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Innocenz las die Messe in der kleinen Dorfkirche von St. Ulrich. Der schmucklose Raum mit seinen weißgetünchten Wänden, deren nüchterne Einförmigkeit nur durch ein paar Beichtstühle und ein mit buntem Geflitter geschmücktes Madonnenbildnis hinter Glas und Rahmen unterbrochen wurde, dessen Altargitter von Votivtafeln und silbernen Herzen dicht bedeckt war, faßte nur wenig Andächtige. Einzelne derselben knieten unter der ewigen Lampe, die vor der Mutter Gottes brannte, während die vielen geweihten bunten Kerzen zu ihren beiden Seiten aufgereiht waren, die meisten lagen in den hölzernen Betstühlen auf dem nackten Fliesenboden. Fast lauter Weiber – denn die Männer waren schon vor dem Beginn der Frühmesse an die Arbeit gegangen –, und mehr alte als junge. Mit zahnlosem Munde murmelten sie, sich bekreuzigend, die eingelernten Worte nach, die sie nicht verstanden, und der Rosenkranz hing zwischen ihren welken, verkrümmten und zerarbeiteten Händen. Hart schlugen ihre Stirnen, wenn sie sich niederbeugten, auf das braune Holz der Betstühle. Die Luft war kellerig und frostig im Gotteshause; der Weihrauchduft lagerte darin wie ein feiner, lichtgrauer Nebel.
Als Innocenz, der blaß und übernächtig in dem kostbaren, gestickten Meßgewande aussah – einem Geschenk der Gräfin Theodora Karditsch auf Peutelstein an die Kirche von St. Ulrich –, beim Ertönen des Glöckchens den Andächtigen den Kelch in der hocherhobenen Hand vorwies, zum Zeichen, daß die Verwandlung stattgefunden habe, fiel sein brennender Blick plötzlich auf Donata. Sie kniete in der hintersten Reihe der Betstühle und blickte in starrer Unbeweglichkeit zu dem Priester hinüber. Ihr Antlitz war durch einen grauen Schleier verhüllt; dennoch glaubte Innocenz ihre Augen darunter hervorglühen zu sehen, und es war ihm, als hafteten sie regungslos an den seinen.
Was sie hierhergeführt haben konnte, begriff er nicht. Wenn sie der heiligen Handlung beiwohnen wollte – Pater Pius las jeden Morgen die Messe in der Privatkapelle von Schloß Peutelstein, und sie brauchte nicht nach St. Ulrich zu kommen, um etwa diesen Teil des katholischen Gottesdienstes kennenzulernen. Auch hatte es nicht den Anschein, als fühle sie sich durch das, was sie sah und hörte, zur Andacht und Einkehr bestimmt. Weshalb ging sie also nicht wieder? Es verwirrte den Mönch, sie dort so einsam knien zu sehen, während sie hocherhobenen Hauptes die Blicke nicht von ihm abließ. Er fühlte, wie ihm eine flammende Röte über Stirn und Wangen hinlief, ein paarmal stockte er in seinem Texte. Als das »Iste missa est« endlich gesprochen war, fiel es ihm wie eine Last von der Brust. Er wankte in die Sakristei zurück, aber nicht, ohne unter der Tür derselben noch einmal nach Donata zurückzublicken, die noch immer auf ihrem Platze kniete.
Als er sich umgekleidet hatte und in das Pfarrhaus hinübergehen wollte, zögerte er auf der Schwelle der Sakristei. Es war ihm, als müsse Donata jetzt kommen, und als habe sie sicherlich ein Anliegen an ihn, um dessentwillen sie heute die Messe in St. Ulrich besucht hatte. Aber sie zeigte sich nicht. Dann sah er sie aus dem Fenster seiner Kammer, wie sie hochaufgerichtet mit ihren raschen, elastischen Schritten den Weg nach Peutelstein verfolgte. Sie trug heute ein dunkles Gewand, das ihre stolze, königliche Gestalt nur noch mehr hervorhob, und ihr goldgelbes Nackenhaar schimmerte zu ihm herüber. Wie Innocenz sie unter dem grauen, schweren Regenhimmel, der heute die Zacken der Dolomiten dräuend verdeckte, dahinschreiten und ihre ragende Gestalt mehr und mehr sich verjüngen sah, bis die Ferne sie ihm vollends raubte, war es ihm, als schwände so langsam die Freudigkeit seiner Jugend mit ihr dahin, und die ernsten, traurigen Jahre würden nun kommen.
Draußen sah es aus, als wollte die Sonne nimmer zurückkehren, und die farbenleuchtenden, phantastischen Zacken der Felsberge würden niemals mehr in das klare, vertiefte Blau sich emporrecken. Der strahlende Frühsommer war gegangen, der Spätsommer stand vor der Tür.
Innocenz trat in das Freie hinaus. Er widerstand seinem Gelüst, der Gräfin zu folgen und schritt zur Sägemühle hinüber. Anton Pyrker war nicht im Hause. Man berichtete ihm, er sei gestern nach Ampezzo hinuntergegangen, um bei der Bezirkshauptmannschaft dort einen Ausweisungsbefehl gegen den Windischen Sepp zu beantragen, der, weil er sich obdachlos und beschäftigungslos in der Gegend umhertreibe und den Leuten zum Ärgernis gereiche, von den Gendarmen aufgegriffen und über die Grenze gebracht werden solle; man sei des verkommenen Vagabunden hier überdrüssig geworden. Innocenz erwiderte nichts auf diesen Bericht eines der Mühlknechte, sondern ging schweigend zu der Sägemüllerin hinein.
Er fand sie auf einem Stuhl neben der Wiege ihres jüngsten Kindes sitzen, die sie hin und wieder mit einem Fußstoß in langsam schaukelnde Bewegung setzte. Sie tat das jedoch nur mechanisch, während ihre Finger im Schoße unablässig die Kugeln ihres Rosenkranzes drehten und ein seltsam starrer Ausdruck in ihren Zügen lag. Ihre Augen blickten vor sich hinaus, wie wenn sie in eine weite Ferne schauten und dort etwas gewahrten, was der Schauenden das Blut in den Adern gefrieren ließ. Ihr älteres Töchterchen spielte geräuschlos mit einer Puppe am Tische. Das Kind sah sehr verschüchtert aus und wagte offenbar nicht, einen Laut von sich zu geben.
Als Innocenz eintrat und die Sägemüllerin begrüßte, nickte ihm diese zu, ohne sich in ihrem unhörbaren Lippengemurmel zu unterbrechen. Dann, als er sich einen Stuhl neben den ihren gerückt hatte und fragte, wie es mit dem größeren Kinde stehe, das doch einige Zeit gekränkelt habe, sagte sie mit einem traurig-anklagenden Blick nach dem spielenden Mädchen hinüber: »Ja, denkt nur einmal, Hochwürden, die Kathi hat mir den Schmerz angetan und ist wieder besser 'worden. Die hat halt gar keine Lieb' zu ihrer Mutter und gar kein Mitleid. Jetzt hab' ich gemeint, sie wird bei der heiligen Mutter Gottes als Engel Fürbitt' für mich einlegen – denn ohne solch einen Engel als Fürsprech muß ich schon schlimm brennen im höllischen Feuer –, aber das Kind hat nicht gewollt. Ich mein' doch, ich hätt' als sein' Mutter ein Recht, es von ihm zu verlangen, und wenn's nur ein ganz klein bissel Lieb' zu mir hätt', müßt' sie's ja erbarmen, wie ich's schlecht hab'. Und was hat so ein Kind auf der Erden? Wieviel herrlicher ist's droben bei den anderen lieben Engelein im Paradiese! Ob man später noch dahinkommt, kann ja keiner wissen. Jetzt hat so ein glückliches Geschöpf Lust und Freuden dort im Überfluß. Weshalb will's denn nur nicht fort? Ich mein' halt, es wär' ein gutes Werk, und man tät' ihm selber was Liebes, wenn man's hinauf brächt'. Das arm' Würml ist ja noch zu dumm, um's zu begreifen, wie's ihm das beste wär', und was es damit nützen könnt'. Da muß man ihm schon helfen, mein' ich, dafür ist man sein' Mutter!«
Sie raunte das alles mit einer geheimnisvollen Stimme vor sich hin, immer nach dem Kinde hinüberblickend, das von den Worten nichts verstand, aber verängstigt vor sich hinschaute, während ihm helle Tropfen an den Wimpern blinkten.
»Ihr redet wirr und versündigt Euch schwer, Frau,« sagte Innocenz hart. »Da Gott Euer Kind nicht zu sich gerufen, sondern es wieder hat genesen lassen, hat er Euch gezeigt, daß Ihr nicht durch seine Fürbitte Buße erwirken könnt, sondern auf andere Art betätigen müßt, daß Ihr Eure schwere Vergehung bereut. Freut Euch, daß Euer Kind lebt, also ist's Gottes Wille! Aber denkt auch an Euer Seelenheil, Frau! Was wollt Ihr tun, um der ewigen Verdammnis zu entgehen? Habt Ihr Euch entschlossen?«
Die Sägemüllerin blickte stumpf vor sich hinaus. »Den Sepp werden sie fortjagen,« sagte sie endlich.
