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Wir haben gesehen, daß Mrs. Firkin, die Kammerfrau, sich verpflichtet fühlte, jedesmal, wenn sie ein für die Familie Crawley wichtiges Ereignis erfuhr, es Mrs. Bute Crawley im Pfarrhaus mitzuteilen. Wir haben weiter oben auch erwähnt, wie freundlich und aufmerksam diese gutmütige Dame gegen Miss Crawleys vertrauenswürdigen Butler war, und auch für Miss Briggs, die Gesellschaftsdame, war sie stets eine gütige Freundin gewesen und hatte sich deren Wohlwollen durch eine Unzahl von Aufmerksamkeiten und Versprechungen erworben, die den Spender so wenig kosten und dem Empfänger doch so angenehm und wertvoll sind. füberhäuft. Jede sparsame Hausfrau sollte wissen, wie wohlfeil und doch gern gesehen solche Erklärungen sind und welchen Wohlgeschmack sie der einfachsten Speise im Leben verleihen. Wer war bloß der Dummkopf, der das Sprichwort »Schöne Worte machen den Kohl nicht fett« erfand? Ich sage dagegen, die Hälfte allen Kohls der Gesellschaft wird mit keiner anderen Zutat angerichtet und serviert. Wie der unsterbliche Alexis Soyer eine köstlichere Suppe für einen halben Penny zubereiten kann als ein schlechter Koch, der Fleisch und Gemüse pfundweise verbraucht, ebenso kann ein geschickter Künstler mit ein paar einfachen, gefälligen Redensarten mehr ausrichten als ein bloßer Stümper mit einem ganzen Vorrat von wirklichen Wohltaten. Ja, wir wissen sogar, daß wirkliche Wohltaten einige Mägen oft zum Erbrechen reizen, während die meisten jede Menge schöner Worte gut verdauen und immer noch mehr von dieser Kost verlangen. Mrs. Bute hatte der Briggs und der Firkin so oft ihre große Zuneigung beteuert und ihnen erzählt, was sie alles für so vortreffliche und ergebene Freundinnen tun würde, besäße sie nur Miss Crawleys Vermögen, daß die fraglichen Damen sie sehr schätzten und ihr ebensoviel Dankbarkeit und Vertrauen entgegenbrachten, als hätte Mrs. Bute sie mit kostspieligen Gunstbezeigungen überhäuft.
Rawdon Crawley allerdings, dieser selbstsüchtige, schwerfällige Dragoner, gab sich nie Mühe, sich bei den Adjutanten seiner Tante angenehm zu machen. Er legte seine Verachtung für die beiden ganz offen an den Tag, ließ sich einmal von der Firkin die Stiefel ausziehen, schickte sie ein andermal im Regen mit entwürdigenden Aufträgen weg, und gab er ihr schon mal eine Guinee, so warf er sie ihr zu wie eine Ohrfeige. Da die Tante die Briggs auch zur Zielscheibe ihres Spottes machte, so folgte der Hauptmann ihrem Beispiel und zielte mit seinen Späßen auf sie – Späßen, so zart wie der Hufschlag seines Pferdes. Mrs. Bute dagegen zog sie in schwierigen Angelegenheiten oder in Fragen des Geschmacks zu Rate, bewunderte ihre Gedichte und bewies durch tausend höfliche und freundliche Taten, wie sehr sie die Briggs schätzte. Und wenn sie der Firkin ein Geschenk von ein paar Pennys machte, so tat sie es mit so vielen Komplimenten, daß sich die wenigen Pennys im Herzen der dankbaren Kammerfrau in pures Gold verwandelten. Außerdem wartete die Firkin geduldig auf einen erstaunlichen Glücksumstand, der sich an dem Tage ereignen mußte, wo Mrs. Bute ihr großes Erbe antreten würde.
Ich erlaube mir, Menschen, die in die Welt eintreten, ergebenst auf das unterschiedliche Benehmen dieser beiden Leute aufmerksam zu machen. Ich rate ihnen: Lobt jedermann, seid nie zurückhaltend, sondern sagt einem Menschen eure Komplimente gerade ins Gesicht und hinter seinem Rücken dann, wenn ihr annehmt, es besteht die Möglichkeit, daß sie ihm zu Ohren kommen. Laßt nie eine Gelegenheit vorübergehen, ein freundliches Wort anzubringen. Wie Collingwood auf seinem Gut nie eine leere Stelle sehen konnte, ohne eine Eichel aus der Tasche zu ziehen und sie in die Erde zu stecken, so haltet es auch euer Leben lang mit den Komplimenten. Eine Eichel kostet nichts, kann aber zu einer riesigen Menge Bauholz werden.
