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Innocenz hatte die halbe Nacht hindurch im Pfarrhause zu St. Ulrich an einem Brief geschrieben, den er anderen Tages dem Pfarrer Aloys Antholzer zur Weiterbeförderung an den Abt des Klosters Greifenburg übergeben wollte, und welcher seinen Abschiedsgruß sowie die Gründe enthielt, die ihn zwangen, den Priesterrock von sich zu werfen und ein weltliches Gewand anzulegen, um fortan unter einem anderen Himmel ein anderes Leben zu beginnen. Er hatte seine Seele damit entlastet und volle Wahrheit gegeben da, wo er sie schuldete. Wenn er sich auch sagte, daß man seine Beweggründe schonungslos verdammen würde, ohne sie zu prüfen, und daß er auf kein anderes Urteil zu rechnen habe, als das, welches sich in der Exkommunikation des eidbrüchigen und flüchtigen Priesters aussprechen werde, hatte er doch seine Pflicht getan und ging nicht wie ein Dieb in der Nacht heimlich von da fort, wo er seit früher Kindheit eine Heimat – die einzige seines Lebens – gefunden hatte.
Mit einem Gefühl der Erleichterung hatte er sich, als das Schreiben beendigt war, auf sein Lager geworfen, um nach den Anstrengungen und Erregungen dieses inhaltsreichen und bedeutungsvollen Tages Ruhe zu suchen. Er war auch alsbald in tiefen, wohltuenden Schlaf verfallen.
Nun weckte ihn plötzlich ein donnerähnliches, dumpf schütterndes Getöse, das den Boden unter ihm und das Dach zu seinen Häupten ins Wanken zu bringen schien. Erschrocken fuhr er, noch halb schlafbefangen, empor, gewahrte aber nichts um sich her, als ein graues, zitterndes Morgenlicht, und vernahm minutenlang trotz angespannten Lauschens nichts als das Geräusch des wild niedergießenden Regens. Er glaubte schon, geträumt zu haben, als er plötzlich draußen ein wirres Stimmengetöse vernahm, dann Hornsignale, und nun das wimmernde Geläut der Turmglocke. Es mußte ein Unglück geschehen sein.
Innocenz sprang aus seinem Bette und kleidete sich hastig an. Draußen wuchs inzwischen das Gelärm. Er vernahm ängstlich forschende Stimmen, Rufe, Flüche und Gebete, alles wirr durcheinander. Dazwischen pfiff der Wind, der Regen schlug gegen die Fenster, und die Glocke rief gellend in den düsteren Morgen hinaus.
Endlich hatte er die Tür seiner Kammer aufgerissen. Auf dem Gange traf er den Pfarrer. Aloys Antholzer sah schreckhaft verstört aus, seine müden, glasigen Augen quollen ihm fast aus den Höhlen. »Was gibt es?« fragte ihn Innocenz.
Da blieb er stehen und gab fast lallend zur Antwort: »Wir haben Hochwasser. Ein Bergsturz ist gewesen. Habt Ihr's gehört? Von der hohen Zinne ist ein ganzer Wald heruntergekommen. Und diese Regengüsse! Und die Berge alle so tief voll Schnee wie sonst nur mitten im Winter. Und der Wind immerfort Südwest. Es kann eine neue Sündflut werden, lieber Bruder. Wer sich retten darf wie Ihr, der rette sich beizeiten. Uns anderen, die wir hier ausharren müssen, mag die heilige Jungfrau gnädig sein!«
Er murmelte die letzten Worte schon wieder im Ton seiner gewohnten, dumpfen Apathie, in die er zurückfiel, und wollte in seiner Stube verschwinden. Aber Innocenz, der erbleicht war, hielt ihn am Arm. Das Wort »Hochwasser« hatte ihn wie ein Stoß vor die Brust getroffen. »Was bleibt nun zu tun?« fragte er in heißer Erregung.
»Beten,« murmelte der Pfarrer, »fleißig beten. Sonst nichts. Vielleicht eine Prozession.«
Innocenz dachte an das, was ihm der wilde Xaverl über die Hochwassergefahren gesagt hatte, welche in steter Wiederkehr die Gebirgstäler dieses Landstrichs bedrohten, ohne daß es bei dem Starrsinn, der Spar- und Verschiebungssucht des Volkes, bei seiner hart an Fanatismus streifenden Strenggläubigkeit, die jeder vernünftigen Vorstellung unbeugsamen Widerstand entgegensetzte, je auch nur zu einem entschiedenen Versuche gekommen wäre, den entfesselten Elementen durch Menschenkraft für immer Einhalt zu gebieten. Damals hatte er keinen Sinn für die anklagenden und ermahnenden Worte des Sennen gehabt, heute stand jedes Wort, das jener gesprochen, klar und deutlich vor seiner Seele. Auch er hatte sich hart der Unterlassungssünde anzuklagen, auch seines Amtes wäre es gewesen, unablässig die Säumigen zu tatkräftigem Kampf gegen die Drohungen der blinden Naturgewalten anzuspornen, solange er als Priester hier geschaltet hatte. Selbst wenn er von der Nutzlosigkeit seines Wortes überzeugt gewesen wäre, hätte er diese Pflicht üben müssen, und sie wäre eine heiligere gewesen als die, leere Formeln nachzubeten und als sündiger Mensch über der Menschen Sünden zu Gericht zu sitzen. Gleichzeitig fiel ihm der Gedanke an Filomena schwer aufs Herz. »Sind auch die Hochalmen gefährdet?« fragte er hastig.
Aloys Antholzer sah ihn mit gleichgültig-müdem Blicke an, als ob er ihn fragen wollte, was denn ihn die Hochalmen kümmerten, er solle doch an seine eigene Rettung denken und alles übrige gehen lassen, wie es Gott gefalle. Dann entgegnete er apathisch: »Die am ehesten. Aber man hat ja in den letzten Tagen fast überall abgetrieben.«
Die Tür, die er bei seinen letzten Worten in der Hand gehalten, flog ins Schloß. Innocenz stürmte ins Freie hinaus. »Die am ehesten!« hallte es ihm nach.