Innocenz machte eine ungeduldige Bewegung. »Was kommt's darauf an? Ihr seid seine Frau.«
»Zurück geh' ich halt nicht mehr zu ihm. Ich hab' die Kinder. Und rechtmäßig getraut bin ich auch mit dem Toni. Das kann mir keiner wieder fortnehmen. Aber die Sünd' bleibt bestehen, darin habt Ihr recht. Und die Sünd' muß abgebüßt werden, wenn ich nicht in aller Ewigkeit brennen soll. Und deshalb mein' ich eben, ohne einen Fürsprech wird's nicht gehen. Wenn also die Kathi nur wollt', – da müßt' die gnadenreiche Mutter Gottes ja doch sicherlich ein Einsehen haben.«
Sie fiel wieder ganz in ihre vorige, stumpfe Grübelei zurück und stierte teilnahmlos dabei vor sich nieder. Da stand Innocenz auf. Er sah ein, daß hier jedes Wort nutzlos verschwendet sei, machte das Zeichen des Kreuzes über die Sägemüllerin und sagte: »Möge der Herr Euch erleuchten, damit Ihr den Ausweg aus diesem Irrsal findet, in das Ihr geraten seid. Ehe Ihr nicht bereit seid, Buße zu tun, kann ich Euch auch nicht absolvieren, dessen bleibt eingedenk! Lebt wohl!«
Er ging und schritt draußen die Dorfgasse entlang, um den Bergen zuzuwandern. Das Knarren des schwerfällig sich drehenden Mühlrades scholl ihm noch eine Weile im Ohre nach, dann ward es still um ihn her. Pfadlos strich er durch die einsame Felsenwildnis. Manchmal, wenn ihn das Murren einer Nadelkrone oder der Flügelschlag eines aufgescheuchten Vogels in seiner Nähe aus seinem hindämmernden Sinnen riß, war es ihm, als höre er das Rauschen eines Frauengewandes, und ein Zittern lief ihm dann über den Leib hin. Einmal glaubte er auch Filomena zu sehen. Er meinte, sie stehe auf einem lärchenbewachsenen Hügel vor ihm und winke ihm und ihre Augen ruhten in tiefer Wehmut auf ihm. Dann war's ein im Winde sich schaukelndes Gesträuch, das ihn genarrt hatte. Aber eine mächtige Sehnsucht nach ihr überkam ihn plötzlich. Ja, bei ihr war Frieden und Glück. Weshalb ging er nicht zu ihr? Dann dachte er ihres letzten Beisammenseins am Pfaffenmarterl und schüttelte den Kopf. Um ihrer Ruhe willen war es besser, wenn er ihr fernblieb.
Der schwermütig-düstere Tag, der mit lautlosem Druck auf der Welt lagerte, stimmte den Wandrer immer trüber und trüber. Es lag wie eine finstere Ahnung auf seiner Brust. Und dennoch schritt er weiter, gleichwie einem Verhängnis entgegen. Plötzlich hörte er ein Geräusch, wie wenn Steine zerklopft würden, und einmal das dröhnende Herabrollen eines Felsblocks. Dann wieder klang es wie das Ächzen eines schwer arbeitenden, unter seiner Last keuchenden Menschen an sein Ohr.
Unwillkürlich lenkte Innocenz seine Schritte diesen Geräuschen nach, die in der einsamen Stille der Öde an sein Ohr trafen. Als er eine Weile gestiegen war, gewahrte er an einer Felsecke einen Mann, der sich emsig mühte, Steine zusammenzutragen, die er übereinander häufte. Er hatte dabei eine schwere Eisenhacke sowie einen schweren Steinhammer als Geräte mit sich und arbeitete in so angestrengtem Eifer, daß ihm der Schweiß in Strömen über das Gesicht floß.
Aus diesem Grunde hatte er auch die Annäherung des Mönches nicht bemerkt, und als dieser plötzlich nur wenige Schritte unterhalb seines Standpunktes auftauchte und erstaunt auf den Mann und sein Treiben blickte – um so erstaunter, als er in demselben den Hamerl erkannte –, stieß jener in seiner Betroffenheit einen wilden Fluch aus, ließ die eiserne Hacke klirrend zu Boden fallen, griff, einen Schritt rückwärts taumelnd, nach seiner Büchse, die gegen einen Felsblock gelehnt stand, riß sie an die Backe und hatte, auf Innocenz anlegend, schon den Finger am Hahn, als dieser, tödlich erschrocken, mit abwehrend vorgestreckter Hand ausrief: »Hamerl, seid Ihr toll!«
Der Mann ließ daraufhin die Büchse sinken, wurde todesbleich, lehnte sich in einem Anfall von Schwindel gegen die Bergwand, schloß die Augen und atmete mit schwer arbeitender Brust wie ein Ertrinkender. Dann raffte er sich jählings wieder auf, griff mechanisch nach seiner Hacke und warf dem Mönch einen halb scheuen, halb ingrimmig verbissenen Blick zu. »Gelobt sei Jesus Christus!« murmelte er und schlug die Spitzhacke schwer in den Boden, um einen Stein weiter herauszuarbeiten, den er offenbar auf die schon zusammengehäuften schichten wollte.
»In Ewigkeit, Amen!« ergänzte stotternd der Mönch, der sich von seinem Schreck noch nicht erholt hatte. »Seid Ihr von bösen Geistern besessen, Abraham Hirzer?«
Der Hamerl schlug drein, daß die Funken sprühten. »Mich hat's genarrt,« brachte er stoßweise dazwischen heraus, »hab' gemeint, ein Wilderer wär's und wollt' mich beschleichen wie einen Hirsch. Was weiß ich? Streift schlimmes Gesindel da heroben um in den Bergen. Auf einen Mord kommt's so einem nicht an, wenn die Gelegenheit sich gibt. Da wehrt man sich schon lieber.«
Er sah den Mönch bei seinen Worten nicht an, und dieser fragte verständnislos: »Wer sollt' Euch denn nach dem Leben trachten? Ein Wilderer? Und warum? Was hätt' ein Wilderer mit Euch zu schaffen?«
»Könnt' halt meinen, ich würd' zum Angeber werden,« brummte der Hamerl.
»Was treibt Ihr denn da eigentlich?«
»Seht Ihr's nicht? Ein Steinmannl richt' ich auf.«
»Hier?« Innocenz blickte um sich. »Warum?«
»Zum Joch hinauf,« erwiderte der Großknecht und wies mit der Linken lässig in die Höhe.
»Wie kommt denn gerad' Ihr dazu?«
Der Hamerl machte eine ungeduldige Gebärde und riß wütend mit der Hacke an dem Stein, der sich aus dem harten Felsboden nicht lösen wollte. »Wie Ihr fragt! Einer muß es doch tun!«
Innocenz schwieg. Er sah kopfschüttelnd in die Höhe – der Weg zum Joche hinauf war hier wohl nicht zu verfehlen. Dazu das verstörte Wesen des Hamerl, seine Furcht vor einem Angreifer, gegen den er sich verteidigen müsse, seine sonderbare Beschäftigung hier in der Gebirgsöde, während der Sägemüller von St. Ulrich entfernt war, all das begriff er nicht. Unwillkürlich brachte er es mit seinem Erlebnis von gestern abend zusammen, wo der Hamerl in der beginnenden Finsternis in fluchtähnlichem Lauf an ihm vorübergestürzt war, ohne ihn zu sehen. Kein Zweifel, der Hamerl, der durch seine Frömmigkeit auf der Lahn berühmt war und allen zum Muster aufgestellt wurde, den man wegen seiner unnachgiebigen Strenge und um eines finster-fanatischen Zuges willen in seinem Wesen fürchtete, der Hamerl hatte irgendein heimliches Gewerbe. Aber Innocenz ahnte trotz allem Nachdenken nicht, worin dasselbe bestehen mochte. War er etwa selber unter die Wildschützen gegangen, von denen er in so scharfen Ausdrücken redete, und die er zu fürchten vorgab? Eine Heuchelei war hier sicherlich im Spiele, und Innocenz beschloß, den scheinheiligen Gesellen wenigstens spüren zu lassen, daß man ihn durchschaute.
»Seid denn Ihr auch ein Freund vom Jagen, Hamerl?« fragte er, während der Großknecht in ungeschwächtem Eifer fortarbeitete.
»Ich? Kein' Red' davon. Weil ich den Stutzen da bei mir hab', meint Ihr? Ich sagt' Euch ja schon: man muß vor dem Gesindel, das sich hier umtreibt, auf der Hut sein. Denen ist kein Menschenleben heilig. Sind viele Welsche und auch einige Windische unter den Wildschützen; das sind Kerle, die Tod und Teufel nicht scheuen.«
Er fing jetzt an, einen gemütlich-vertraulichen Ton anzuschlagen, als wenn er den früheren Eindruck verwischen wolle, den sein aufgeregt-dreinfahrendes Wesen gemacht haben mußte, warf aber dabei hin und wieder einen lauernden Seitenblick auf den Mönch, während er den schweren Steinhammer wuchtig niederdröhnen ließ. Innocenz ließ sich dadurch jedoch nicht irremachen. »Gestern abend waret Ihr wohl auf der Flucht vor solch einem Wilderer?« fragte er, dem Großknecht scharf ins Gesicht spähend.
