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Innocenz hatte, solange er im Pfarrhause zu St. Ulrich auf der Lahn heimisch war, noch nie einen Brief erhalten. Um so mehr erstaunte er, als ihm am nächsten Tage ein solcher um die Mittagsstunde durch den Postboten ausgehändigt wurde, der dreimal in der Woche den brieflichen Verkehr zwischen den beiden Alpendörfern und der übrigen Welt vermittelte. Wer konnte ihm zu schreiben haben, nachdem das Kloster ihm durch das an den Pfarrer Antholzer gerichtete Schreiben seine Instruktionen erteilt hatte? Mit dem Klostersiegel war der Briefumschlag zwar geschlossen, und auch der Poststempel wies auf Greifenburg als den Aufgabeort des Schreibens hin, aber die Aufschrift selber rührte nicht von der Hand des hochwürdigen Abtes, sondern trug die seltsam verschnörkelten Züge des greisen Bruders Benedikt. Was mochte ihm der Alte, den Innocenz vor allen anderen Klosterbrüdern geliebt, und der sich ihm von jeher als ein wahrer Vater erwiesen hatte, mitzuteilen haben? Hastig erbrach er den Umschlag und las:
»Geliebter Bruder!
Ohne Auftrag dazu erhalten zu haben und sogar ohne Vorwissen unseres hochwürdigen Abtes schreibe ich Dir, einzig getrieben von meiner großen Liebe zu Dir, von meiner schweren Besorgnis um Dich und von dem Verlangen beseelt, Gefahren von Deinem Haupte abzuwenden, die Dir etwa drohen möchten, und alles in einer Gott, dem Herrn, wohlgefälligen Weise zu ordnen.
Geliebter Bruder! Du weißt nun längst, daß Du zu Sankt Ulrich weilst, um die Gräfin Donata Karditsch zu unserem allerheiligsten Glauben zu bekehren, und der Herr, unser Gott, möge geben, daß Du Dein herrliches Ziel erreichest. Meine Seele aber ist bange und schwer, weil dies heute noch nicht geschehen ist, denn Du weißt nicht, geliebter Bruder, weshalb die Wahl gerade auf Dich gefallen ist, als es sich darum handelte, eine Ungläubige in den Schoß unserer heiligen Kirche zurückzuführen, und der hochwürdige Abt hat es Dir nicht zu wissen gegeben. Ich aber glaube – und Gott verzeihe mir's, wenn es eine Sünde ist, denn ich begehe sie nur in der besten Absicht und um einen Priester des Herrn und Jünger unseres heiligen Ordens vor Furchtbarem zu bewahren – Du mußt es wissen. Der Sehende schützt sich leichter vor drohenden Gefahren als der Blinde. Die Wahl ist auf Dich gefallen einzig und allein, geliebter Bruder, um deswillen, weil Gott Dich mit einer stattlichen Jünglingsgestalt und einem gar wohlgebildeten Äußeren begabt hat, wie es den Menschen und vor allem den Weibern wohlgefällt. Man hat Dich ausersehen, weil Du unter allen mit körperlichen Vorzügen reich begnadet worden bist und als ein Vorbild wahrer Mannesschöne das Kleid Sankti Benedikti trägst. Denn nachdem verschiedene Diener des Herrn, die nicht nur glaubenseifrig und voll heißen Strebens waren, sondern auch über eine ungewöhnliche Rednergabe und ein einschmeichelndes Wesen verfügten, welches schwankende und im Dunkel unsicher umhertastende Gemüter gar wohl gewinnen und bestimmen konnte, keinerlei Einfluß auf die Gräfin zu üben vermocht haben, dieselbe vielmehr in ihrer trotzigen Ungläubigkeit verharrt hat, ist man zu der Überzeugung gelangt, daß nur durch die Sinne auf dieses Weib einzuwirken ist, und daß man sie in Leidenschaft müsse entflammen lassen zu demjenigen, der sie bekehren will, also daß er Macht über sie habe und sie willenlos seinem Gebote folge. Denn es kommt nicht so sehr darauf an, weshalb dies Weib sich bekehrt, als vielmehr darauf, daß es es tut; denn es sind große Interessen dabei im Spiele für die heilige Kirche und unsere Abtei im besonderen, ganz abgesehen davon, daß Gott und die Jungfrau ihr Wohlgefallen haben an jedem reuig zur Herde zurückkehrenden Schafe.