Während er hier friedlich auf seinem Lager geruht hatte, war droben in der einsamen Hütte nahe der Forcheralm vielleicht das Verderben über die hereingebrochen, die er liebte und die er gestern ohne Abschied verlassen. Diese ganze Nacht hatte sie vielleicht schon um ihr Leben gekämpft und gerungen, und er, der ihr hätte zur Seite stehen müssen, war ihr fern gewesen. Und wenn man wirklich auch von der Forcheralm schon gestern heimgetrieben hatte, weil das Unwetter bange Befürchtungen für die Zukunft geweckt, für Filomena hatte es dann nur noch trauriger gestanden. Denn sie war sicherlich nicht weit talab gezogen, sondern hatte während dieser ganzen furchtbaren Nacht schon einsam in ihrer Hütte gewacht, um die der Sturm getobt hatte, auf die der Regen niedergeprasselt war. Und sie hatte nicht einmal einen Gruß, ein Zeichen von ihm erhalten, hatte vergeblich darauf geharrt und trübe, verzweiflungsvoll in diesen Morgen des Schreckens heute hinausgeblickt, ohne zu wissen, wann er zurückkehren, ob er überhaupt je zu ihr zurückkehren werde. Freilich: das mußte, mußte sie wissen, so sicher, wie er selber es gewußt hatte, und sie hätte sonst so wenig leben können wie er. Aber wie war ihr diese Nacht hingegangen? Wie stand es heute um sie? Immer wieder sah er das einsame, hilflos verlassene Weib in der von allen Schauern der Wetternacht des Hochgebirges umdrohten Hütte vor sich, und ihr ungehört verhallender Rettungsschrei vibrierte in seinem Innern.
Er hatte sich währenddessen mitten durch die draußen ratlos umherlaufenden, schreienden und betenden oder auch nur in dumpfer Tatenlosigkeit vor sich hinstarrenden Menschen einen Weg gebahnt und schlug nun die Richtung ein, in die seines Herzens Stimme ihn rief. Überall gewahrte er auf Schritt und Tritt die Spuren der Vernichtung, welche diese eine Nacht schon heraufbeschworen hatte, und welche ein furchtbar beredtes Zeugnis ablegten von dem, was noch kommen sollte.
Schon war der hochangeschwollene Bach weit über seine Ufer getreten, schon führte er im rasenden Lauf seiner schlammfarbigen Wasser entwurzelte Bäume mit sich von den Bergen herab, schon rollten seine Wirbel mächtige Felsbrocken gurgelnd und spülend talab. Die Sägemühle stand zur Hälfte unter Wasser, die ganze Lahn erschien wie ein großer See, die Schindeldächer der Häuser waren hier und da vom Sturme abgedeckt oder zerrissen. Und unablässig in grau schäumenden Fluten und gelblich quirlendem Gewoge stürzten und rannen die Gewässer von den Berghängen nieder. Es war ein Brausen und Donnern, ein Glucksen und Rieseln, wie wenn in allen Tönen die Stimmen der entfesselten unterirdischen Mächte zu reden angefangen hätten. Und der Regen dauerte fort und fort.
In der grauen Dämmerung, die trotz des vorgeschrittenen Morgens noch immer über der Welt lagerte und heute keinem Tageslicht weichen zu wollen schien, waren nicht einmal die Umrisse der nächstgelegenen Höhen zu erkennen. Alles verschwamm gestaltlos in einem öden, trüben Dunst. Manchmal vernahm man nur das Gurgeln von fallenden Wassern, ohne sie zu sehen. Denn sie drängten sich zwischen mißfarbig-unförmlichen Steinmassen hervor, sie quollen aus geheimnisvollen Tiefen der Erde, sie rannen aus unscheinbaren Bächen plötzlich zu breiten, reißenden Bergströmen zusammen, sie gruben sich tief ausgehöhlte Betten in bröckelndes Gefelse, sie zerstoben wieder in hundert kleinen Rinnsalen, speisten sich aus zerklaffenden Gletschern und schmelzenden Schneefurchen und donnerten, zischten, leckten, heulten zu Tal. Wasser, wohin man blickte, Wasser, wohin man drang; die Berge schienen sich alle geöffnet zu haben, um es auszugießen, die Berge selber schienen sich in Wasser aufzulösen.
Und alle diese gierig leckenden Zungen wollten ihre Beute. Sie spähten danach, und sie stürzten sich darauf mit dem Heißhunger von Raubtieren, sie umklammerten sie, sie sprangen aufjauchzend daran empor, sie spielten mit ihr, ehe sie sich zornschnaubend endlich darüber warfen und nun machtvoll, in unwiderstehlichem Siegeslauf mit sich zur Tiefe herabrissen und verschlangen. Diese Beute war ein vorspringendes Felsstück, ein tief eingegrabener Stein, ein festwurzelnder Baum, es war eine Unterstandshütte von Jägern und Holzfällern, ein aufgestapelter Holzvorrat oder ein Heustadel, es war ein Bau von Menschenhand, oder es war ein ganzer Wald, ein ganzer Berg. Die stürzenden Wildwasser schreckte das alles nicht, sie scheuten vor keinem Hindernis zurück, das sich ihrer rasenden Gewalt entgegenstemmte, sie kannten keine Schonung und keine Wahl. Und wenn sich das eine dieser wild lechzenden Ungetüme nicht stark genug fühlte, um in seiner tödlichen Umarmung zu erdrücken, was sich ihm in den Weg zu drängen wagte, so rief es einen Genossen, rief es deren mehrere zur Hilfe herbei, bis es gelang, in tobendem Angriff den Feind gemeinsam niederzustrecken und zu überwältigen. Dann hallte nur wilder und herausfordernder noch das tosende Siegesgeheul der Wasser.
Ein ganzer Wald, ein ganzer Berg; – Innocenz sah es, als er gegen die Abhänge des Arzenkopfes zu seine Schritte gewandt hatte. Ein Lärchengehölz, das einen der Vorsprünge des Unterbergs der hohen Zinne bedeckt gehabt, war von den gierigen Wassern unterspült, losgerissen und in die Tiefe gestürzt worden, um dort zu zerschellen. Weithin bedeckte ein Chaos von Felstrümmern, von geborstenen Steinen, von zersplitterten Baumstämmen den Boden. Und zwischen den im Schlamm versunkenen Nadelkronen, zwischen den im aufgeweichten Fels eingebohrten Holzteilen ergoß sich immerfort aufs neue die Schlammflut, als wollte sie auch die letzte Spur dessen, was einst davon gewesen, zermalmen und vertilgen. Und nun, da Innocenz rastlos und ungeschreckt weiterdrang, hörte er es abermals über sich donnern, als habe eine mächtige Schneelawine sich losgelöst und rolle zu Tal. Ehe er noch Zeit hatte, es zu denken, sah er unmittelbar vor sich den Berghang in Bewegung geraten, und mit einem Schrei des Entsetzens wich er zurück. Ein unheimliches, unerklärliches Brechen und Bersten begann über ihm und um ihn her. Der ganze Fels fing an, sich zu senken, in sich selber zusammenzustürzen; es sah aus, als ob er von unsichtbaren Gigantenhänden herabgerissen würde, oder als wollte das Erdinnere sich auftun, um die drunten hausenden Geister der Tiefe ans Licht zu lassen. Dann bröckelten einzelne der auseinandergesprengten Trümmer vollends los, die Wasser ergossen sich zischend und quirlend zwischen die Spalten, füllten sie aus, spülten die Steine heraus und kollerten sie dröhnend und schütternd zu Tal, wo sie sich in die Schlammfluten stürzten und von diesen mit fortgerissen wurden, um auf ihrem verderbenbereitenden Wege ihnen zu helfen bei dem Werke der Zerstörung und der rohen, wilden Gewalt.