Der Hamerl erblaßte sichtlich. Er hätte den Steinhammer fast niederfallen lassen, so zitterten ihm die Finger sekundenlang, bis er sich mit einem gemurmelten Fluch wieder aufraffte und ihn hoch emporschwang. Nun aber sah es aus, als wollte er ihn zerschmetternd mit einem furchtbaren Schlage auf den Mönch niedersausen lassen, so wild rollten seine tiefliegenden Augen in den Höhlen, und Innocenz wich unwillkürlich einen Schritt zurück. Dann schrie der Hamerl plötzlich: »Ja, auf der Flucht war ich vor solch einem. Habt Ihr mich gesehen?«
»Ich hab' Euch gesehen.«
Wieder fuhr der Hammer dröhnend nieder, daß die Steinsplitter umherstoben. »Wißt Ihr auch, wer es war?« schrie der Hamerl dann plötzlich und blieb, auf den Hammerstiel mit beiden Händen gestützt, stehen, um dem Mönch herausfordernd gerade ins Gesicht zu stieren.
»Nun?«
»Der Windische Sepp war's!« schrie der Hamerl, als gelte es, das aller Welt bekanntzumachen.
»Der hat Euch verfolgt? Warum? Wildert der auch?«
»Mag schon sein. Wovon lebt er sonst in der Wildnis? Ist ja ohne einen Kreuzer in der Taschen von Amerika heimkommen. Und der Sägemüller gibt ihm nichts mehr. Wär' doch alles vergeblich, sagt er. Solch ein Haderlump hält ja nicht Wort. So einer schlägt Gut und Blut gar gering an. Und mich haßt er wie seinen ärgsten Feind, weil ich auf des Sägemüllers Seite steh', und weil ich der Sägemüllerin zug'red't hab', sie soll den Schuft heimschicken und ihm nicht zum zweiten Male G'hör geben, und ich wollt' dafür sorgen, daß er bald auf den Weg käm', sie sollt' mich nur rufen, wenn er wieder da wär'. Das trägt er mir nach.«
Der Hamerl wurde plötzlich ganz redselig. Es hörte sich an, als suchte er selber mit aller Anstrengung nach den Gründen, die es glaubhaft erscheinen lassen mußten, daß der Windische Sepp sein Todfeind sei und ihm nach dem Leben trachte. Aber Innocenz fragte ungläubig: »Seid Ihr denn einer von denen, die davonlaufen, wenn ihnen ein Feind begegnet, Hamerl? Das sieht Euresgleichen hierzulande nicht ähnlich. Und daß Ihr vorher gleich die Büchse anlegtet und gestern auch mit der Büchse bewaffnet wart, als ich Euch sah, läßt mich nicht gerade darauf schließen.«
»Ich hab' ihn nicht wollen zum Mörder werden lassen,« murmelte der Großknecht, der selber einzusehen schien, daß er in die Enge getrieben worden war.
»Der Windische Sepp wird ja nun unschädlich gemacht,« sagte Innocenz nach einer Weile bitteren Tones.
»Von wem? Wer sagt das?« schrie der Hamerl auf.
»Der Sägemüller will ihn ja ausweisen lassen.«
»Ah, so, so. Hm! Gott Lob! Ja! Wenn sie den Haderlumpen nur auch finden!«
»Weshalb sollten sie ihn denn nicht finden?«
»Der weiß sich schon zu verstecken, der schlaue Spitzbub'! Hat hier allerlei Höhlen im Gefels', wo er nächtigt, wie ein wildes Tier. Und wie ein wildes Tier ist er ja auch eingebrochen in die Sägmühle. Wie ein wildes Tier sollt' man ihn niederschießen dürfen.«
»Hamerl, Ihr versündigt Euch!«
»Glaub's nicht, Hochwürden. Den niederschießen, wär' ein gutes Werk. Habt Ihr die Sägmüllerin gesehen? Wie närrisch ist sie 'worden. Ein Jammer ist's, das arm' Weib anzusehen. Der Sägmüllerin zur Lieb' – Ihr müßt wissen, ich hab' eine große Lieb' zur Sägmüllerin – und dem Hausfrieden zu Lieb' – und – ich wollt darauf schwören, Hochwürden, die heilige Jungfrau würd's nicht als eine Todsünde nehmen.« Er blickte den Mönch mit einem schrägen Blick an und fügte dann achselzuckend rasch hinzu: »Ist freilich schon besser, sie bringen ihn über die Grenze. Wann er nur nicht doch wiederkommt!«
Innocenz konnte einen plötzlich in ihm aufsteigenden furchtbaren Verdacht nicht ganz in sich niederkämpfen. »Hamerl,« sagte er mit schreckhaftem Ernst, »vielleicht habt Ihr mir im Beichtstuhl zu sagen, weshalb Ihr geflohen seid und wovor. Ihr seid ein gottesfürchtiger Christ, Hamerl, und wißt, daß Gott alles sieht, und man nichts vor ihm verbergen kann.«
»Ich?« Der Großknecht richtete sich hoch auf und schüttelte jetzt mit einem zornig-wilden Ausdruck den Kopf. »Ich? Ich hab' Euch nichts zu beichten, Hochwürden, gar nichts.« Und damit wandte er sich trotzig wieder seiner Tätigkeit zu. »Nur viel' Stein' schichten, viel' Stein' schichten,« murmelte er, und wuchtig dröhnte sein Hammer nieder. Um den Mönch kümmerte er sich nicht mehr.
Da ging Innocenz in schweren Gedanken talab.
Er war es gewöhnt, einen einfachen Imbiß mit sich zu nehmen, wenn er jetzt des Morgens in das Gebirge zog, und kam selten mehr mittags in das Pfarrhaus zurück. So dachte er auch heute nicht an den Heimgang, sondern setzte sich auf einem moosigen Felsblock am Wege nieder, um zu essen, was er bei sich führte. Dann erinnerte er sich daran, daß er den Alpenrosenstrauß für Ronald, nach dem Donata und er gestern gewandert waren, und den sie dann doch nicht mit heimgebracht hatten, heute pflücken könne. Er fand nach einigem Suchen auch wirklich in einer Schlucht noch Alpenrosen, aber das Unwetter des gestrigen Tages hatte sie arg zerschlagen, und fast alle Blüten waren vernichtet. Dennoch gelang es ihm endlich, einen kleinen Strauß zusammenzubringen, und mit ihm in der Hand schlug er nun den Weg nach Schloß Peutelstein ein.
Ein leiser Regen begann von dem düster-schweren Wolkenhimmel niederzusprühen, als Innocenz durch die verschleierte Bergwelt auf dasselbe zuschritt. Niemals war es ihm so finster drohend erschienen wie heute, wo es wie eine trotzige Zwingburg aus lange verschollenen Zeiten inmitten der nebelumbrauten Felsriesen vor ihm aufragte. Er konnte sich eines leisen Schauers nicht erwehren, als er durch das Portal trat, und die kalte Luft des hohen, gewölbten Steinkorridors ihn anwehte.
Innocenz fiel es auf, daß Hektor ihn heute nicht wie sonst mit freudigem Gebell begrüßte, sondern, ohne sich von seinem Platz vor einer der Türen des Untergeschosses zu erheben, nur mit dem Schwanze wedelte und den großen Kopf aufhob, um den Ankömmling mit seinen klugen, treuen Augen anzublicken. Es lag unzweifelhaft etwas Trauriges in diesem Blick. Auch der Diener, der den Mönch empfing, sah betreten aus. Er wisse nicht, ob die gnädige Gräfin den hochwürdigen Herrn werde empfangen wollen, sagte er mit zögernder Verlegenheit, dagegen wolle er sofort die Frau Gräfin-Mutter benachrichtigen, die schon nach ihm gefragt habe.