Mit einem Wort, solange es Rawdon Crawley gut ging, gehorchte man ihm nur mürrisch. Als er nun in Ungnade fiel, war niemand da, um ihm zu helfen oder ihn zu bemitleiden. Dagegen als Mrs. Bute in Miss Crawleys Haus das Kommando übernahm, war die Besatzung ganz entzückt, unter solch einem Kommandeur zu stehen, und versprach sich alle erdenklichen Vorteile von ihren Versprechungen, ihrem Edelmut und ihren freundlichen Worten.
Mrs. Bute Crawley glaubte nie, daß Rawdon sich nach einer einzigen Niederlage besiegt erklären und keinen weiteren Versuch unternehmen würde, die verlorene Stellung wiederzuerobern. Sie kannte Rebekka als zu klug, zu mutig und zu rücksichtslos, um sich der Hoffnung hinzugeben, daß sich die junge Frau kampflos in ihr Schicksal fügen würde, und sie fühlte, daß sie sich für diesen Kampf vorbereiten und auf der Hut sein müsse gegen jeden Angriff, jede Mine und jeden Überfall.
War sie aber, obwohl sie die Stadt besetzt hielt, der Hauptbewohnerin so sicher? Würde Miss Crawley selbst aushalten? Trug sie nicht ein heimliches Verlangen, den vertriebenen Gegner wieder bei sich willkommen zu heißen? Die alte Dame hatte Rawdon gern und auch die unterhaltsame Rebekka. Mrs. Bute mußte zugeben, daß von ihrer Partei keiner imstande war, die Lebedame zu amüsieren. Der Gesang meiner Mädchen, das weiß ich sicher, ist im Vergleich mit dem der abscheulichen kleinen Gouvernante unerträglich, gestand sich die aufrichtige Pfarrersfrau selbst ein. Wenn Martha und Louisa ihre Duette spielten, ist sie immer eingeschlafen. Jims steifes Universitätsbenehmen und die Unterhaltung mit dem armen lieben Bute über seine Pferde und Hunde langweilten sie stets. Nähme ich sie mit ins Pfarrhaus, so würde sie ganz bestimmt auf uns alle böse werden und flüchten, und dann könnte sie wieder in die Klauen des abscheulichen Rawdon fallen und ein Opfer dieser kleinen Schlange werden. Immerhin ist mir klar, daß sie sich sehr schlecht fühlt und sich auf jeden Fall ein paar Wochen nicht rühren wird. Während dieser Zeit müssen wir irgendeinen Plan aushecken, um sie vor den Ränken dieser charakterlosen Leute zu schützen.
Wenn jemand Miss Crawley, sogar in ihren besten Augenblicken, zu verstehen gab, sie sei krank oder sehe so aus, dann schickte die zitternde alte Dame auf der Stelle nach ihrem Doktor. Daß es ihr nach dem plötzlichen Familienereignis, das auch stärkere Nerven als ihre erschüttert hätte, wirklich sehr schlecht ging, kann man wohl sagen. Mrs. Bute hielt es wenigstens für ihre Pflicht, den Arzt, den Apotheker, die dame de compagnie und die Dienstboten wissen zu lassen, daß Miss Crawleys Zustand überaus kritisch sei und daß man sich dementsprechend zu benehmen habe. Sie ließ die Straße kniehoch mit Stroh bestreuen, den Türklopfer abnehmen und ihn mit Mr. Bowls' Silbergeschirr wegpacken. Sie bestand darauf, daß der Doktor täglich zweimal kam, und überschwemmte ihre Patientin alle zwei Stunden mit Arzneien. Trat jemand ins Zimmer, so ließ sie ein so zischendes, unheilverkündendes »schschsch« hören, daß die arme alte Dame vor Schreck im Bett zusammenfuhr. Miss Crawley konnte nicht hochblicken, ohne Mrs. Butes eifrig auf sie gerichteten Perlenaugen zu begegnen, da die gute Frau den Armsessel neben dem Bett auch nicht eine Sekunde verließ. Wenn Mrs. Bute im Zimmer wie auf