Endlich konnte Innocenz weitergehen. Es war freilich kein Gehen mehr; ein mühseliges Vorwärtswaten war es durch die sich stauenden Schlammgewässer, welche die ganze Talmulde zollhoch erfüllten, ein Stolpern über Holzklötze, Baumwurzeln und Steine, ein langsames, mühseliges Überwinden von immer neu sich auftürmenden Hindernissen, welche die Minute gebar, von immer neu drohenden Gefahren, welche alle Sinne zu fieberhafter Anstrengung drängten. Manchmal glaubte er schon verzagen zu müssen, manchmal fürchtete er, nie bis an sein Ziel dringen zu können. Aber doch rastete er nur, wenn es galt, Atem zu schöpfen, oder wenn sich ihm ein neuer Widerstand entgegenstemmte. Durch das Heulen des Föhns, durch das unheimliche Getöse der stürzenden Wasser, durch das Krachen und Dröhnen der zu Tal polternden Felsblöcke vernahm er ganz deutlich in seiner Seele den gellenden Hilferuf Filomenas, und er wußte, sie warte auf ihn, um von ihm gerettet zu werden oder mit ihm unterzugehen. Kein Drittes konnt' es mehr geben für sie beide.
Er war wiederum eine Strecke vorwärtsgedrungen, als er sich plötzlich angerufen hörte. »He, Bruder Innocenz! Bruder Innocenz!«
Innocenz wandte sich nach dem Rufer um und erkannte in der hohen Gestalt in älplerischer Jägertracht, die den Stutzen auf dem Rücken trug, den Pfarrer Josef Ladurner aus Moosbrunn. Er war nicht wenig erstaunt, den Geistlichen jetzt und so hier zu finden. Der Anzug desselben bewies deutlich, daß er auch schon schwere Kämpfe gegen die entfesselten Naturgewalten zu bestehen gehabt hatte, um vorwärts zu kommen. Bis fast zu den Hüften war er mit Schlamm besudelt, und seine Lodenjoppe hing ihm in Fetzen am Leibe. Sekundenlang standen sich die beiden Männer gegenüber und maßen sich wechselseitig mit musternd-verwunderten Blicken. Es war, als wüßte keiner von ihnen genau, wie er zu dem anderen stehe und was er von ihm zu denken habe. Sie holten tief Atem, ihrer beider Brust keuchte.
»Wohinaus geht Ihr?« fragte Josef Ladurner endlich.
Innocenz deutete schweigend seine Richtung. Und der andere setzte erstaunt hinzu: »Nach dem Arzenkopf zu? Auf die Forcheralm?«
»Und wenn es so wäre?« versetzte Innocenz in einem herausfordernden Tone, zu dem er sich zwang.
»Von der Forcheralm hat man gestern heimgetrieben.«
»Gleichviel.«
Der Pfarrer blickte den Sprecher prüfend an. Dann schien er plötzlich zu begreifen und nickte gleichmütig.
»Dort also!« Nach kurzem Besinnen setzte er jedoch hinzu: »Ihr kommt nicht mehr hinauf.«
»Ich will's darauf ankommen lassen,« warf Innocenz hin, während er weiterzuschreiten begann.
Josef Ladurner hielt Schritt mit ihm. »Es ist unmöglich,« sagte er. »Der Villgrattenbach ist toll geworden, Ihr seht's ja selber. Wenn er hier unten schon gehaust hat wie ein wildes Tier, wie soll's droben ausschauen? Die, welche Ihr retten wollt, wird sich längst in Sicherheit gebracht haben und Euch Botschaft schicken. Wenn sie geblieben wäre, wär' sie verloren. Es gibt gar keinen Weg mehr dort hinauf, die Wege sind reißende Flüsse geworden, und bergauf kann man nicht schwimmen. Fragt die Leute von der Forcheralm selber, Ihr findet sie in Moosbrunn.«
Innocenz erwiderte nichts mehr hierauf. Er fühlte, daß der Sprecher recht habe, und sein Herz krampfte sich in banger Angst zusammen. Wenn er das Bild furchtbarer Zerstörung hier unten überblickte, konnte er sich eine Vorstellung von dem machen, was seiner auf den Höhen wartete. Nicht das freilich schreckte ihn, aber er mußte bezweifeln, daß seine Kräfte ausreichen würden, um den erbitterten Kampf gegen die Naturgewalten, je drohender sie anwuchsen, desto willenskräftiger siegreich zu Ende zu führen. Und dann schimmerte ihm aus des Pfarrers Worten wirklich die leise Hoffnung auf, daß Filomena angesichts der Todesgefahr, in die sie sich anderenfalls nutzlos begeben würde, sich rechtzeitig gerettet haben könne, daß sie ihm durch die Leute von der Alm, die gestern eilfertig den Heimweg angetreten hatten, irgendeine Kunde gesandt habe. Es war also wohl wirklich das beste, das einzig Gebotene, sich zunächst nach Moosbrunn zu wenden.
Während er alle diese Gedanken ruhelos in sich wälzte, erzählte der Pfarrer Ladurner ihm von den furchtbaren Verheerungen, welche er überall auf seinem Wege angetroffen. Er war gestern abend mit dem Barthel auf die Jagd gegangen, um über Nacht einem Berghirsch aufzupassen, an den er sich schon einmal angepirscht hatte, ohne zum Schusse zu kommen; die Nacht sei gerade wie geschaffen dazu gewesen, weil bei dem herrschenden Föhn eine Witterung des Jägers durch das Wild unmöglich gefallen sei an dem Standplatz, den sie eingenommen hätten. Freilich sei es ein wahres Teufelswetter gewesen und kein Kinderspiel, dabei stundenlang auf dem Anstand zu liegen, bis über die Knie im Wasser und unter dem gießenden Regen, aber was gäbe es, das einen passionierten Weidmann abschrecken könne, zumal wenn er schon ein paarmal genarrt worden sei und nun seine Ehre darein gesetzt habe, endlich zum Ziel zu gelangen? Es sei aber richtig wiederum nichts geworden, der Hirsch sei gar nicht in Sicht gekommen und ihrer beider Lage schließlich so bedrohlich geworden, daß sie, ob wollend oder nicht, hätten an Flucht denken müssen. Denn der Berg über ihnen habe plötzlich zu wanken angefangen, um sie her seien Felsblöcke mit den darauf wurzelnden Tannen sausend zu Tal gerollt, und die Schlammbäche hätten sie eingeschlossen, ja, seien mit ihren trüben, dicken Fluten ihnen bis fast an die Brust hinaufgestiegen. Da hätten sie sich in der dichten Finsternis forttasten müssen, und zwar bis zum Jägerhaus Peutelstein, das ihnen am nächsten gelegen, um dort erst einmal den Morgen abzuwarten. Freilich: was für ein Morgen sei das gewesen! Es sei ein Wunder, wenn er überhaupt noch bis Moosbrunn vordringen könne, und was weiter werden solle, möge Gott wissen. Vielleicht würden sie ja auch im Dorf kein Haus mehr heil und unbeschädigt wiederfinden, man müsse in jeder Hinsicht auf das Schlimmste gefaßt sein.