Inzwischen führte er Innocenz in das nämliche Gemach, in welchem dieser bei seinem ersten Besuch im Schlosse geweilt, das er seither aber nicht mehr betreten hatte. Wieder grüßte ihn das Meisterwerk des großen Venezianers von der Wand, und eine Fülle von Schönheit und Farbenfreudigkeit strömte ihm sieghaft daraus entgegen. Heute aber fand sie ihn nicht mehr so ungewappnet wie damals. Er war inzwischen in das Verhältnis eines bewundernden Jüngers zu dem Unerreichbaren getreten, dessen leuchtenden Geheimnissen er verständnisvoll nachspürte, er hatte in Büchern über sein Leben und Wirken gelesen, er ließ den Zauber seiner Kunst bewußter auf sich Einfluß üben. Heute und hier mußte er auch wieder alles dessen gedenken, was ihm Donata über die verschiedenen Deutungen, die diese Allegorie gefunden, gesagt hatte. Für sie selber war die Lösung eine einfache gewesen. Für sie sprach jenes berückend schöne Weib dort zu dem anderen: »Da liegt das blühende, herrliche Leben vor uns! Weshalb zauderst du und bangst und härmst dich und willst dich von der Welt abwenden, als ob das Gott wohlgefällig sein könne, da doch er selber sie so schön geschaffen? Komm und genieße, und danke Gott dadurch, daß du dich in seiner Welt freust. Sie blüht und lacht auch für dich wie für alle!« Und Donata hatte dieser Erklärung hinzugefügt: »In Bilder, wie überhaupt in alle Kunstwerke soll man nicht viel hineingeheimnissen wollen. Die bedürfen keiner gelehrten Interpreten und Kommentatoren. Ein echtes, großes Kunstwerk redet in gleichverständlicher Sprache zu jedermann, auch zu dem schlichtesten und einfachsten Gemüt.« Sie hatte damals rasch abgebrochen, als ob es ihr schon leid tue, soviel gesagt zu haben, und hatte ihm einen Blick zugeworfen, wie wenn sie fürchte, er könne ihre deutenden Worte auf sich selber bezogen haben, während sie doch offenbar seiner Person und seines Gewandes dabei in keiner Weise gedacht hatte.
Auch er hatte erst bei diesem Blick selbst begriffen, daß nach ihrer Erklärung jenes Bild ja eine lächelnde Verdammung der Weltflüchtigkeit verkündigen sollte, zu der er sich entschlossen hatte. Entschlossen? Man hatte ihn freilich nicht danach gefragt, hatte ihm freilich keine Wahl gelassen. Die lockende Stimme jenes schönen Weibes dort war an sein Ohr niemals geklungen, ehe er dies Gewand angetan, das ihn nun von dem blühenden Leben da draußen ausschloß.
Wieder wie damals bei des Mönches erstem Besuche auf Schloß Peutelstein, hatte er in seiner Versunkenheit vor dem Bilde der »himmlischen und irdischen Liebe« das Öffnen der Tür überhört, durch welche Gräfin Theodora eingetreten war, und wieder, wie damals, zuckte die Eintretende leicht zusammen, als sie in der dämmerigen Beleuchtung des Gemaches plötzlich das scharfgeschnittene, von dem dunklen Haar eingerahmte Profil des Mönches vor sich auftauchen sah. »Seien Sie willkommen, Bruder Innocenz!«
Der Mönch wandte sich rasch nach ihr um und ergriff ihre Hand, um sich darüberzubeugen. Er konnte es nicht verhindern, daß ihm heiße Röte dabei in die Wangen geschossen war. »Sie haben mich zu sprechen gewünscht, gnädigste Gräfin?« fragte er hastig.
Sie deutete auf einen Sessel, nahm selber Platz und sagte, ohne ihre Augen von ihm abzulassen, die scharf und düster brannten: »Ja. Wissen Sie, was inzwischen hier vorgefallen ist?«
Innocenz verneinte.
»Das Kind ist schwer erkrankt. Es war gestern schon leidend, hat die Nacht stark gefiebert, und heute – während Gräfin Donata fort war, ist die Wärterin unachtsam gewesen, das Kind ist erwacht, als sie es im festen Schlaf glaubte und davongegangen war, ist in seiner Fieberhitze unruhig aufgesprungen, hat das Fenster aufgerissen, um sich Kühlung zu verschaffen – kurz: es steht nicht gut seitdem. Man hat schon gestern abend nach Ampezzo hinuntergesandt, um einen Arzt heraufzuholen, aber er kann vor heute nachmittag natürlich nicht hier sein, vorausgesetzt, daß man ihn überhaupt angetroffen hat. Sie können sich den Gemütszustand meiner Schwiegertochter nun ungefähr vorstellen, Bruder Innocenz. Dies Kind war ihr alles.«
»War?« Es war das einzige Wort, das Innocenz in heftiger Erregung hervorstoßen konnte.
»Ist,« erwiderte die Gräfin achselzuckend. »Ich habe aber keinen Grund, Ihnen ein Geheimnis daraus zu machen, daß ich nicht glaube, das Kind werde den Fieberanfall überstehen.«
Sie sagte auch das in dem gleichen, harten, metallosen Ton wie alles übrige. Nicht die leiseste Bewegung zitterte darin.
»O mein Gott!« rief Innocenz in starker Erschütterung aus, die krampfhaft zuckenden Hände vor seine Augen schlagend, »sollte ihr dies Furchtbare auferlegt werden?«
Gräfin Theodora blieb völlig ungerührt, nicht eine Muskel in ihren starren Zügen hatte sich geregt. Mit ihrer hohen Gestalt, in der geraden, aufrechten Haltung, dem dunkel in weichen Falten an ihr herabfließenden Kleide und dem schlichten, grauen Scheitel unter der schwarzen Spitzenhaube, die Hände im Schoß übereinandergelegt, saß sie da wie eine Steinfigur, und als sei alles menschliche Empfinden längst in ihr erstorben. »Gottes Wege sind wunderbar,« sagte sie nach einer kleinen Pause, ohne daß auch nur die Augen inzwischen die leiseste Veränderung angenommen hätten. »Weshalb sollten wir nicht glauben können, daß er die Gräfin Donata durch die Finsternis dieses Seelenschmerzes zu dem Lichte seiner Erkenntnis führen will. Gottes Wille sei gepriesen!«
Innocenz konnte sich eines gelinden Grauens nicht ganz erwehren, als er die Sprecherin dies so ruhig und kalt sagen hörte, als handle es sich um Menschen, die sie nie gesehen oder gekannt. Er hatte Mühe, sich zu fassen und an sich zu halten. »Würde das Furchtbare – wenn es der Gräfin Donata wirklich auferlegt werden sollte – nicht vielleicht gerade dazu führen, ihr Herz zu verhärten und vollends von Gott abzuwenden, der ihr so Schweres zu tragen gibt?«
Gräfin Theodora schüttelte leise den Kopf. »Nein, nein, auf die Gräfin Donata wird der Schmerz läuternd wirken. Sie wird der Weltlust entsagen, von der ihre Seele bis heute noch erfüllt war. Sie wird lernen, auf ein Wiedersehen mit ihrem Kinde zu hoffen, sie wird sich an diese Hoffnung anklammern wie an ihren letzten und einzigen Halt, ohne den sie verzweifeln würde und zugrundegehen müßte. In der Hoffnung auf dieses Wiedersehen wird sie Einkehr bei sich halten, und weil sie den Glauben ihres Kindes nicht geteilt hat, sich nunmehr zu ihm bekehren. Ich bin gewiß, daß Gott dies alles gewollt hat, um uns an das heißersehnte Ziel zu geleiten, das wir aus eigener Kraft niemals würden erreicht haben. Sein Name sei gebenedeit in aller Ewigkeit!« Sie schlug ein Kreuz und verneigte sich demütig »Endlich! Endlich!« murmelte sie hinterdrein wie zu sich selber.
Dann stand sie auf, und während auch der Mönch sich erhob, der sie bisher schweigend, mit völlig entgeistertem Ausdruck betrachtet hatte, sagte sie: »Es wird nun an Ihnen sein, diesen Zeitpunkt zu nützen. Bruder Innocenz.«
Da raffte er sich auf und über seine Lippen kam es: »Ich hoffe und bete, Frau Gräfin, daß der Zeitpunkt, von dem Sie sprechen, nicht kommen möge, daß Gräfin Donatas Bekehrung, wenn sie in Gottes Willen steht, in einem anderen Grunde ankern möge! Es wäre hart, wenn es anders sein müßte.«
Sie sah ihn mit einem kurzen, herrischen Aufblitzen in ihren grauen Augen an, halb verächtlich, halb verweisend. »Und ich – ich werde beten, daß der Zeitpunkt komme, Bruder Innocenz! Denn um solchen Preis ist kein Opfer zu groß – keines, keines auf Erden. Was wiegen Menschenleben gegenüber der Rettung einer verlorenen Seele? Und nun gar das Leben eines Kindes, das begnadet werden soll, so frühzeitig in die Herrlichkeiten des Paradieses einzugehen! Gottes Wege sind wunderbar, und wo sie uns am dunkelsten erscheinen, da führen sie am hellsten zum Ziel. Nie hat sich das mir klarer geoffenbart als hier. Und nun kommen Sie! Ich will sehen, ob die Gräfin Sie empfangen mag.«
Innocenz schwieg. Er griff nach dem kleinen Alpenrosenstrauß, den er vorher auf den Marmortisch niedergelegt hatte, und wollte der Gräfin folgen. Da wandte sich diese plötzlich unter der Tür noch einmal nach ihm zurück und fragte völlig unvermittelt: »Woher stammen Sie, Bruder Innocenz?«
»Ich weiß es nicht, Gräfin.«
»Sie wissen es nicht?«
»Nein. Ich bin als Kind in das Kloster gebracht worden und habe niemals Eltern oder Angehörige gekannt, auch niemals etwas von ihnen vernommen. Ich glaube aber, daß ich aus einem Alpendorf unter den Dolomiten stamme, und daß ich ein früh verwaistes, wenn nicht überhaupt ein vaterloses Kind bin.«
Sie hatte die Tür hastig aufgerissen und war ihm voran hinausgegangen, ohne noch weiter ein Wort an ihn zu richten. Stumm folgte er ihr.