samtenen Katzenpfoten umherging, schienen die Augen sogar im Dunkeln zu leuchten (die Vorhänge hielt sie nämlich ständig zugezogen). So lag Miss Crawley tagelang, viele, viele Tage, und Mrs. Bute las ihr aus Andachtsbüchern vor. So lag sie nächtelang, viele, viele Nächte, in denen sie den Ruf des Nachtwächters hörte und sah, wie das Nachtlicht sprühte. Um Mitternacht kam als letzter Besuch leise der Apotheker, und dann war sie allein mit Mrs. Butes funkelnden Augen und dem gelben Flackern des Nachtlichtes an der eintönigen düsteren Zimmerdecke. Hygieia selbst wäre unter einer solchen Herrschaft krank geworden, wieviel mehr dann erst dieses arme, alte nervenschwache Opfer! Wir haben festgestellt, daß die würdige Bewohnerin des Jahrmarkts der Eitelkeit, wenn sie gesund und munter war, so freie Ansichten über Religion und Moral hatte, wie Monsieur de Voltaire sie sich selbst hätte wünschen können; sobald sie aber krank wurde, verschlimmerte sich ihr Zustand durch die entsetzlichsten Todesschrecken, und die alte Sünderin wurde ausgesprochen feige.
Predigten am Krankenbett und fromme Betrachtungen sind in einem reinen Geschichtenbuch bestimmt fehl am Platze, und wir beabsichtigen nicht (wie manche moderne Romanschreiber), den Leser zu beschwatzen, eine Predigt anzuhören, wenn er für eine Komödie bezahlt hat. Aber ohne predigen zu wollen, möchten wir doch bitten, die Wahrheit im Auge zu behalten und zu sehen, daß das Leben und Treiben und der Triumph, das Lachen und die Fröhlichkeit, die der Jahrmarkt der Eitelkeit öffentlich zeigt, dem Schauspieler nicht immer ins Privatleben folgen und daß ihn oftmals traurige Niedergeschlagenheit und verzweifelte Reue packen. Die Erinnerung an die köstlichsten Bankette wird kranke Epikureer wohl schwerlich aufheitern können. Erinnerungen an die hübschesten Kleider und glänzendsten Balltriumphe werden verwelkten Schönheiten stets nur wenig zum Trost dienen. Vielleicht bereitet es Staatsmännern in einer gewissen Periode ihres Lebens wenig Befriedigung, an die erfolgreichsten Abstimmungen zu denken, und der Erfolg und die Freude von gestern schrumpfen gewaltig zusammen, wenn ein gewisses (und trotzdem Ungewisses) Morgen in Aussicht steht, mit dem wir doch alle früher oder später einmal rechnen müssen. O meine Mitbrüder im Narrenkleid! Gibt es nicht Augenblicke, wo einen die Luftsprünge, das Lachen und das Schellengeklingel anekeln? Mein liebenswürdiges Ziel, teure Freunde und Genossen, ist es, mit euch über den Jahrmarkt zu gehen und die Buden und Schaustellungen zu durchforschen; und nach all dem Glanz, all dem Lärmen und all der Lustigkeit werden wir wieder heimkehren und dann im verborgenen höchst unglücklich sein.
Wenn mein armer Mann doch bloß einen Kopf auf den Schultern trüge, dachte Mrs. Bute Crawley bei sich, wie nützlich könnte er sich gerade jetzt der unglücklichen alten Dame machen! Er könnte sie zur Reue über ihre entsetzliche Freidenkerei bringen; er könnte sie bewegen, ihre Pflicht zu tun und diesen abscheulichen Verworfenen, der sich und seiner Familie Schande gemacht hat, zu verstoßen. Auch könnte er sie veranlassen, meinen lieben Mädchen und den beiden Jungen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, die ganz sicher jede Hilfe brauchen und verdienen, die ihre Verwandten ihnen geben können.