»Und wie steht es zu Sankt Ulrich?« fragte der Sprecher zum Schlusse.
Innocenz berichtete kurz, was er wußte. »Moosbrunn ist gefährdet,« setzte Josef Ladurner hinzu, »wir werden einen schweren Stand haben.«
»Was gedenkt Ihr überhaupt zu tun?«
»Wir? Eine Prozession werden wir abhalten.« Es klang eine unverkennbare Ironie aus den Worten des Sprechers.
»Und dann?« fragte Innocenz.
Dann wird jeder sich und das Seine in Sicherheit zu bringen suchen und den heiligen Nepomuk anflehen, daß er ihn und sein Hab und Gut verschonen möge, sich aber dafür an dem der anderen immerhin vergreifen könne. So beten sie ja zum heiligen Florian auch, wenn's Gewitter gibt.«
»Und man hat von nirgendher Hilfe zu erwarten?«
»Hilfe?« Der Pfarrer lachte kurz auf. »Wir werden Astwerk, Kies und Steine aufschütten und Dämme aufrichten, so gut es eben gehen will, und wenn das Hochwasser steigt, wird es die Dämme einreißen und mit verdoppelter Wucht alles überfluten, verschlammen und zerstören. Und wenn es schlimm geht, werden wir selber mit fortgespült werden. Und so wird es nicht nur hier oben bei uns auf der Lahn sein, sondern überall drunten auch im ganzen Pustertal, so weit das Gebiet der Drau und Rienz reicht. Solange der Föhn andauert und der Regen weiter gießt, dauert die Gefahr für Leben und Eigentum aller an, und je länger sie dauert, desto unrettbarer sind wir alle verloren. Wir sind ja die Hochwasser schon gewöhnt, wir nehmen sie nicht viel anders hin als Hagelschlag und Himmelsblitzen. Diesmal aber wird's ernster. Es liegt zu viel Schnee in den Bergen. Diesmal wird's wohl eine Katastrophe geben, die manches Menschenleben kosten wird und die Erträgnisse des Fleißes von Tausenden vernichtet. Dann wird man um so mehr beten müssen. Und später sammeln sie draußen im Lande für die unglücklichen Opfer der Wassersnot, und die Regierung schickt etliche Ingenieure, welche die Frage der Regulierung unserer Flüsse studieren sollen, und während die Behörden dann über das Für und Wider aller diesbezüglichen Vorschläge in gründlichen Erörterungen beratschlagen, ist die Zeit für neues Hochwasser bereits wieder gekommen, und alles bleibt, wie es gewesen ist.«
Er sagte das alles beim rüstigen Vorwärtsdringen durch Wasser und Schlamm ihres Weges mit einer Art von verbissenem Ingrimm und lachte hart hinterdrein in die dichte, graue Nebelluft und den stürzenden Regen hinaus. Dann reckte er ein paarmal seine mächtigen Arme in die Höhe, als wollte er ihre Kraft erproben oder auch nur durch ein Zeichen andeuten, wieviel lieber er sie gebrauchen würde in dieser Zeit der Gefahr, gleich dem Mutigsten aller, anstatt durch Beten und Singen versuchen zu müssen, daß er sie beschwöre.
Innocenz sagte nichts mehr. Nach einer Weile fing Josef Ladurner wieder an: »Wißt Ihr, daß Schloß Peutelstein arg heimgesucht worden ist? Eine Lawine hat heute morgen das Dach eingedrückt und die eine Außenwand zerrissen. Da nun die himmlischen und die irdischen Wasser so gleicher Zeit freien Eintritt haben, wird die Hochflut von der ganzen gräflichen Herrlichkeit dort wohl nicht viel übriglassen. Weiß nicht, ob die hohen geistlichen Herren dabei an den Schwefelregen denken werden, der einst auf Sodom und Gomorrha niederging. Aber auf der Lahn wird man sich wohl verwundern, daß so viel Frömmigkeit und Gebet den Zorn des Himmels noch nicht einmal hat besänftigen können!«
Wieder lachte er rauh auf. Innocenz hatte es mit einem Schauer durchrieselt, so daß er sekundenlang stehenbleiben mußte, um sich zu fassen. Dann fragte er weitergehend düster: »Ist die Gräfin gerettet?«
»Man hatte eben alle Anstalten getroffen, um sie ins Tal hinabzuschaffen. Ob es noch gelingen wird, zumal sie so gebrechlich ist, daß sie sich nicht mehr selber helfen kann, ist zweifelhaft genug. Und im Augenblick der Gefahr wird das ganze Geschmeiß der Lakaien zuerst an sich und dann erst an sie denken. Es ist ein jammervoller Auszug, und der alte Bruder Pius läuft verzweifelt und sich die Haare raufend umher und möchte alles tun und kann nichts und vergißt selbst das Beten darüber. Ich hätt' ihm gern beigestanden, dem guten Alten, aber als Seelenhirt der Gemeinde Moosbrunn« – der Sprecher lachte kurz – »hatt' ich höhere Pflichten. Vielleicht hilft ihnen Gott der Herr durch, der einst die Juden trockenen Fußes das Rote Meer durchschreiten ließ. Und der Barthel geht mit, auf den ist Verlaß. Wenn die Wege noch passierbar sind, bringt er die Gräfin hinunter.«
Er rastete einen Augenblick, nachdem sie eine Steinmuhre, die ihnen den Weg versperrte, hatten überklettern müssen, zog eine flache Flasche aus seiner Lodenjoppe und tat einen tiefen Zug daraus. Dann bot er sie Innocenz. »Ihr seid kein Freund von dergleichen,« sagte er, »ich weiß. Ist ja auch Sünde für einen geistlichen Herrn. Aber unter solchen Umständen –«
Innocenz nahm und trank. Der Enzianbranntwein rann ihm wie ein Feuerstrom durch das Blut. Er fühlte seine Kräfte wachsen. Dann schritten sie rüstiger vorwärts. Nach einer weiteren Viertelstunde, die sie schweigend zurücklegten, gelangten sie nach Moosbrunn.