Sie betraten ein anderes, ebenerdig gelegenes Gemach, an dessen in ein Nebenzimmer führende Tür die Gräfin-Mutter jetzt leise pochte, um nach einer Weile sie halb zu öffnen und gedämpften Tones hinüberzusprechen. Danach schloß sie die Tür wieder, trat in das Gemach zurück und sagte: »Das Kind schläft jetzt. Gräfin Donata wird gleich hier sein.« Sie schritt an das Fenster und starrte, den Kopf an die Scheiben lehnend, stumm in den trüben Tag hinaus.
Innocenz stand mit auf dem Rücken gekreuzten Händen in schmerzlichem Sinnen neben dem Tische, auf den er seine Blumen niedergelegt hatte. Es war eine Zeitlang so still in dem Raum, daß man die Atemzüge der beiden Menschen hätte vernehmen können.
Dann ging die Tür geräuschlos wieder auf, und Donata trat ein. Sie ließ die Tür hinter sich offen, so daß Innocenz von seinem Platze aus das nebenan befindliche Schlafzimmer des Kindes zum Teil übersehen konnte; er gewahrte auch das kleine Bett desselben und zwischen den weißen, spitzenbesetzten Kissen einen hellen Lockenkopf. Donata sah todesblaß aus, aber sie war ruhig und gefaßt. Sie trug das dunkle Kleid, in dem er sie heute morgen in der Messe gesehen hatte, eine weiße Spitzenkrause am Halse; ihre Erscheinung wurde dadurch so ernst und feierlich wie niemals vorher.
Innocenz ging ihr entgegen, um ihr die Hand zu bieten, und sie grüßte ihn mit einem stummen Nicken. Dann sagte sie halblaut, zu Gräfin Theodora gewandt, die sich langsam nach ihr umgedreht hatte: »Da ich mich auf niemand mehr verlassen kann, muß die Tür zu Ronald offen bleiben; er schläft jetzt, aber es ist nur ein Schlaf völliger Ermattung, und jeden Augenblick kann er erwachen. Dann muß ich da sein.«
Es klang nicht bitter, aber doch hart und entschieden. Gräfin Theodora zuckte die Achseln. »Der alten Mirz einen Vorwurf wegen dessen, was heute morgen geschehen ist, zu machen, ist ungerecht,« erwiderte sie mit dem gleichen gedämpften Ton, der in dem mit weichen Teppichen und dicken Samtportieren ausgestatteten Gemach seltsam verklang. »Sie müßten in erster Linie dann ja einen Vorwurf gegen sich selber erheben, da Sie fortgingen, während Ronald doch schon unwohl war. Sie sehen, wohin es führt, wenn man Dinge, die nicht vorherzusehen waren, einer bestimmten Persönlichkeit zur Schuld anrechnen will.«
Die Worte der Sprecherin hatten den nämlichen, gereizten Ton, in dem nun auch Donata ihr entgegnete, und der in jeder Unterhaltung zwischen diesen beiden Frauen hervorzubrechen schien. »Sie vergessen, daß es ein sehr frommer Zweck war, der mich heute morgen fortführte. Es kann doch nicht Gottes Wille gewesen sein, mich dafür zu bestrafen!« Sie lachte kurz und spöttisch auf. Dann setzte sie hinzu: »Es ist aber vielleicht Gottes Wille gewesen, daß die Wärterin solange von Ihnen aufgehalten wurde, obgleich sie das Kind, das bei ihrem Fortgehen noch geschlafen hatte, schon seit einer Weile laut singen hörte, was doch sicherlich seinen Gewohnheiten wenig entsprach und sie aufmerksam und ängstlich machen mußte. Ihr Gott offenbart sich eben in mancherlei seltsamen Willensäußerungen!«
Innocenz sah erschrocken bei diesen Worten zu der Gräfin-Mutter hinüber, aus deren Augen ein zorniger Blitz hervorgebrochen war, während ihre Lippen sich fest aufeinanderpreßten. Er erwartete einen furchtbaren Ausbruch, aber er täuschte sich. Gräfin Theodora zuckte nur verächtlich die Achseln. »Ich darf Ihnen in Ihrem heutigen Schmerze manches zugute halten, liebe Donata,« sagte sie fast mild. »Um Sie aber nicht zu weiteren Äußerungen hinzureißen, die Ihnen Grund zur Reue bieten würden, will ich Sie jetzt lieber verlassen. Pater Innocenz wird an meiner Statt wohl die Verteidigung meines Gottes zu übernehmen bereit sein!«
Sie verneigte sich bei den letzten, mit einem humoristischen Anflug gesprochenen Worten leicht gegen den Mönch und rauschte zur Tür hinaus.
Donata atmete ein paarmal aus gepreßter Brust auf, wie wenn sie sich von einem Alp befreit fühle, aber der ruhig-finstere Zug in ihrem Gesicht wich nicht. Ohne den Mönch anzusehen, wie in die leere Luft hinausstarrend, sagte sie abgebrochen und tonlos: »Ich war heute morgen in der Messe – in Ihrer Messe. Ich wollte für mein Kind beten. Als ich es heute in der Frühe ruhig schlafend verließ, durft' ich glauben, ich könne es wagen, von ihm zu gehen. Die alte Wärterin ist sonst verläßlich gewesen. Gestern abend bei meiner Rückkehr hatte ich mich schwer um Ronald geängstigt. Er war um meinetwillen in Sorge gewesen, weil er mich bei dem furchtbaren Unwetter draußen gewußt hatte. Das Kind liebt mich so zärtlich. Ich fand ihn mit heißem Kopf und fiebernd vor Erregung vor. Die ganze Nacht saß ich dann an seinem Bette auf und hatte große Mühe, ihn endlich zur Ruhe zu sprechen. Nach dem Arzte hätt' ich gleich gesandt, aber ich wußte ja auch, daß er kaum eher als nach vierundzwanzig Stunden hier sein könne. Wie das meine Angst steigerte, wie ich mich immer mehr in eine zornige Empörung gegen die hineinredete, die mein kränkliches Kind hierhergebracht hatten, wo es von aller menschlichen Hilfe so völlig abgeschnitten war, mögen Sie sich selber vorstellen. Aber noch etwas anderes stieg in mir auf. In dieser Nacht der Sorgen, wo es mir mit furchtbarer Ahnung in der Seele aufblitzte: Du wirst ihn verlieren, – hier und jetzt verlieren! kam mir auch jählings der Gedanke: erbitte sein Leben von dem Gott, zu dem man dich bekehren will! Nimm's als Zeichen! Wenn er dich erhört, so demütige dich und bekenne dich zu ihm, – erflehe dies teuerste Dasein, das so schwer gefährdet ist, von seiner Gnade, damit er sich dir offenbare! Das dacht' ich und deshalb ging ich. Es war Ihr Gott, zu dem ich um mein Kind gebetet habe, Pater Innocenz. Und während ich fern war, um es zu tun, – geschah das Furchtbare. Ihr Gott hat mir das Zeichen gegeben, um das ich ihn gebeten!«
Sie hatte alles Frühere mit fast geisterhaft leiser Stimme vor sich hingesprochen, nur die letzten Worte kamen wie ein schmerzvoll bitteres Aufschluchzen über ihre Lippen. Nun warf sie sich in einen Sessel, die weißen Hände im Schoße zusammengefaltet, das Haupt gesenkt. Noch nicht ein einziges Mal hatte sie ihn angesehen. Und er stand unbeweglich an seinem Platze, völlige Ratlosigkeit und bange Teilnahme in seinen Mienen. Dennoch zwang er sich, zu sagen: »Weshalb verzagen Sie denn schon, Gräfin? Der Gott, den Sie meinen Gott nennen, und der doch aller Menschen Gott ist, ist stark. Er kann Wunder tun. Gestern hat er es Ihnen bewiesen. Daß wir lebend und unversehrt den brennenden Wald durchschreiten durften, war ein Wunder.«
Sie antwortete nicht und regte sich nicht. »Frau Gräfin,« setzte er leiser hinzu, »ich will mit Ihnen beten um dieses Kindes Leben. Gott kann uns erhören. Aber das, was Sie getan haben, war nicht die Handlungsweise eines frommen Herzens. Es hieß, Gott auf die Probe stellen. Gott läßt seiner nicht spotten. Seine Wege sind nicht unsere Wege, steht in der Heiligen Schrift, und seine Gedanken sind nicht unsere Gedanken; aber so hoch der Himmel über der Erde ist, so hoch sind seine Wege über unseren Gedanken. Auch wenn Gott Ihnen Ihr Kind nehmen sollte, Gräfin Donata, er ist deshalb doch der Allmächtige und Allgütige, und Sie müßten ihn zerbrochenen Herzens im Staube anbeten.«