Da Haß gegen das Laster stets ein Schritt zur Tugend ist, versuchte Mrs. Bute Crawley ihrer Schwägerin einen gehörigen Abscheu vor Rawdon Crawleys vielfältigen Sünden einzuflößen. Die Frau seines Onkels verfaßte einen so ausführlichen Katalog davon, daß er ausgereicht hätte, ein ganzes Regiment junger Offiziere zu verdammen. Hat ein Mensch im Leben ein Unrecht begangen, so wüßte ich nicht, wer schneller dabei wäre, seine Fehler der Welt zu verkünden, als die eigenen Verwandten. Mrs. Bute zeigte daher auch ein höchst lebhaftes Familieninteresse und eine genaue Kenntnis von Rawdons Lebensgeschichte. Sie wußte alle Einzelheiten jenes häßlichen Streites mit Hauptmann Firebrace, bei dem Rawdon, der von Anfang an im Unrecht war, den Hauptmann schließlich erschoß. Sie kannte die Geschichte von dem unglücklichen Lord Dovedale, dessen Mutter in Oxford ein Haus gemietet hatte, damit ihr Sohn dort ausgebildet werden konnte. Der Junge hatte vor seiner Ankunft in London noch nie eine Karte in der Hand gehabt, Rawdon aber, dieser abscheuliche Verführer der Jugend, lockte ihn in den »Kakaobaum«, machte ihn total betrunken und jagte ihm viertausend Pfund ab. Lebhaft und genau beschrieb sie den Schmerz der Familien auf dem Lande, die er ruiniert hatte, deren Söhne er in Unehre und Armut gestürzt, deren Töchter er verführt hatte. Sie kannte die armen Kaufleute, die durch seine Verschwendung an den Bettelstab kamen, die niederträchtigen Ränke und Spitzbübereien, mit denen er zu Werke ging, die erstaunlichen Lügen, mit denen er die edelmütigste aller Tanten hinters Licht führte, und die Undankbarkeit und den Spott, womit er deren Opfer vergalt. Alle diese Geschichten teilte sie Miss Crawley nach und nach mit, und zwar so ausführlich wie möglich. Sie hielt das für ihre Pflicht als Christin und Familienmutter und empfand keine Gewissensbisse oder Mitleid mit dem Opfer ihrer Zunge. Ja sie fand ihre Handlungsweise höchstwahrscheinlich ungemein verdienstvoll und tat sich auf die Entschlossenheit, mit der sie zu Werke ging, nicht wenig zugute. Man sage, was man will: Soll ein Mensch um seinen guten Ruf gebracht werden, so ist niemand geeigneter dazu als ein Verwandter. Dabei muß man zugeben, daß bei diesem elenden, unglückseligen Rawdon Crawley die bloße Wahrheit schon völlig ausgereicht hätte und daß alle erfundenen Skandalgeschichten seiner Freunde eine durchaus überflüssige Mühe waren.
Da Rebekka nun auch zur Verwandtschaft gehörte, hatte sie natürlich ebenfalls teil an Mrs. Butes freundlichen Nachforschungen. Diese unermüdliche Wahrheitsverfechterin (sie hatte strengen Befehl gegeben, allen Abgesandten oder Briefen von Rawdon die Tür zu verschließen) nahm Miss Crawleys Kutsche und fuhr zu ihrer alten Freundin, Miss Pinkerton im Minerva-Haus, Chiswick Mall, der sie die schreckliche Nachricht von Hauptmann Rawdons Verführung durch Miss Sharp mitteilte und von der sie alle nur möglichen Einzelheiten über die Geburt und die frühere Geschichte der ehemaligen Gouvernante erfuhr. Die Freundin des großen Lexikographen hatte viel Wissenswertes auf Lager. Miss Jemima mußte die Quittungen und Briefe des Zeichenlehrers herbeiholen. Der eine war entstanden, als er gerade ins Schuldgefängnis geworfen werden sollte, in einem anderen bat er um Vorschuß, ein dritter war voll von Dankbarkeit für Rebekkas Aufnahme im Hause der Damen in Chiswick, und das letzte Dokument aus der Feder des unglücklichen Künstlers war das, worin er auf dem Totenbett sein verwaistes Kind Miss Pinkertons Schutz empfahl. In der Sammlung gab es auch kindliche Briefe