Hier bot sich ihnen ein neues Bild der Zerstörung. Die von der Lahn zahlreich, aber nicht weit ins Gebirge hinaufragenden Seitentäler, in denen der Boden zumeist Pflanzenwuchs, wenigstens eine kurze Grasnarbe aufwies – das Volk hieß sie Gräben –, hatten furchtbares Unheil heraufbeschworen. Der fast völlig entwaldete Boden war von den heftigen, unaufhörlichen Regengüssen aufgeweicht worden und zur Talsohle hinabgesunken, von wo die angestauten Wasser ihn in die Lahn hinausgetragen hatten. Diese erschien hier nur noch wie ein ungeheures Schlammfeld, aus dem die Wohnungen der Menschen hilfesuchend aufragten. Hier und da waren sie durch die vorgedrungenen Schotterhalden auch bereits völlig erdrückt oder doch umzingelt und eingemauert. Von den kleinen Vorgärten der Häuser war nichts mehr zu erblicken. Hier und da schwammen auf der trüben, dicken Flut noch Stauden und Knollen als letzte, klägliche Überreste derselben umher, hier und da ragte ein Heustadel aus dem Schlamm auf, Holzteile, Bildstöckel, Schindeln drehten sich im Wirbel auf den Gewässern, und polternd dröhnte das Rollen gewaltiger Steinblöcke, welche die stürzenden Bäche bergab trugen und krachend gegen die Wände der Hütten schleuderten. Mit diesem Geräusch der Zerstörung und dem unablässigen Gurgeln, Rauschen und Wühlen der Flut vermischten sich dann die Angstschreie der Menschen, welche ihr Hab und Gut zertrümmert, ihr Eigentum, ohne eine Hand zu seiner Erhaltung rühren zu können, der Gewalt der schonungslos wütenden Naturmächte preisgegeben sahen.
Die meisten der Moosbrunner hatten sich droben auf dem Friedhofe neben der Kirche zusammengeschart. Sie hockten dort, Männer, Weiber und Kinder, wüst durcheinander zwischen den Gräbern und blickten teils stumpf und stier, teils mit wutverzerrten Gesichtern, die Fäuste ballend und ohnmächtige Flüche zwischen den Lippen murmelnd, in angstvoller Spannung, in dumpfer Ergebung, betend, schreiend, heulend auf das wilde, furchtbare Schauspiel zu ihren Füßen.
Und unermüdlich heulte der Sturm und goß der Regen. Josef Ladurner und Innocenz waren einen Augenblick wie von Schreck gelähmt stehengeblieben. Kaum aber war die Menge auf dem Friedhof ihrer ansichtig geworden, als sich ein lautes Jubelgeschrei erhob: »Der Pfarrer! Der Pfarrer!« Aller Arme hoben sich winkend auf, aller Blicke richteten sich wie erlöst auf ihn. Über Josef Ladurners harte, grobknochige Züge flog ein bitteres Lächeln, und eine Wolke von Trauer überschattete seine Augen. Er murmelte zwischen den Zähnen: »Sie haben auf mich gewartet wegen der Prozession. Nun werden wir dem lieben Herrgott die Sache recht eindringlich zu Gemüte führen, daß wir samt allem, was unser ist, gerettet zu werden wünschen; – er könnte sonst darüber im Zweifel bleiben!«
Er schüttelte Innocenz, der nichts erwiderte, die Hand und machte sich daran, die Schlammflut zu durchwaten, die ihn noch vom Pfarrhause trennte. Innocenz selber schlug die Richtung zur Hütte der alten Wurzin ein. Er wollte sehen, ob er ihr helfen könne, und gleichzeitig von ihr erfahren, wo er die Leute von der Forcheralm finden würde, die ihm Kunde über Filomena bringen mußten. Es war sehr mühselig, bis zu ihr durchzudringen. Als es ihm aber endlich gelang, fand er sie, wie seine Ahnung es ihm vorhergesagt hatte, wirklich in ihrer Hütte vor, über deren Hausschwelle die Wasser schon hereinleckten, und deren Dach der Sturm von den Steinen fast ganz entblößt hatte, welche die morschen Schindeln beschwerten. Die nächste Stunde schon konnte es vollends hin wegführen und den Regenfluten den Zugang frei machen. Dann würden die alten Mauern nicht mehr lange aushalten, und dies Haus mochte eins der ersten, vielleicht das erste von allen sein, welches dem Hochwasser dieses Herbstes zum Opfer fiel.
Innocenz gewahrte bei seinem Eintritt die Greisin neben dem Herde hocken, wie sie beim Flackerschein der Flamme darauf Wurzeln und Kräuter aus ihrem Korbe las und sortierte. Sie begrüßte ihn, ohne sich stören zu lassen, mit einem Kopfnicken, als ob sein Kommen sie weder überrasche noch sonst etwas Außergewöhnliches geschehen sei.
»Ahne!« rief er, sich matt neben ihr auf einen Holzstuhl niederwerfend, mit erregter Stimme, »weshalb rettet Ihr Euch nicht?«
Sie sah ihn einen Augenblick erstaunt an und schüttelte dann den Kopf. »Wozu? Für wen? Wann der liebe Gott ein End' machen will, ich bin bereit. Meinst doch nicht, Cenzerl, man würd' ihm ausschlupfen können, wenn er's so im Sinn hat?«
»Ihr solltet's doch machen wie die anderen, Ahne, und zur Kirche hinaufgehen. Dort ist vorerst noch Schutz. Und nachher, wenn der Regen nicht nachlassen sollt', wird man ja weiter sehen. Diese Hütte stürzt Euch über kurz oder lang überm Kopf zusammen.«
»Wär' mir recht, Cenzerl,« versetzte die Alte gleichmütig, »wär' mir g'rad' recht, mein Büberl.« Und sie nickte ihm mit einem wunderlich irren Lächeln, das ihre welken Lippen umspielte, zu.
»Man muß sie mit Gewalt hinausbringen!« dachte er, während sie sich bereits wieder ihren Kräutern zugewandt hatte, die sie zwischen den braunen, verrunzelten Fingern hin und her drehte und gegen das Licht hielt oder auch zerrieb und beroch. Er wandte sich zum Gehen. Hier etwas auszurichten oder Erkundigungen einzuziehen, erschien ihm unmöglich; er mußte sich droben an die Leute auf dem Friedhofe mit seinem Anliegen wenden.