Sie gab kein Zeichen von sich, das ihn darüber aufgeklärt hätte, sie habe ihn gehört und verstanden. Wie geistesabwesend stierte sie vor sich hin. »Vielleicht ist es eine Strafe dafür!« murmelte sie tonlos, »dafür!« Dann stand sie plötzlich wieder auf, wie nach Atem ringend, machte ein paar verlorene Schritte durch das Gemach, warf einen Blick durch die Tür auf das Bett ihres Kindes hinüber und wandte sich dann wieder mit einer jähen Wendung zu Innocenz zurück. Ein zerknittertes Blatt aus der Tasche ziehend, das sie ihm reichte, sagte sie: »Lesen Sie! Ich erzählte Ihnen gestern, daß ich an den Vater meines Kindes geschrieben. Da ist seine Antwort!«
Innocenz las. Das Telegramm mit dem Aufgabestempel Ischl enthielt die Zeilen: »Selbst kommen unmöglich. Konsultierung des Ampezzaner Arztes nicht zu verbieten. Rückkehr des Kindes und Deine eigene nach Karditsch jetzt unmöglich, liegt aber in Deiner Hand. Überlasse alles weitere ganz Mama. Alexander.«
»Nun?« fragte Donata, als er ihr das Blatt zurückgab, und zum ersten Male trafen ihn ihre Augen, die zornig und wild blitzten. »Was sagen Sie nun? Hab' ich ihn verleumdet? Die Rückkehr liegt in meiner Hand. Verstehen Sie das? Wenn ich mich bekehren will, soll das heißen, darf ich mein krankes Kind, – das auch seines ist, – von hier fortbringen, wo es zugrunde geht, – sonst nicht. Ist das auch der Wille Ihres Gottes, Pater Innocenz? Fängt man so Menschenseelen?«
»Nein,« erwiderte er klanglos, »das ist Gewissenszwang.«
Sie schien es nicht zu hören. In heißer Erregung schritt sie hin und wider durch das Gemach, ihre Brust ging stürmisch auf und nieder. Plötzlich blieb sie hart vor ihm stehen, jetzt aber, ohne ihn anzublicken, und murmelte zwischen den Zähnen: »Ich habe einen Verdacht – einen furchtbaren Verdacht, Pater Innocenz. Wenn er sich bewahrheitete –!«
»Gräfin,« fiel er begütigend ein, »Sie sind jetzt in besinnungsloser Aufregung; ich bitte, ich beschwöre Sie, fassen Sie in diesem Zustande keine Entschlüsse, lassen Sie sich jetzt nicht von Ihren schwarzen Ahnungen beeinflussen. Ihr Unglück ist wahrlich groß genug, – zu groß schon, als daß es durch schreckliche Vermutungen noch künstlich müßte gesteigert werden!«
Sie nickte. »Sie haben recht, ganz recht,« murmelte sie. »Aber die alte Mirz sagte, die Gräfin-Mutter habe sie durchaus nicht fortlassen wollen, obgleich sie ihr wiederholt versichert, sie müsse nun gehen, denn sie höre den Kleinen schon, der sicherlich längst erwacht sei, und es könne ein Unglück geben, wenn sie nicht zur Stelle sei. ›Kinder haben ihren Engel,‹ hat die Gräfin erwidert, ›und nichts geschieht auf Erden ohne Gottes Willen!‹ Und als sie endlich zurückkam, fand sie das Kind in seinem Nachtkleidchen am offenen Fenster kauern und singen, – es sei ihm gar so heiß gewesen, aber nun sei es ihm wieder fröhlich zumute, so merkwürdig fröhlich, hat er gesagt. Und als ich selber wieder bei ihm war, fand ich ihn schon in Fieberdelirien. Er hat mich gar nicht mehr erkannt. Und nun sagen Sie mir selber, Pater Innocenz: war das ein Zufall? Hat die Gräfin-Mutter, der Graf Alexander so vertrauensvoll alles Weitere überläßt, wirklich nicht geahnt, nicht ahnen können, was es für Folgen haben würde, daß sie die Wärterin von dem Kinde fernhielt? Und war es ohne eine bestimmte Bedeutung gesagt, daß nichts auf Erden ohne Gottes Willen geschehe?«
Innocenz war leise zusammengeschauert. »Um Gotteswillen, Frau Gräfin, ich bitte Sie, welche furchtbaren Halluzinationen! Und die Wärterin kann überdies das alles erfunden haben, um ihre Schuld zu verringern, das liegt so nahe –«
Donata schüttelte den Kopf. »Die alte Mirz lügt nicht. Sie ist eine fromme Katholikin und dem gräflichen Hause ergeben in Not und Tod.«
»Und wenn auch –! Was dürften Sie daraus folgern, Frau Gräfin? Ich verstehe Sie nicht mehr.«
»Ich verstehe mich selber nicht mehr,« kam es wie ein Hauch über ihre Lippen. Und wieder sank sie wie gebrochen in einen Sessel, um stumpf vor sich hinzustarren.
»Beten Sie, Gräfin, beten Sie!« sagte er.
Sie erwiderte nichts mehr. Ein Pochen an der Tür ließ sich vernehmen, und Pater Pius schob sich gedrückt und ängstlich wie stets in das Zimmer. Der Doktor sei eben gekommen, meldete er atemlos, die Frau Gräfin habe ihn in ihren Salon genötigt, um ihm eine Erfrischung vorzusetzen, – es sei eben doch ein sehr anstrengender Weg, den er zurückgelegt habe, übrigens zu Pferde, – auch um ihn auf alles vorzubereiten, was hier geschehen sei, er könne aber jeden Augenblick hier sein, um das Kind zu sehen, denn er habe es sehr eilig und wolle möglichst vor der Nacht noch wieder in das Tal hinab, wo andere Kranke auf ihn warteten; vielleicht sei es der Gräfin doch angenehm, das alles gleich zu erfahren. Damit ging der kleine, alte Herr auf Innocenz zu, immer mit dem müde zur Seite hängenden Kopf und den demütigen, um Verzeihung flehenden Augen, schüttelte ihm beide Hände und murmelte, eine Träne an der Wimper, mit seinem zahnlosen Munde: »Welch ein Unglück, lieber Bruder, welch ein Unglück! Ich bin geschaffen, um lauter Unglück auf diesem Schlosse zu erleben, – lauter Unglück –«
Seine Stimme brach sich in einem Schluchzen. Donata aber hatte sich erhoben und sagte mit wieder ganz klarem und gepreßtem Ton: »Ich danke Ihnen, Pater Pius. Vielleicht wäre es besser gewesen, wenn der Doktor zuerst seiner Pflicht nachgekommen wäre und das Geschehene zuerst von mir gehört hätte. Wollen Sie ihm, bitte, sagen, daß ich ihn sogleich erwarte.«
Der greise Priester war noch kaum imstande, seine Fassung notdürftig zurückzugewinnen. Er trocknete sich die Augen mit einem bunten Seidentuche, nickte wiederholt mit einem halb erschrockenen, halb demütigen Ausdruck vor sich hin und murmelte: »Natürlich, sogleich, – ganz, wie Sie es befehlen, gnädige Gräfin. Oh, mein Gott!« wonach er sich unter tiefen Bücklingen rückwärts zur Tür hinausschob.
Donata sah, als er gegangen war, Innocenz scharf ins Gesicht. »Haben Sie es gehört, Pater Innocenz? Sie will ihn vorbereiten!« Der Mönch wollte etwas erwidern, aber sie ließ ihn nicht zu Worte kommen. »Wollen Sie bleiben?« fragte sie, und als er das bejahte: »Gut denn. Ich will die Tür offen lassen. Sie sollen alles hören, um alles beurteilen zu können. Und dann werde ich die Wahrheit von Ihnen verlangen, Pater Innocenz!«
Er nahm den Strauß Alpenrosen vom Tische und reichte ihn ihr. »Ich bin hier, und ich trage dies Gewand, um der Wahrheit zu dienen, Frau Gräfin,« sagte er festen Tones.
»Die Blumen sind für Ronald?« fragte sie mit einem freudigen Schimmer in den Augen.
»Ich habe sie für ihn gepflückt. Die meisten hatte das Unwetter freilich zerschlagen. Und gestern mußten wir unseren großen Strauß droben liegen lassen.«
Sie hatte sekundenlang ihr Antlitz in die Blumen vergraben. Nun hob sie es mit einem düster-schmerzlichen Ausdruck wieder. »Ich danke Ihnen. Möcht' ich die Blumen ihm nicht mit in die Erde geben müssen!«
Es kam nur wie ein Hauch über ihre Lippen, und gleichzeitig schien ihre Gestalt fast zusammenzubrechen unter der Wucht des darauf lastenden Schmerzensgedankens.
»Gräfin!« rief er erschrocken.