Der Graf Karditsch hat solchem Plane, der ihm unterbreitet worden, denn auch seine Zustimmung nicht versagt, sondern denselben ausdrücklich als einen wohlersonnenen gebilligt. Die Ehe zwischen diesen beiden Menschen scheint keine zu sein nach dem Willen Gottes, sondern ist nur eine traurige Scheinehe, und steht zu hoffen, daß auch hierin ein Wandel eintrete, sobald die Gräfin den Glauben ihres Gatten angenommen hat, weil jetzt die Verschiedenheit ihres religiösen Lebens sich gleich einer trennenden Wand zwischen ihnen aufrichtet. Der Graf ist ebenfalls der Ansicht gewesen, daß es nicht allzu schwer sein werde, die Gräfin, die eine sensitive Natur voll heimlicher Leidenschaftlichkeit sei, durch ein engeres und längeres Beisammensein mit einem Diener Gottes, gleich Dir, allmählich zu entflammen, um sie so durch sinnliches Erglühen für den Verkündiger der Heilslehre und auf dem Wege der mystischen Verzückung gewissermaßen dem alleinseligmachenden Glauben zuzudrängen, ohne daß sie selber sich dessen bewußt wird und so, daß sie selber endlich nicht anders mehr kann.
Nun ist auch solch ein Weg der Bekehrung, zumal die anderen, welche man eingeschlagen, fehlgingen, sicherlich wohl zu rechtfertigen, und die Natur der zu Bekehrenden verlangt ihn so. Aber, lieber Bruder, für Dich erwächst hieraus zugleich eine schwere Gefahr, und ich bin in meinem Gewissen aufs höchste beunruhigt, zu denken, daß man Dich ungewarnt ließ, und kann nicht anders meiner Angst und Sorge Herr werden, als daß ich mich durch eindringliche Mahnungen und inniges Bitten an dich davon zu entlasten suche. Jeden Tag erwartet der hochwürdige Abt Deine Meldung vom Gelingen Deines Vorhabens und ist über die Verzögerung höchlichst ungehalten, zumal die Gräfin durch den jähen Tod ihres einzigen Kindes noch besonders für die Konversion vorbereitet und bestimmt erscheinen muß. Für mich selber aber erwächst nur mit jedem neuen Tage, welcher Dich der Gefahr aussetzt, die Bangigkeit, und ich finde nachts keinen Schlaf mehr, weil mich Schreckbilder furchtbarster Art heimsuchen. Geliebter Bruder, laß Dich warnen und höre auf meine Stimme, daß sie nicht gleich der eines Predigers in der Wüste verhalle.
Du bist jung und unerfahren, lieber Bruder Innocenz, Du weißt nichts vom Weibe. Dessen Ränke und Listen aber sind groß, und wie durch das Weib die Erbsünde in die Welt gekommen ist, so darf man sagen, daß kaum ein Übel und Unheil in der Welt ersteht, das nicht vom Weibe herrühre. In wie grauenvollen Gefahren schwebst Du nun ahnungslos, geliebter Bruder, wenn Du zu einem häufigen Beisammensein mit dieser Frau verurteilt bist, auf welche der Zauber Deiner Persönlichkeit in erster Linie und dann erst das Wort Gottes, das Du predigst, Macht ausüben soll. Man sagt mir, daß das Weib schön sein soll wie die Sünde, die uns auch nur verlockt durch ihr gleißendes Äußeres, innen aber abscheulich ist. Da Du nun keinen Schirm und Schutz sonst besitzest, und Dein Blut noch heiß ist, geliebter Bruder, kasteie Dich doch ja fleißig, auf daß Du nicht in Anfechtung fällst! Will aber die gräßliche Versuchung schon Herr über Dich werden, so fliehe lieber und laß Deine Aufgabe unerfüllt, als daß Du an Leib und Seele rettungslos verdirbst, und wenn Du wegen Deines Ungehorsams von dem hochwürdigen Abte schwer gestraft werden solltest, so erdulde schweigend diese Strafe; besser so, als daß Du in den Pfuhl der Sünden gerätst, aus dem es kein Entrinnen mehr gibt, sondern in dem man erstickt, um in die ewige Verdammnis einzugehen.