und Bittschriften von Rebekka, in denen sie angelegentlich um Unterstützung für ihren Vater bat oder ihre Dankbarkeit ausdrückte. Vielleicht gibt es auf dem Jahrmarkt der Eitelkeit keine besseren Satiren als eben Briefe. Nimm ein Bündel von denen, die dein lieber Freund dir vor zehn Jahren schrieb – dein lieber Freund, den du jetzt haßt. Schau dir den Stoß von deiner Schwester an; wie hingt ihr aneinander, bis ihr euch wegen der Erbschaft von zwanzig Pfund gestritten habt. Kram die Kinderbriefe deines Sohnes heraus, der dir später mit seinem selbstsüchtigen Ungehorsam fast das Herz gebrochen hat. Oder einen Stoß deiner eigenen, die unendliche Glut und ewige Liebe atmen und die dir deine Geliebte zurückschickte, als sie den Nabob heiratete – deine Geliebte, die dich jetzt nicht mehr kümmert als die Königin Elisabeth. Gelübde, Liebesschwüre, Versprechungen, vertrauliche Mitteilungen, Dankbezeigungen – wie seltsam liest sich das nach einiger Zeit! Auf dem Jahrmarkt der Eitelkeit müßte es ein Gesetz geben, wonach jedes geschriebene Dokument (außer quittierten Rechnungen) nach einem angemessenen Zeitraum vernichtet werden soll. Die Quacksalber und Misanthropen, die ihre unzerstörbare japanische Tinte anpreisen, sollten samt ihren abscheulichen Erfindungen ins Jenseits befördert werden. Die beste Tinte für den Jahrmarkt der Eitelkeit wäre eine, die in wenigen Tagen vollständig verbliche und das Papier rein und weiß hinterließe, so daß man darauf an irgend jemand anderes schreiben könnte.
Von Miss Pinkertons Haus verfolgte die unermüdliche Mrs. Bute die Spur Sharps und seiner Tochter bis in die Wohnung in der Greek Street, die der verstorbene Maler innegehabt hatte und wo das Porträt der Hauswirtin in weißem Atlas und ihres Mannes mit Messingknöpfen, von Sharp als Ersatz für die Vierteljahresmiete gemalt, noch die Wände des Wohnzimmers zierten. Mrs. Stokes war sehr mitteilsam und erzählte ohne Umschweife alles, was sie über Mr. Sharp wußte, wie liederlich und arm er war, wie gutmütig und unterhaltsam, wie er unablässig von Gerichtsdienern und ungeduldigen Gläubigern verfolgt wurde, wie er, zum Entsetzen der Hauswirtin – obgleich sie das Weib nicht ausstehen konnte –, seine Frau erst ganz kurz vor ihrem Tode geheiratet hatte und was für eine komische, wilde kleine Dirne seine Tochter war, wie sie durch ihre Späße und ihre Nachäfferei alle zum Lachen brachte, wie sie den Gin aus dem Wirtshaus holte und wie sie in allen Ateliers des Stadtviertels bekannt war – kurz, Mrs. Bute erhielt einen ausführlichen Bericht über Eltern, Erziehung und Benehmen ihrer neuen Nichte, und Rebekka wäre kaum erfreut gewesen, hätte sie gewußt, daß man solche Nachforschungen über sie anstellte.
Die Ergebnisse dieser fleißigen Untersuchungen wurden Miss Crawley natürlich nicht vorenthalten; Mrs. Rawdon Crawley war die Tochter einer Ballettänzerin. Sie hatte selbst getanzt. Sie hatte Malern Modell gestanden. Sie war erzogen worden, wie es der Tochter einer solchen Mutter anstand. Sie trank Gin mit ihrem Vater und so weiter und so fort. Ein verlorenes Frauenzimmer hatte einen verlorenen Mann geheiratet, und die Moral von Mrs. Butes Geschichte war, daß die Schlechtigkeit des Paares unverbesserlich sei und daß kein Mensch, der etwas auf sich hielt, je wieder Notiz von ihnen nehmen dürfe.
Dies war das Material, das die umsichtige Mrs. Bute in der Park Lane sammelte, sozusagen der Proviant und die Munition, um das Haus gegen die Belagerung zu befestigen, die Rawdon und seine Frau, soviel war ihr klar, gegen Miss Crawley durchführen würden.