Als er fort wollte, hielt ihn die Alte aber am Ärmel seines Gewandes fest und raunte ihm kichernd zu: »Auf das Beste hätt'st leicht vergessen, Cenzerl, – weißt? die Hauptsach'! Komm nur her, hab' schon alles b'reit 'legt für dich. Und wann's denn wirklich ans Sterben gehen soll, hat keiner sich mehr um mein' Nachlaß zu grämen, – verstehst?«
Und immerfort kichernd, langte sie nach einem vielfach umschnürten und verklebten Paket, das sie unter ihrem Brusttuch versteckt gehabt hatte, und schob es ihm in die Hände. »Großmutter,« sagte er bestürzt, »ich bin nicht deshalb gekommen.«
»Ich weiß, ich weiß,« lachte sie, »aber weil du mein einziger Erb' bist, und weil die andern nichts davon wissen sollen auf der Lahn, verstehst? Darum ist's. Und wann's mit der Filomena etwa teilen willst – der Stasi ihre Tochter bleibt's ja freilich immer, und schaden könnt' mir ein Dutzend Seelenmessen auch nichts, so viel ist a' g'wiß –«
»Großmutter!« rief er und hielt ihre beiden Hände umfaßt und blickte sie treuherzig an, »ich dank' Euch. Aber bleibt auch für Euch selber genug? Denn Ihr sollt nicht sterben. Großmutter, Ihr sollt leben!«
»Für mich reicht's schon noch, mein Büberl,« kicherte die Wurzin, »und weißt? Die Filomena muß doch ein Hochzeitsgut haben, und wann sie all ihr Leben lang nichts von der alten Ahn' Gutes g'habt hat, an ihrem Hochzeitstag soll sie gut von ihr denken. Darüber wird sich die Stasi im Himmel noch freuen, mein' ich. Und für mein Cenzerl –«
Mitten im Satz wurde sie durch ein pfeifendes Getöse unterbrochen, das sekundenlang das ganze Haus hin und her schwanken ließ, wie ein Schiffsrumpf mitten auf treibender See. Dann hob ein furchtbares Gepolter, ein Krachen, Splittern und Bersten an, und Innocenz, der erschrocken zurückgetaumelt war, gewahrte nun, daß der Sturm den Dachfirst zertrümmert und herabgerissen hatte. Darunter war nun auch die Vordermauer der Hütte ins Wanken geraten, fortwährend bröckelten Steine und Holzteile davon ab, der Regen schlug mit wilder Gewalt herein, und ein Windstoß, der jetzt freien Zugang fand, ließ die Herdflamme, an der Innocenz sich gewärmt hatte, hoch auflodern, um im nächsten Moment den ganzen Raum mit qualmendem Rauch zu erfüllen.
»Kommt heraus, Großmutter!« rief Innocenz dringlich. »Ihr dürft hier nicht bleiben, das Haus wird zusammenstürzen – kommt!«
Aber die Alte lachte behaglich vor sich hin. »Wird schon noch so lang' aushalten wie ich selber, Cenzerl. Und wohin sollt' ich auch gehen?«
»In die Kirche. Die steht hoch und hält Stand.«
»Bin wohl an die zwanzig Jahr' nicht mehr in der Kirchen g'west, Cenzerl. Mein' ich halt, der lieb' Herrgott wird mich jetzt auch nicht dort haben wollen.«
»Großmutter, wenn Ihr nicht gutwillig geht, trag' ich Euch mit Gewalt fort. Hier kann ich Euch nicht zugrunde gehen lassen!«
Innocenz war vor die Tür hinausgetreten, um sich nach Hilfe umzuschauen. Die Gefahr wuchs, und hier mußte ein Ende gemacht werden. Aber er gewahrte kein lebendes Wesen in der Nähe, und droben von der Kirche her schollen die Litaneien derer, die sich jetzt zu einem Bittgange zusammenscharten und mit brennenden Wachskerzen und Gebetbüchern in den Händen, nur noch auf das Erscheinen des Priesters zu warten schienen. Die Fahnen und Heiligenbilder ragten schon über den Köpfen der sich drängenden Menge empor.
Aus dem Innern des Gotteshauses schollen die Klänge der Orgel. Keiner von den Andächtigen würde sich bereitgefunden haben, ihm zu helfen; und wenn selbst ein Menschenleben auf dem Spiel stand, galt die Erfüllung der Pflicht gegen die Gottheit, welche die drohende Wassersgefahr beschwören sollte, ihnen allen jetzt höher. Und nun gar dieser Greisin gegenüber, die sich von der Gemeinschaft mit ihnen wie von der mit Gott in ihrer trotzigen und harten Verbitterung ausgeschlossen hatte, weil sie schon genug an Freud' und Leid auf Erden erlebt gehabt, würde man am wenigsten eine Regung des Mitleids empfinden. So blieb ihm nichts anderes, als selbst ihre Rettung zu versuchen.
Immer wilder raste der Sturm, der mit fauchendem Atem durch die klaffenden Mauerlücken hereinblies, immer heftiger prasselte der Regen durch die zerlöcherten Schindeln. Da umschlang Innocenz die Greisin, die sich, um das alles unbekümmert, über der qualmenden Herdflamme die Hände rieb, mit seinen Armen und trug sie trotz ihres Widerstrebens hinaus. Knietief durch die gurgelnden Schlammwasser watend, gelangte er keuchend mit seiner Last bis an den Fuß des Kirchenhügels. Dort konnte er nicht weiter. Das Herz drohte ihm zu zerspringen, seine Brust lieh ihm keinen Atem mehr her. Er setzte die Greisin nieder und bot ihr die Hand, um sie vollends bis zum Gotteshause hinaufzuführen. Und so entschiedenen Widerstand sie ihm bisher auch entgegengesetzt hatte, ließ sie sich jetzt doch ruhig weiter geleiten und kicherte nur halb verschämt, halb übermütig in sich hinein, als ob das alles um sie her ihr weder Schreck noch Grauen einflöße, sondern nur ein seltsamer Spaß sei. Ihre Sinne mußten sich völlig verwirrt haben, und ihr Geist weilte in anderen, längst vergangenen Zeiten, deren Gestalten und Ereignisse um sie her wieder lebendig geworden waren.
Sie nannte Innocenz jetzt mit dem Namen ihres Mannes Andrä und bildete sich ein, daß sie Hand in Hand mit ihm den Kirchgang angetreten habe, weil heute droben ihr Bub', der Cenzerl, die heilige Taufe empfangen solle. Und mitten in dem niederstürzenden Regen redete sie von der Maisonne, wie sie doch schon gar so heiß brenne, und freute sich ihres neuen Feiertagskleides, das ihr von allen anderen geneidet werden würde. So legte sie, immerfort mit dem Kopfe wackelnd, mit dem zahnlosen Munde raunend und verstohlen in sich hineinkichernd den Weg an seiner Hand bis zur Kirche zurück.
Dort hatten sie Mühe, sich durch das zusammengescharte Volk ins Innere des Gotteshauses vorzudrängen, und hier und da wurden unter den zurückweichenden Leuten drohende und schmähende Worte beim Anblick der Alten laut. »Wenn die Hex' sonst nicht in der Kirchen g'west ist, braucht sie auch jetzt nicht daherzukommen!« murmelten sie und: »Wenn so eine ersäuft, wird's nicht groß schad' d'rum sein.«
Wenn Innocenz die Alte nicht an der Hand geführt und mit drohend blitzenden Augen nach denen geblickt hätte, die ihr den Eintritt in die Kirche verweigern wollten, würde man sie schwerlich hereingelassen haben. Auch so noch murrten sie hinter ihm drein. Aber sein Rock machte ihm Bahn.
Gerade, als sie die Kirche betraten, bildete sich drinnen der Zug. Die Orgelklänge brausten durch den gewölbten Raum, Weihrauch qualmte aus den geschwungenen Becken der Chorknaben auf, aus der Tür der Sakristei trat Josef Ladurner nicht mehr in Jägertracht und mit dem Stutzen, sondern in silbergesticktem Meßgewand und das Allerheiligste in seinen Händen. Er erblickte Innocenz, aber keine Muskel in seinem knochigen Gesicht zuckte, nur ganz leicht hob sich die Oberlippe herauf und ließ darunter die starken Wolfszähne gewahren, wie bei einem Lächeln.