Da hatte sie sich schon wieder aufgerichtet und sah ihn mit großen, blitzenden Augen an. »Pater Innocenz,« sagte sie mit heiserer, drohender Stimme, »wenn ich das erleben müßte, – überleben müßte, und ich müßte mir sagen, daß es mehr war, als ein unglückseliges Zusammentreffen von Zufälligkeiten, was dies Furchtbare zuwege brachte, – daß es eine Kette war von absichtlich gewollten Dingen, und Glied sich darin an Glied schloß, – alles nur zur höheren Ehre Gottes, versteht sich! – Pater Innocenz, es könnte, es müßte mich treiben, Ungeheuerliches zu tun!«
Sie erschien ihm in diesem Moment wie verwandelt; ein unheimliches Feuer wildester Leidenschaft glühte in der Tiefe ihrer Augensterne auf, ihre feinen Nasenflügel erzitterten. Ehe er noch etwas erwidern konnte, hatte sie sich jedoch gewandt, um in das Zimmer des Kindes hinüberzugehen, und unmittelbar danach traten die Gräfin-Mutter, Pater Pius und der Arzt ein. Der letztere erregte eher den Eindruck eines alten Forstbeamten oder pensionierten Offiziers, als den eines Doktors der Heilkunde. Sein verwittertes und verrunzeltes Gesicht wurde durch einen dicken, schneeweißen Schnurrbart, der zu beiden Seiten des Mundes herabhing, gleichsam in zwei Hälften geteilt, von denen die untere aber wegen des zurückfliehenden Kinns kaum sichtbar wurde. Unter buschigen Brauen lagen gutmütige, braune, lustig funkelnde Augen. Der kleine, alte Herr, der sehr gern einen guten Tropfen trank und noch lieber Anekdoten erzählte, – er stammte aus der damals österreichischen Lombardei und war dort Feldarzt gewesen, trug eine grüne Joppe und schwere, eisenbeschlagene Bergschuhe nebst Kniehosen und Wadenstrümpfen. Dazu ließ er die linke Schulter erheblich herabsinken und erzählte mit Vorliebe, dies rühre davon her, daß er nur noch eine Lunge habe; er pflegte daraus zu folgern, daß man deren zwei überhaupt nicht brauche, und daß auch in den verzweifeltsten Krankheitsfällen im allgemeinen die Natur sich zu helfen wisse. Er war deshalb immer hoffnungsvoll und faßte eigentlich alles von der humoristischen Seite auf; ging es tragisch aus, so hatte es halt so sein müssen, – »sterben müssen wir ja alle.« Mit solchen Eigenschaften begabt, war er ein weit beliebter Arzt im ganzen Ampezzotal und darüber hinaus, immer bei der Hand, immer trostreich, immer gut gelaunt.
»Na, da wollen wir halt doch einmal das Büberl anschauen,« rief er beim Eintreten mit seiner stark belegten Stimme in gemütlichem Ton, mit prononcierter Dialektfärbung. »Küß' die Hand, Frau Gräfin! Wird wohl gar so arg nit sein mit dem Contino, wie? Rauhe Luft, kleine Erkältung, zartes Körperchen – he? – was? Wird wohl alles wieder in Ordnung kommen ohne Apothekergetränk'. Ganz im Vertrauen, Frau Gräfin; halt' nicht viel von dem Zeugs. Na, nun schauen wir doch einmal zu!«
Der Knabe war erwacht, warf sich unruhig im Bett umher und fragte leise weinend seine Mutter, die ihn an der Hand gefaßt hielt, was denn der fremde Mann von ihm wolle. Erst als Donata ihm gesagt hatte, das sei ein guter Mann, der ihn wieder gesund und lustig machen wolle, beruhigte er sich einigermaßen, klagte aber mit weinerlicher Stimme über seinen Kopf, der so brenne, und ließ ein mattes, röchelndes Husten dabei hören. Sein Gesicht glühte wie im Feuer und jeder Atemzug hatte einen deutlich vernehmbaren Pfeifton an sich.
Der Doktor untersuchte eine Weile, legte das Ohr an die Brust des Knaben, fühlte nach dem Pulse, tat noch ein paar Fragen und sagte dann: »Ganz, wie die Gräfin gemeint haben: eine Erkältung, eine recht starke Erkältung, hm, hm, man könnt' es wohl auch so eine Lungenentzündung nennen, optima forma, optima forma. Na, schauen's, das nimmt halt so einen Verlauf, und wenn's vorüber ist, ist der Mensch wieder gesund. Wenn man nur eine gute Natur hat –«
»Das Kind ist aber außerordentlich schwächlich, wie Sie sehen,« unterbrach Donata den gemütlich Plaudernden in ernst verweisendem Ton.
»Oh, oh, oh!« machte der Alte, »wie man's halt nimmt. Ist halt kein' Bauernbüberl, das da, ist so ein ganzes Prinzerl. Aber deshalb – deshalb – hoho! deshalb ist noch lange nichts zu fürchten. So ein gesundes, junges Blut. Hat ja kerngesunde Eltern. So einen Vater, so eine Mutter! Eine wahre Pracht ist's, – mach' mein Kompliment, Frau Gräfin! Für so eine gesunde Mutter kann das Büberl dankbar sein. Und wer eine gesunde Natur mit auf die Welt bekommen hat, der hält auch so eine Geschicht' aus, da hat's keine Gefahr. Schauen's mich selber an, Frau Gräfin. Hab' vor dreißig Jahren da a halbe Lung'n eing'büßt« – und er schlug sich mit der Faust auf die linke Brustwand – »meinen's, es hätt' mir was verschlag'n? Aber garnix, aber garnix, sag' ich Ihnen. Steig' heute noch meine zwölf Stunden bergauf, wann's so wollen. Und damals hätt' kein Mensch was um mein Leben 'geben. Sind dreißig Jahr', Frau Gräfin, dreißig Jahr'! Aber das macht halt, ich hab' ein' Vater g'habt, so ein' alten Militär, wissen's, aus der Napoleonszeit, wo's noch andere Menschen gab –«
Wiederum unterbrach ihn Donata in seinem Geplauder, zu dem er sich neben dem Kinderbette rittlings auf einem Sessel niedergelassen hatte, die beiden Arme auf die Lehne gestützt, mit der braunen, faltigen Hand seinen Schnurrbart behaglich zwirbelnd. »Es wäre sehr schön, wenn Sie uns von sich einmal später erzählen wollten, Herr Doktor. Jetzt möchte ich wissen, was mit dem Kinde zu geschehen hat. Ich denke, hier ist lange genug ärztliche Hilfe fern gewesen und jeder Aufschub derselben weiterhin von großer Gefahr.«
»Aber Sie hören ja, Donata,« fiel die Gräfin-Mutter, die mit über der Brust gekreuzten Armen abseits stand, kühl ablehnend ein, »Sie hören ja, daß Doktor Hubler die Sache durchaus nicht so ängstlich ansieht, wie Sie es sich einreden wollen.«
Donata entgegnete nichts darauf, sondern sagte kurz: »Ich bitte um Ihre Verordnungen, Herr Doktor.«
»Ja, schauen's, Frau Gräfin,« erwiderte der Alte, der sich in seinem gemütlichen Phlegma durch nichts erschüttern ließ, »schauen's, das ist nun halt so eine Sach'. Bis man so ein Apothekertränkel brauen und bis hierher heraufbringen läßt, da möcht' eine heillose Zeit vergehen. Und nachher nutzt's am End noch gar nicht einmal. Ist schon besser, man laßt's. Hab' da selber so a kleine Apotheken bei mir, – muß halt schon Doktor und Apotheker in einer Person sein, – und da machen wir dem Büberl halt was zurecht, – a bisserl was Lösendes, wissen's, für den Husten, und nachher auch a paar Tröpferl, die ihm Ruh' geben und die fliegende Hitz' wegnehmen, dann wird's schon recht werden. Immer nur hübsch das Köpferl oben behalten, Frau Gräfin, immer nur an die grundgütige Natur glauben, die macht's schon wieder gut. Und wenn's nicht sollt' sein, können ja wir Ärzt' auch nix dabei tun, aber garnix. Also, mein Büberl, sei brav und fürcht' dich nit. Bist ja so ein gut's, klein's Kerlchen, wird schon alles wieder recht werden, wird schon wieder recht werden –« Und er strich dem Kinde, das ängstlich die Hand seiner Mutter umklammert hielt, über die heiße Stirn und die brennenden Schläfen. Dann stand er auf. »Darf mich halt jetzt nicht mehr länger versäumen, Frau Gräfin; ist mir leid, aber man hat eben seine Last mit der Praxis in einem so großen Bezirk. Müssen mir schon halt Urlaub geben!«
»Wann kommen Sie wieder?« fragte Donata.
»Ja, schauen's« – der Alte kraute sich in dem noch dichten weißen Haar – »mit dem Wiederkommen! Ein Spaziergang ist's halt nicht da herauf. Und der Jüngste bin ich halt gerad' auch nicht mehr. Aber wenn's meinen, Frau Gräfin, möcht ich schauen, daß ich morgen abend wieder da wär'. Sonst komm' ich halt übermorgen da einmal vorüber.«
»Es wäre mir am liebsten, wenn Sie heute nacht hier bleiben könnten,« fiel Donata rasch ein, »um im Notfalle gleich bei der Hand zu sein. Es versteht sich von selbst, daß ich Ihnen Ihre sämtlichen Versäumnisse entsprechend vergüten werde. Es soll Ihr Schaden nicht sein.«
»Aber welche Idee, Donata!« fiel Gräfin Theodora unmutig ein. »Sie dürfen wegen Ihrer übertriebenen Ängstlichkeit doch nicht anderen Kranken die ärztliche Hilfe entziehen, die vielleicht dort nötiger ist als hier!«
»Nötiger kann sie nirgends sein, als hier,« erwiderte Donata, die sichtlich nur mit Mühe ihre Ruhe bewahrte, sehr bestimmt. »Wohl aber kann man von anderwärts eher ärztliche Hilfe herbeirufen. Ich würde sogar wünschen, daß Doktor Hubler durch einen besonderen Boten von hier aus einen seiner Kollegen in Toblach oder Innichen oder wo sonst immer mit seiner einstweiligen Stellvertretung beauftragt, um zunächst auf der Lahn bleiben zu können.«
»Dazu könnte ich im Interesse anderer Leidender meine Zustimmung nicht geben,« versetzte Gräfin Theodora entschieden.
