wir können Zeugen haben«, raunte er stockend, »komm, mein Lieb – fort, nur fort ...«

An der Ecke der Brückenallee warteten Hunter und seine Begleiterin, und mit stürmischer Herrlichkeit umarmte Frau Marie die durch Tränen lächelnde junge Braut, suchte ihre Züge zu erkennen und küßte sie voll Rührung und Freude.

Hunter machte auf Passanten aufmerksam, die nicht Zeugen zu sein brauchten, und mahnte zum Weitergehen.

Die Befreite schmiegte sich an die Schwester des Geliebten und ließ sich von ihr führen. Hunter und der Doktor folgten, bis sie nahe dem großen Stern auf eine unbesetzte Droschke trafen und einstiegen.

In dem diskreten, wenn auch engen und unbequemen Versteck der alten Kalesche konnte das junge Paar sich erst aussprechen und beruhigen. Hedwigs Tränen versiegten, und das beseligende Gefühl einer sicheren Geborgenheit kam über sie ...

Der Abendmantel fiel in dem Weinrestaurant so wenig auf wie das um die Zeit des Theaterschlusses übliche Kopftuch. Um so mehr erschrak über beide Frau Marie.

»Ja, mein Gott, so können wir aber doch nicht reisen!« rief sie verzweifelt aus.

Hunter rieb sich die Hände. »Ja, wenn ich nicht wäre!« neckte er. »Darf ich Sie bemühen?« Er zeigte auf die Pakete und den Koffer.

»Sie haben daran gedacht?« fragte Frau Marie staunend.

»Aber selbstverständlich, meine Gnädigste!«

Frau Marie atmete auf. Die papiernen Hüllen flogen zur Seite, und auch der Doktor war dem Retter in der Not von Herzen dankbar, bis er den Überfluß und die Kostbarkeit der Geschenke erkannte und dann doch einen Vorwurf nicht unterdrücken konnte.

Der Australier war unmutig. »Ist mir denn jede Freude mißgönnt?« fragte er aufwallend.

Bruchs lenkte rasch ein. »Verzeihung! Aber ich kann ja für so viel Güte niemals danken...«

»Ist auch ganz unnötig.«

Die Beschenkte glühte. Ein blühendes Rot verschönte ihre Wangen. Sie vermochte für ihr Glück kaum Worte zu finden.

Frau Marie prüfte alles, wandte sich dann in ihrer freundlichen Art an den Australier und gab ihm die Rechte.

»Ich bin mit meinem Bruder stolz auf Ihre Freundschaft.«

Während des Auspackens war serviert worden, und die kleine Gesellschaft ließ sich heiter nieder, ohne viel genießen zu können.

Hunter erhob sein Glas.

»Sie haben mich als Freund angenommen; ich will es Ihnen bleiben!« versicherte er kurz und seltsam ernst, stieß an und leerte sein Glas auf einen Zug. »Fürchten Sie sich fortzugehen?« fragte er die Braut.

Einen Augenblick legte es sich wie ein Schleier über ihre Augen, dann verneinte sie leise, nickte dem Geliebten zu und fand ein schmerzliches Lächeln.

»Die Trennung soll uns ja vereinigen«, beruhigte der junge Arzt zärtlich.

Die kurze Stunde war bald verflogen. In aller Eile wurde gepackt, ein Wagen gerufen und der Weg zum Bahnhof angetreten. Der rote Abendmantel wanderte im Koffer mit, damit er nicht, zurückgelassen, eine Spur der Flüchtigen verrate.

»Zuerst auch keine direkte Korrespondenz«, riet Hunter.

»Nein«, pflichtete Bruchs bei. »Schreib nach Leipzig, Hede, an Schwager Fritz; er soll vermitteln.«

Beim Abschied auf dem Bahnhof zeigte die junge Braut sich tapfer, um kein Aufsehen zu erregen. Nur im Coupé, in das ihr Bruchs gefolgt war, lüftete sie einen Augenblick den ihr Gesicht dicht verhüllenden Schleier und preßte ihre brennenden Lippen unter Schluchzen auf die des Geliebten.

Ernst blickte der Australier dem aus der Halle rasselnden Zuge nach, stumm rang der Doktor nach Fassung und erwiderte Hedwigs Winken, bis nach einer Biegung des Bahndamms auch der Umriß der keuchenden Riesenschlange und das rote Licht des letzten Wagens im Dunkel verschwunden waren.


 << zurück weiter >>