Wenn in ihrem System ein Fehler zu finden war, so war es der, daß sie zu eifrig war. Sie tat des Guten zuviel. Zweifellos machte sie Miss Crawley kränker, als es nötig war. Und obgleich die alte Patientin sich ihrer Autorität unterwarf, so war das doch so quälend und streng für das Opfer, daß es bei der ersten besten Gelegenheit nur zu gern entfliehen würde. Geschickte Frauen, die Zierde ihres Geschlechts, Frauen, die alles für alle erledigen und so viel besser als die Betroffenen selbst wissen, was für ihre Nächsten gut ist, ziehen bisweilen nicht die Möglichkeit einer häuslichen Revolte in Betracht oder andere schlimme Folgen, die sich aus ihrer übertriebenen Autorität ergeben.
Mrs. Bute zum Beispiel ging, zweifellos mit den besten Absichten der Welt, in ihrer Überzeugung von der Krankheit der alten Dame so weit, daß sie sie beinahe in den Sarg brachte. Dabei rieb sie sich selbst auf und versagte sich um ihrer kranken Schwägerin willen Schlaf, Essen und frische Luft. Einmal zählte sie dem unvermeidlichen Apotheker, Mr. Clump, alle ihre Opfer und deren Folgen auf.
»Ich habe es, mein lieber Mr. Clump«, sagte sie, »gewiß nicht an Anstrengungen fehlen lassen, um unserer lieben Patientin, die durch die Undankbarkeit ihres Neffen auf das Krankenlager geworfen wurde, wieder auf die Beine zu helfen. Vor persönlichen Unannehmlichkeiten weiche ich nie zurück, nie weigere ich mich, mich aufzuopfern.«
»Ihre Hingabe ist bewundernswert, das muß man gestehen«, sagte Mr. Clump mit einer tiefen Verbeugung, »aber...«
»Seit meiner Ankunft habe ich kaum ein Auge zugetan. Schlaf, Gesundheit, jede Bequemlichkeit opfere ich meinem Pflichtgefühl. Als mein armer James die Windpocken hatte, durfte ihn da ein anderer pflegen? Nein.«
»Sie handelten wie eine vortreffliche Mutter, wie die beste aller Mütter, meine liebe Dame, aber...«
»Als Familienmutter und Frau eines englischen Geistlichen glaube ich in aller Bescheidenheit, daß meine Grundsätze richtig sind«, sagte Mrs. Bute mit der glücklichen Feierlichkeit der Überzeugung, »und solange mir die Natur weiterhilft, werde ich nie, nie, Mr. Clump, den Posten der Pflicht verlassen. Andere mögen dieses graue, kummervolle Haupt aufs Krankenbett bringen« (dabei deutete Mrs. Bute mit einer Handbewegung auf eines von Miss Crawleys kaffeefarbenen Toupets, das auf einem Gestell im Ankleidezimmer ruhte), »ich aber werde es nie verlassen. Ach, Mr. Clump! Ich fürchte, ich weiß, daß dieses Krankenlager des geistlichen wie des ärztlichen Trostes bedarf.«
»Was ich gerade sagen wollte, meine liebe Dame«, fiel hier der entschlossene Clump noch einmal mit freundlicher Miene ein. »Was ich gerade sagen wollte, als Sie Gefühle äußerten, die Ihnen alle Ehre machen: Sie beunruhigen sich meiner Meinung nach wegen unserer gütigen Freundin ganz unnötig und opfern Ihre Gesundheit zu verschwenderisch in ihrem Dienste.«
»Ich würde mein Leben für meine Pflicht oder für einen Angehörigen meines Gatten opfern«, entgegnete Mrs. Bute.
»Ja, Madame, wenn es nötig wäre, allein wir wollen nicht, daß Mrs. Bute Crawley zur Märtyrerin wird«, sagte Clump galant. »Sie können glauben, daß Doktor Squills und ich Miss Crawleys Zustand mit ängstlicher Sorgfalt untersucht haben. Wir sehen sie niedergeschlagen und angegriffen. Familienereignisse haben sie erschüttert...«
»Ihr Neffe wird der Verdammnis anheimfallen«, rief Mrs. Crawley.