»Und Sie, Doktor?« fragte Donata, den Arzt fest anblickend; sie hielt noch immer Ronalds Hand in der ihren, war aber jetzt aufgestanden und ihre Haltung war gebieterisch.
Der Alte sah ungewiß von einer zur anderen hinüber, strich sich seinen Schnurrbart und sagte dann gutmütig: »Wann's notwendig wär', Frau Gräfin, schauen's, ich tät's ja ganz g'wiß und gern. Aber 's wär' halt ein Unsinn, halten's zu Gnaden. Und nach der Prättiger Hütten muß ich heut' abend noch, da hilft nichts. Das Büberl da wird schon wieder g'sund werden. Wozu wollen's sich unnötig Angst machen, Gnädigste? Der alt' Herrgott lebt ja noch. Und ich schau' schon wieder nach, ich versprech's Ihnen, 's Köpferl oben, Frau Gräfin, 's Köpferl oben! Und damit Servus, Frau Gräfin, und nix für ungut, hören's?«
Er wollte gehen, als Donata, deren Gesichtszüge ganz starr geworden waren, ihm nachrief: »Sie haben die Arznei noch nicht gegeben, Doktor!«
Nun schlug sich der Alte mit der Faust vor die Stirn. »Ha, das ist aber toll! Hätt' ich jetzt bald daran ganz vergessen! Ja, der alte Hubler wird schwachsinnig, Frau Gräfin, wird total schwachsinnig, sag' ich Ihnen. Hei! Das wär' halt a G'spaß g'wes'n! Geht der Doktor davon und hat nix verschrieben. Ja, so eine Hetz'.« Er lachte so laut über das Vorkommnis, daß man hätte meinen sollen, es sei ihm der lustigste Spaß von der Welt widerfahren, und es war nicht etwa ein Lachen, hinter dem seine Verlegenheit sich versteckt hätte, sondern es kam ihm sichtlich von Herzen; er amüsierte sich köstlich über sich selber.
Dann aber zog er eine kleine, lederne Hausapotheke aus einer Tasche seiner Joppe, ließ sich Wasser geben, goß aus einem Fläschchen, das das Futteral enthielt, eine Flüssigkeit in ein anderes leeres, über, schüttete aus einer Schachtel ein Pulver dazu und schüttelte das Ganze nun zusammen mit ein paar Löffeln Wasser durcheinander. Dann nahm er noch eine Hand voll Pastillen aus einem Tütchen, erklärte Donata, wie und wann sie die beiden Mittel geben solle, und räumte seinen Heilmittelvorrat wieder zusammen, um ihn zu sich zu stecken. Plötzlich schien ihm noch eine besonders gute Idee zu kommen, denn seine lustigen Augen funkelten befriedigt auf, und er sagte aufstehend: »Wann's nicht besser sollt' sein, wann ich wiederkomm', Frau Gräfin, wissen Sie, was ich tu'? Schröpfköpf' setz' ich ihm an, dem Büberl! Punktum. Schröpfköpf'!«
Damit ging er voll stolzer Siegeszuversicht bis an die Tür, nickte, machte einen Kratzfuß gegen Donata, ließ die Gräfin Theodora vorangehen, bekomplimentierte sich eine Weile mit Pater Pius, bis er ihm endlich voranschritt, und verließ so das Krankenzimmer.
Donata mühte sich, das Kind, das sehr unruhig geworden war und ängstlich fragte, was der fremde, alte Mann denn eigentlich gewollt habe, wieder zum Frieden zu sprechen. Ronald hatte die Hand auf die Brust gelegt und röchelte heiser, mit fliegendem Atem. Er klagte, daß er solche Furcht habe, weil immer wilde Tiere durch's Zimmer liefen, gerade solche wilde Tiere, wie er sie neulich in Mamas Bilderbuch gesehen habe, und manchmal lege sich ihm eines derselben schwer auf die Brust, so daß er gar nicht mehr atmen könne. Donata gab ihm erst eine von des Doktors Pastillen, dann flößte sie ihm ein paar Tropfen von der Arznei ein, welche die Fieberhitze des Kindes beruhigen sollte. Danach schloß Ronald auch wirklich die Augen, aber seine Lippen murmelten unablässig während des Halbschlummers, in den er verfiel, wirre, tolle Worte weiter, welche davon zeugten, daß kein friedlicher Schlaf über ihn kommen wollte, sondern beängstigende Phantasien ihn heimsuchten. Dazwischen erklang immer wieder sein kurzes, bellendes Husten mit einem lange nachrasselnden, pfeifenden Ton aus der heiß und rasch atmenden Brust.
Erst nach längerer Zeit wurden seine stoßweisen, angstvollen Rufe seltener und leiser. Nur noch manchmal kam es über die trockenen, fieberheißen Lippen des Kindes: »Der Wolf, Mama, der Wolf! – Du kannst mir wirklich glauben, Mama, der Wolf will mich auffressen! – Ach, liebe, liebe Mama, hilf mir doch! – Nun kommt auch der Bär noch dazu, der wilde, schwarze Bär! – Wohin trägst du mich denn, Mama? Du trägst mich ja fort – fort –. Gibt es in Karditsch auch Bären, Mama? – Ach, wenn nur der mit den glühenden Augen nicht immer so dicht vor mir stände, Mama, ganz dicht – ich kann nicht, ich kann nicht –«
Endlich verstummte er, warf sich aber noch immer in den Kissen unruhig hin und her und ließ ein Ächzen hören, zu dem allmählich jeder seiner Atemzüge wurde, während seine Brust sich dabei in fliegender Hast senkte und wieder hob. Als Donata, die bis dahin des Kindes brennende Hand in der ihren, über es gebeugt, dagesessen hatte, ohne einen Blick von ihm zu verwenden, ihre Augen zum ersten Male, sich in ihren Sessel zurücklehnend, abkehrte, gewahrte sie den Mönch, der lautlos über den weichen Teppich aus dem Nebengemach herangekommen war und schon seit einer Weile schweigend vor dem Bett stand, um Mutter und Kind mit tiefem Mitleid zu betrachten. Ihrer beider Augen begegneten sich in stummer Trauer.
Dann stand Donata leise auf, warf noch einen letzten Blick auf das Kind, das unruhig weiterschlief, und ging in das Nebenzimmer, dem Mönch ein Zeichen machend, daß er ihr folgen möge. Innocenz tat es, und als sie sich dort gegenüberstanden, er gesenkten Kopfes, wie wenn ihn etwas zu Boden drückte, sie in starrer Ruhe, fragte sie ihn nichts als: »Nun?«
Er wußte, was ihre Frage bedeuten sollte, aber er gab keine Antwort darauf. »Ich möchte heute nacht hier bleiben,« sagte er.
Es blitzte in ihren Augen etwas auf, aber sie schüttelte den Kopf. »Nein, nein,« sagte sie hastig. »Ich danke Ihnen, ich verstehe Sie. Aber Sie können mir ja nicht helfen. Geistlichen Trost birgt ja Schloß Peutelstein, ärztliche Hilfe nicht. So lassen Sie es mich denn allein durchmachen.«
»Sie fürchten das Schlimmste, Gräfin?«
»Muß ich nicht?«
»Aber alle anderen sind so unbesorgt – auch der Arzt.«
Donata zuckte mit bitterem Lächeln die Achseln. »Vielleicht,« fuhr Innocenz fort, »daß die Mittel doch –«
»Vielleicht,« wiederholte sie mechanisch und nickte.
»Und morgen abend kommt der Arzt ja wieder.«
»Morgen abend!« Sie sprach es mit so seltsamem Klang, daß es den Mönch durchschauerte. Starr blickten ihre Augen vor sich hin. Dann reichte sie ihm die Hand. »Nochmals: ich danke Ihnen, Pater Innocenz. Aber ich bitte Sie zugleich, gehen Sie jetzt! Ich bedarf Ihrer nicht. Beten Sie zu Ihrem Gott – das ist alles, was Sie für mich tun können. Gute Nacht.«
Sie wandte sich und schritt leise an das Bett des Kindes zurück. Da verließ auch der Mönch das Gemach und, ohne die Gräfin Theodora noch einmal aufzusuchen, ging er aus dem Schlosse, um müde und gebrochen durch die frostige Dämmerung des Tages heimzuwandern.