Innocenz hatte inzwischen unter den Männern, die der Meßner in Reih' und Glied zu ordnen bemüht war, den Sennen von der Forcheralm bemerkt, nach dem er schon lange ausgespäht hatte. Rasch trat er auf ihn zu, nahm ihn beiseite und fragte leise nach Filomena.
Was der Mann ihm erwiderte, ließ ihn erbleichen. Filomena habe sich gestern geweigert, den Talweg mit ihnen anzutreten, obgleich er ihr die drohende Gefahr grell genug geschildert habe, auch sei sie nicht zu bewegen gewesen, einen anderen Zufluchtsort aufzusuchen, sondern habe dabei beharrt, daß sie bleiben müsse, um einen zu erwarten, der heute kommen werde; und wenn es ihr Tod sei, sie dürfe nicht eher fort, als bis der es sie heiße.
»Heiliger Gott,« stöhnte Innocenz, »und sie ist droben allein und gefährdet – gefährdeter, als sonst überall?«
Der Mann zuckte die Achseln. Wenn nur die Hütte selbst standhalte, könne sie ein paar Tage Hochwasser dort schon überdauern, meinte er, auch habe sie Nahrung genug zurückbehalten, um nicht Hunger zu leiden währenddessen. Aber auf die Hütte sei eben kein Verlaß, und wenn der Föhn nicht nachlasse, und die Wasser so furchtbar weiter stiegen, könne man ohnehin für nichts einstehen. Er seinerseits habe seine Schuldigkeit getan, die Dirne zu warnen, um die es wahrlich schade sei, ihn treffe keine Schuld bei etwelchem Unglück.
Innocenz versuchte den Mann zu überreden, mit ihm zu gehen, um das Mädchen zu retten. Er bot ihm Geld, viel Geld, wenn er sich dazu bereit finde. Aber der Almer wollte nichts davon hören. Er müsse bei den Seinen hier unten bleiben und an das Vieh denken, für das er dem Großbauern drunten in Vierschach verantwortlich sei, nicht für ein Vermögen ginge er oder ein anderer mit hinauf. Die Dirne sei toll, daß sie oben geblieben, und mit so freventlichem Leichtsinn dürfe man nicht groß' Mitleid haben. Wenn in ein paar Tagen die Wasser sich verlaufen haben sollten, – die Zuversicht darauf schien bei dem Manne nicht groß zu sein, – würde sich eher davon reden lassen, daß man droben nach dem Rechten schaue.
Damit trat der Sprecher, kurz nickend, an seinen Platz im Zuge, der sich eben in Bewegung setzte, und Innocenz wandte sich zum Gehen. »In Gottes Namen denn,« dachte er, »sie retten oder mit ihr zugrunde gehen!« Er rief der alten Wurzin noch ein »B'hüt' Gott!« zu und folgte dann der Prozession ins Freie. Immer noch goß draußen der Regen, immer noch heulte der Sturm.
Und durch Regen und Sturm nahm der Bittgang seinen Weg zwischen den Gräbern des Friedhofs hin, immer den Hügel umwandelnd, auf dem die Kirche lag. Barhäuptig schritten sie alle daher, das Haar im Winde flatternd über den scharfkantigen Gesichtern mit den trotzigen, starrblickenden Augen und den unaufhörlich murmelnden Lippen, die brennenden Wachskerzen, welche alsbald von Regen und Sturm verlöscht, aber immer aufs neue angezündet wurden, in der Linken, Rosenkranz und Gebetbuch in der Rechten haltend. Die Fahnen flatterten zerfetzt und triefend über ihren Häuptern. Eintönig, hart scholl ihr Gebet zur Mutter Gottes empor und zum heiligen Nepomuk, dem Schutzpatron der Wasser. In allen diesen Gesichtern lagerte neben Andacht und Fanatismus noch etwas anderes, Dunkles, fast Drohendes; es redete davon, daß man von der Gottheit nicht nur erbitten wolle, sondern mit düsterer Bestimmtheit von ihr erwarte, daß sie die wilden Wasser zum Schweigen bringe; es prägte sich darin die Zuversicht aus, daß man nicht mehr und nicht weniger fordere als sein gutes Recht. Und ihnen voran unter einem verschlissenen, roten Baldachin, den die Chorbuben trugen, schritt Josef Ladurner mit dem Allerheiligsten, und ein bitteres Lächeln lag um seine Lippen.
Innocenz hatte von der ersten Höhe, die er erklommen, noch einen Blick auf das sonderbare Bild dort unten geworfen, dann hastete er weiter, so rasch seine Füße ihn tragen wollten. Der Anblick der grausigen Zerstörung zu seinen Füßen verschwand allmählich und, da er eine Strecke weit nur noch die rieselnden Wasser fand, die in dem felsigen Boden versickerten, aber keine Schlamm- und Schotterhalden mehr ihn aufhielten, gelangte er schneller vorwärts, als er zu hoffen gewagt hatte, und seine Brust schwoll wieder an von neuem Lebensmut. Wenn nur die Hütte standhielt, in der Filomena einsam hauste und seiner wartete!
Er hatte jetzt eine Talmulde erreicht, in der die stürzenden Wasser einen weiten See gebildet hatten, in welchem entwurzelte Baumstämme umhertrieben, und aus dem nur hier und da ein Fels gleich einer Insel aufragte. Als er das Wasser durchwaten wollte, versank er bis an die Hüften in den schlammigen Untergrund, kaum, daß es ihm noch gelang, einen der Steine zu erreichen, auf dem er sich retten und an dem er sich festklammern konnte, bis er nur wieder Luft geschöpft hatte. Nun überfiel ihn plötzlich eine furchtbare Angst. Bis dahin hatten ihn Mut und Hoffnung beseelt, aufrechterhalten, ihn über die Gefahren und Hindernisse, die ihm drohten, fortgetäuscht. Mit der körperlichen Schwäche, die ihn überfiel, beschlich ihn auch ein banges Entsetzen. Wenn es hier schon so stand, wie mußte das Wasser erst droben in dem felsigen Engtal gehaust haben, das Filomenas Hütte schirmte! Und wann, wie würde er sie überhaupt erreichen? Wie Filomena wiederfinden, die aller Voraussicht nach sich nicht mehr lange inmitten all der Schrecken dort würde halten können? Und wenn sie nun, an seinem Kommen verzweifelt, sich anderswohin flüchtete, wo er sie nicht fand, wo sie nichts voneinander erführen, beide allein in dieser ungeheuren Wasserwüste, in all dem Grauen der Hochgebirgseinsamkeit, die heute von Mensch und Tier gleicherart gemieden wurde? Viel zu lange hatte er gezögert.