»... haben sie erschüttert. Und Sie erscheinen wie ein Schutzengel, meine liebe Dame, wie ein wahrer Schutzengel, das können Sie glauben, um sie im Unglück aufzurichten. Aber Doktor Squills und ich waren der Ansicht, daß der Zustand unserer liebenswürdigen Freundin nicht so ernst ist, daß sie unbedingt das Bett hüten muß. Sie ist zwar niedergeschlagen, aber diese Abgeschlossenheit trägt wahrscheinlich noch zu ihrer Niedergeschlagenheit bei. Sie sollte Abwechslung haben, frische Luft, Fröhlichkeit – die köstlichsten Arzneien der Pharmakologie«, sagte Mr. Clump lächelnd und zeigte seine schönen Zähne. »Lassen Sie sie aufstehen, liebe Dame, befreien Sie sie von ihrem Bett und ihrer Niedergeschlagenheit, bestehen Sie darauf, daß sie jeden Tag kurze Ausfahrten unternimmt. Das wird auch auf Ihre Wangen die Rosen zurückbringen, wenn ich das zu Mrs. Bute Crawley sagen darf.«
»Der Anblick ihres schrecklichen Neffen im Park, wo der Entsetzliche mit seiner unverschämten Spießgesellin herumfahren soll«, sagte Mrs. Bute und ließ damit die Katze der Selbstsucht aus dem Sack der Geheimnisse, »würde ihr einen solchen Schock verursachen, daß wir sie sofort ins Bett zurückbringen müssen. Sie darf nicht hinaus, Mr. Clump. Solange ich da bin, um über sie zu wachen, soll sie mir nicht aus dem Hause. Und was meine Gesundheit betrifft – was macht das schon? Freudig gebe ich sie hin, Sir, und opfere sie auf dem Altar der Pflicht.«
»Auf mein Wort, Madame«, sagte jetzt Mr. Clump geradeheraus, »ich kann nicht für ihr Leben garantieren, wenn sie in diesem dunklen Zimmer eingesperrt bleibt. Sie ist so angegriffen, daß wir sie jeden Tag verlieren können. Und wenn Sie wollen, daß Hauptmann Crawley ihr Erbe wird, so verkünde ich Ihnen ganz offen, Madame, daß Sie Ihr Bestes tun, um ihm zu helfen.«
»Gütiger Himmel! Ist denn ihr Leben in Gefahr?« rief Mrs. Bute. »Warum, warum, Mr. Clump, haben Sie mir das nicht früher gesagt.«
Am Abend vorher hatten Clump und Doktor Squills (bei einer Flasche Wein im Hause von Sir Lapin Warren, dessen Gemahlin ihm eben ein dreizehntes Geschenk bescheren wollte) den Fall Miss Crawley besprochen.
»Na, Clump«, bemerkte Squills, »so eine kleine Harpyie, diese Frau aus Hampshire, die die alte Tilly Crawley mit Beschlag belegt hat. Verteufelt guter Madeira!«
»Was für ein Narr doch dieser Rawdon Crawley ist! Eine Gouvernante zu heiraten!« erwiderte Clump. »Das Mädchen hat aber auch etwas an sich.«
»Grüne Augen, weiße Haut, hübsche Figur, famose Frontalentwicklung«, bemerkte Squills. »Es ist tatsächlich etwas an ihr, aber Crawley ist wirklich ein Narr, Clump.«
»Ein verdammter Narr; war er schon immer«, erwiderte der Apotheker.
»Natürlich wirft ihn die alte Jungfer jetzt über Bord«, sagte der Doktor und setzte nach einer Pause hinzu: »Sie wird ganz schön was hinterlassen.«
»Hinterlassen?« sagte Clump lachend, »wegen der zweihundert pro Jahr möchte ich eigentlich nicht, daß sie jetzt schon zum Hinterlassen kommt.«
»Diese Frau aus Hampshire bringt sie in zwei Monaten unter die Erde, Clump, mein Junge, wenn sie bei ihr bleibt«, sagte Doktor Squills. »Alte Frau, starke Esserin, nervöse Patientin, Herzklopfen, Gehirndruck, Schlaganfall – und aus ist es. Erreiche, daß sie aufsteht, Clump, und ausgeht, sonst bleiben für deine zweihundert pro Jahr bloß noch ein paar Wochen.« Auf diesen Wink hin sprach der würdige Apotheker so offen mit Mrs. Bute Crawley.