Ach, lieber Bruder Innocenz, wie ist mein Herz schwer um Dich und meine Sorge so groß! Möchte doch alles nur Hirngespinst sein, die mich plagen und martern! Weshalb aber bist Du noch nicht am Ziele, wenn nicht dies gefahrvolle Spiel mit der Sünde und der Anreiz Deiner Eitelkeit Dich verlocken und Dir gefallen? Wenn ich denke, wie furchtbar schon alles geworden sein kann, sträubt sich mir das Haar, und ich möchte mir die Nägel meiner Hände ins Fleisch krallen vor Schmerz. Weshalb habe ich auch nicht eher gesprochen! Aber selbst jetzt handele ich ja ohne Zustimmung des Hochwürdigen!
Und noch mehr muß ich Dir sagen, geliebter Bruder, weil es mir dazu helfen wird, Dich zur Umkehr zu bewegen, so Du schon zu weit gegangen bist, oder Dich vor dem Straucheln zu bewahren, so Du noch rein bist. Du bist ein Kind der Sünde, und man hat Dich Gott und dem Heilande geweiht, auf daß Deiner Eltern schwere Missetat gesühnt werde. Nun ist es eine feststehende, schreckliche Tatsache, die auch von gelehrten Männern wissenschaftlich zu begründen versucht worden ist, die aber jedenfalls von Gott gewollt zu sein scheint, daß in solchen Kindern der Sünde der sündige Trieb noch stärker ausgebildet ist als in allen anderen Staubgeborenen, und daß sie den Eltern nachzuarten drohen, weit mehr, als Kinder der Sitte ihren ehrenhaften Erzeugern. So ist denn die Gefahr bei Dir auch doppelt groß. Und nicht genug hiermit: es ist von Schloß Peutelstein her schon einmal einem Priester unseres heiligen Glaubens Furchtbares widerfahren, und die Versuchung, die seiner dort lauerte, und der er schließlich zum Opfer fiel, brachte ihm zeitliches und ewiges Verderben. Das weiß ich von dem ehrwürdigen Pater Pius, welcher mir ein lieber Bruder und treuer Freund ist. Der Herr also sei stark in Dir schwachem, jungen Diener seines Wortes, damit Dir alle Anfechtung erspart bleibe!