Und es kam etwas über ihn, daß er meinte, das furchtbare Bangen laut in die tote Leere hinausschreien zu müssen, wenn es ihn nicht niederdrücken, lähmen und vernichten sollte. Eine neue Sintflut war über die Welt gekommen, die in ihren Sünden wahrlich auch reif dafür gewesen war, und die Angst der totgeweihten Kreatur gellte in grauenhaften Schreien zum fühllosen Himmel empor. Weiter! Nur weiter!
Innocenz wußte nicht mehr, wieweit der Tag vorgeschritten sei, denn es war seit der Stunde, wo er aus seinem tiefen Erschöpfungsschlafe heute morgen durch den Donner eines Bergsturzes erweckt worden war, um keinen Schein heller geworden. Das gleiche undurchdringliche Grau lag mit eherner Unbeweglichkeit über der Welt und ließ selten nur den verschwommenen Umriß einer Berglinie geisterhaft auftauchen, wie wenn hinter dieser Welt noch eine andere läge, aber weit, unerreichbar weit. Und der Regen strömte ohne Unterlaß. Schauerlich wehklagte der Wind in den Bergengen; es klang wie das Winseln eines hungrigen, beutegierigen Raubtieres. Und manchmal glaubte Innocenz, daß wirklich ein Unsichtbares, Gewaltiges sich ihm entgegenstemme, ihm das Vordringen verwehre und ein gellendes Hohnlachen ausstoße, wenn er, von Furcht und Erschöpfung gebändigt, stehenblieb. Seine Glieder begannen schon, vor Erregung und Überanstrengung zu zittern, seine Sinne gingen wie im Wirbel um, sein Blut tobte in den Adern und Feuerfunken tanzten ihm vor den Augen.
Er hatte, sich von Stein zu Stein weiter rettend, endlich den Schlammsee, zu dem die Talmulde geworden war, hinter sich und konnte wieder eine Strecke weit unbehinderter aufwärts klimmen. Freilich galt es fortwährend, niederrollende Felsblöcke, welche das Wasser irgendwo losgespült, oder Wurzelgeflecht und Knorren, die es fortgerissen, zu vermeiden, wenn sie gegen ihn herabgesaust kamen; es galt Steinwälle zu überklettern und sich durch ein Gewirr von ineinandergekeilten, halb herabgestürzten, halb den Sturz drohenden Nadelbäumen einen Weg zu bahnen.
All diese Gefahren aber schreckten Innocenz nicht, keine schreckte ihn, die er sah, nur die unsichtbaren erfüllten ihn immer wieder mit bangem Grauen, sei es, daß plötzlich von irgendwoher das Donnern einer stürzenden Schneelawine oder das unheimliche Gepolter eines Erdrutsches vernehmbar ward, das hin und wieder sogar den Boden unter seinen Füßen schwanken machte, sei es, daß sonst ein Getöse, dessen Ursache er sich nicht klarzumachen wußte, aus der Höhe oder aus der Tiefe ihn umhallte, oder daß auch nur das Windgeächz gleich einem schrillen Warnungsruf die furchtbare Felswüstenei durchgellte. Dann packte ihn jedesmal der Gedanke an Filomena wie mit würgender Angst. Was würde sie ausstehen, einsam, ohne Nachricht von ihm, ohne die Gewißheit seines Kommens in dieser Welt der Schrecken, in dieser dem Untergange geweihten Welt!
Und immer wieder strengte er dann seine Kräfte bis aufs äußerste an, um vorwärtszukommen, um zu ihr zu gelangen. Aber er fühlte mehr und mehr, daß es vergeblich sei, daß er das Ziel unmöglich mehr erreichen könne. Er war bereits bis zum Umsinken erschöpft. Dazu hatte er nicht einmal einen Bissen Brot, nicht einmal einen wärmenden Trunk bei sich, um sich wenigstens noch eine Weile fortzuhelfen, sich selber über die allmählich mehr und mehr überhandnehmende Schwäche zu betrügen. Er fühlte sie deutlicher und immer deutlicher mit jeder verrinnenden Minute.
Nur noch mechanisch ging er zuletzt weiter. Er hatte gar nicht mehr das Bewußtsein, daß er wirklich weiterkam. Es verschwamm alles vor ihm. Sein Kopf war wie ausgeschöpft, vor seinen Augen tanzte und flirrte alles, sein ganzer Körper, alle seine Glieder waren wie durchpulst von einem einzigen, wilden, rasenden Herzschlag. Seine Knie zitterten, die Gestalt sank immer mehr vornüber, seine Brust ächzte bei jedem Atemzuge. Denken konnte er nicht mehr. Nur die ungeheure Angst kroch jetzt in ihm empor, vom Herzen zum Hirn, und umschnürte ihn, wie eine sich ringelnde Schlange, die ihn erdrücken wollte.
Nur hier nicht niederstürzen! schoß es ihm noch blitzgleich durch die Seele; nur hier nicht zusammenbrechen und von den angeschwollenen Fluten in die Tiefe gerissen werden, ohne daß Filomena ahnt, ohne daß sie je erfährt, er sei auf dem Wege zu ihr gewesen!
Und dann blieb er plötzlich stehen, und in dem Grauen, das ihn übermannt hatte, in der Furcht vor dem, was nun kommen würde, kommen mußte, fand er plötzlich die Kraft, zu schreien, einen Schrei auszustoßen, der das Geheul des Windes und das tosende Stürzen der Flut überhallte, einen Schrei nach Hilfe, einen Schrei der Todesangst, einen Schrei der verzehrenden Sehnsucht – das alles zusammengefaßt in den einen Namen »Filomena!«
»Filomena!« rief er. Er wußte, daß das nutzlos, daß es Wahnsinn war, nach ihr zu rufen; er hatte keinerlei Vorstellung mehr davon, wo er sich eigentlich befand, wie weit er noch von der Forcheralm entfernt war, und ob es ihm überhaupt gelungen war, die Richtung einzuhalten, die er dorthin hatte einschlagen müssen. Und trotzdem rief er mit der Kraft der Verzweiflung, mit dem gellenden Ton des Irrsinns, der seine Seele umnachten wollte: »Filomena! Filomena!« Und immer wieder »Filomena!«
Kam dort ein Echo von der Felswand zurück, das ihn äffte? War es der Angstschrei eines Bergadlers, der seinen Horst nicht wiederfinden konnte, welchen Flut und Sturm ihm vernichtet hatten? Eines Wildes, dem die fallenden Wasser den Weg abgeschnitten hatten? Innocenz begann es zu schwindeln. Brach die Nacht schon herein oder wurde es nur dunkel ihm vor den Augen? Noch einmal raffte er seine schwindenden Lebensgeister zusammen, noch einmal brach es wie ein verröchelnder Schrei aus seiner Brust: »Filomena!« Dann sanken ihm die Knie, und er schlug in dumpfem Fall bewußtlos zu Boden.