Mrs. Bute hatte, solange die alte Dame unter ihrer Regierung im Bett lag und sonst niemand um sie war, öfter einen Angriff unternommen, um sie zu veranlassen, ihr Testament zu ändern. Aber Miss Crawleys gewöhnliche Todesfurcht vergrößerte sich bedeutend, sobald man ihr solche trübseligen Vorschläge machte. Mrs. Bute sah daher ein, daß sie ihre Patientin erst einmal wieder in fröhliche Stimmung versetzen und gesund werden lassen müsse, ehe sie hoffen könnte, das fromme Ziel, das sie im Auge hatte, zu erreichen. Die nächste Frage war, wohin man mit ihr fahren sollte. Der einzige Ort, an dem sie die abscheulichen Rawdons höchstwahrscheinlich nicht treffen würde, war die Kirche, und die langweilt sie nur, empfand Mrs. Bute ganz richtig. Dann dachte sie weiter: Wir müssen unsere schönen Londoner Vororte besuchen. Es heißt, sie seien die malerischsten der Welt; und so fühlte sie ein plötzliches Interesse für Hampstead und Hornsey und fand, daß Dulwich große Reize für sie habe. Sie verstaute ihr Opfer in der Kutsche und fuhr mit ihr in jene ländlichen Orte; dabei verkürzte sie auf diesen kleinen Reisen die Zeit mit Gesprächen über Rawdon und dessen Frau und erzählte der alten Dame allerlei Geschichten, die ihre Entrüstung gegen das verworfene Paar vergrößern konnten.
Vielleicht zog sie die Schlinge unnötig fest, denn obgleich sie Miss Crawley einen gehörigen Widerwillen gegen ihren ungehorsamen Neffen beibrachte, so fühlte die Patientin doch auch großen Haß und geheime Furcht gegenüber ihrer Peinigerin und sehnte sich, ihr zu entkommen. Nach kurzer Zeit empörte sie sich gegen Highgate und Hornsey und wollte in den Park. Mrs. Bute aber wußte, daß sie dort den abscheulichen Rawdon treffen würde, und sie hatte recht. Eines Tages tauchte auf dem Ring Rawdons Stanhope auf, Rebekka saß neben ihrem Mann. In dem feindlichen Wagen saß Miss Crawley auf ihrem gewöhnlichen Platz, Mrs. Bute zu ihrer Linken, der Pudel und Miss Briggs auf dem Rücksitz. Es war ein aufregender Augenblick, und Rebekkas Herz schlug schnell, als sie den Wagen erkannte. Und als die beiden Gefährte dicht aneinander vorbeifuhren, faltete sie die Hände und sah die alte Jungfer mit einer Miene schmerzerfüllter Anhänglichkeit und Hingabe an. Rawdon zitterte, und sein Gesicht hinter dem gefärbten Schnurrbart wurde puterrot. Nur die alte Briggs im anderen Wagen war bewegt und richtete die Augen groß und ängstlich auf ihre alten Freunde. Miss Crawleys Haube blieb beharrlich der Serpentine zugewandt. Mrs. Bute war zufällig ganz entzückt von dem Pudel, nannte ihn ihren kleinen Liebling, ein nettes Zottelchen, ein hübsches Geschöpf und so fort. Die Wagen fuhren weiter, jeder in seiner Reihe.
»Verspielt, beim Zeus«, sagte Rawdon zu seiner Frau.
»Versuch es doch noch einmal, Rawdon«, antwortete Rebekka. »Könntest du nicht mit deinen Rädern in ihre fahren, Liebster?«
Zu diesem Manöver hatte Rawdon jedoch nicht genug Mut. Als die Wagen sich abermals begegneten, erhob er sich in seinem Stanhope, hob die Hand, um den Hut zu ziehen, und blickte angestrengt hinüber. Diesmal aber war Miss Crawleys Gesicht nicht abgewandt, sie und Mrs. Bute sahen ihrem Neffen voll ins Gesicht und schnitten ihn mitleidslos. Mit einem Fluch sank er auf seinen Sitz zurück, schwenkte aus dem Ring und raste verzweifelt nach Hause.
Für Mrs. Bute war das ein herrlicher und entscheidender Triumph. Allein sie fühlte doch die Gefahr mehrerer solcher Begegnungen, als sie die Nervosität Miss Crawleys bemerkte. Sie beschloß daher, daß es für die Gesundheit ihrer lieben Freundin durchaus notwendig sei, die Stadt für einige Zeit zu verlassen, und sie empfahl nachdrücklich Brighton.