Und wenn Du dies schöne Weib, dessen Seele es zu retten gilt, endlich wirklich in sündiger Liebe heiß zu Dir entbrannt siehst – geliebter Bruder, ich beschwöre Dich bei unserem Herrn und Heiland und bei seinem unschuldig für uns vergossenen Blute: laß Dich dann nicht befriedigte Eitelkeit anwandeln oder sündhaftes Gelüst oder sonst irgendeine andere unheilige Regung, die wie ein Rausch über Dich kommen könnte und Dich mit fortrisse in Taumel und Sünde! Nein, sei dann stark, mein lieber Bruder, stark wie ein Geweihter des Herrn sein muß, und denke nichts anderes, als daß solches hat einzig und allein zu dem Zwecke geschehen dürfen und müssen, daß Du Macht über dieses sündigen Weibes Seele gewännest, und sie Dir nun blindlings gehorchen soll, und Du sie dem heiligen Glauben unserer Kirche zuführen darfst auf dem Wege der irdischen Liebe und über sie hinaus zur himmlischen, die da selig macht. Geliebter Bruder! Wenn jene Stunde da ist, wird es die schwerste und schreckenvollste für Dich sein im Leben, denn gewaltig in ihr wird die Versuchung sein, die über Dich herabkommt gleich einem Feuer vom Himmel, und wehe Dir, wenn sie Dich schwach findet, in geschmeichelter Eitelkeit und selbstgefälliger Verblendung! Aber sie wird auch die herrlichste und gesegnetste Deines ganzen Lebens sein, denn in ihr wirst Du Dich erweisen können als ein den Weltlüsten trotz seiner jungen Jahre wahrhaft abgestorbener Jünger der Kirche, der nur ihr mit jedem seiner Blutstropfen und mit jedem Herzschlage dient. Blicke auf das Kreuz, viellieber Bruder! In diesem Zeichen wirst du auch in jener furchtbarsten Stunde siegen. Und das ist's, worum ich Dich anflehe: sei in dieser Stunde, die da kommen wird und bald kommen wird, ein Priester und ein Mönch, aber sei kein Mann! Dann wird Dein Ruhm vor Gott und vor Deinen Oberen groß sein und Dein eigenes Herz wird Ruhe finden.
Lieber wälze Deinen nackten Leib in den Dornen, wie unser großer Heiliger tat, wenn die Versuchung ihm nahte, als daß Du ihr feige erliegest und Dir dabei einbildest, es sei nicht anders möglich gewesen, und kein Mensch könne anders. Du bist kein Mensch, geliebter Bruder, Du bist ein Jünger des Ordens Sankti Benedikti, das ist mehr, und deshalb mußt Du auch mehr können als ein Mensch. Und das ist's, was ich Dir in heißem Flehen und inständiger Dringlichkeit ans Herz legen wollte, das ist's, weshalb ich dies Schreiben an Dich richte. Wenn die Stunde da ist, gedenke Deines greisen Bruders Benedikt zu Greifenburg und gedenke seiner Worte an Dich! Der Herr sei mit Dir und erleuchte Dich, er mache Dich stark und gebe Dir seinen Frieden! Amen, lieber Bruder! Gelobt sei Jesus Christus in Ewigkeit!
P. Benedikt.«
Innocenz hatte das Schreiben mehrmals hintereinander gelesen, dann brach er mit einem Stöhnen zusammen, faltete die Hände und stammelte, auf den Knien liegend: »Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?«
Das also war's! Deshalb hatte man ihn hierher gesandt! Nun freilich begriff er alles. Und mitten in seinen seelischen Qualen brach ein Lachen von seinen Lippen, vor dem er selber erschrak. Mehr als ein Mensch sollt' er sein, schrieb ihm der greise Bruder in seiner naiven Herzenseinfalt und seinem unverbrüchlichen Klosterglauben – mehr als ein Mensch! Gab es denn noch etwas Höheres und Größeres, als ein Mensch zu sein? War denn das von Gott gewollt, daß Priester, Ordensbrüder keine Menschen mehr waren, daß alles, was sie dachten und taten, in unversöhnlichen Widerspruch trat zu dem rein Menschlichen, dem Natürlichen und darum doch auch Wahren? Unmöglich! An diesem Widerspruch war er schon unzählige Male während seines hiesigen Wirkens gescheitert, daran würde er zugrunde gehen.
Und abermals las Innocenz das Schreiben. Dann zerriß er es in hundert kleine Stücke und warf sie zum Fenster hinaus, wo der Wind sie aufwirbelte und davontrug. Ein schwermütiges Lächeln glitt um seine Lippen. »Gutmütiger, besorgter Alter!« dachte er, »um mich kannst du ruhig sein. Dieser Versuchung erlieg' ich nicht, und du kennst die andere nicht, die mir drohen könnte. Aber begreifst du nicht, begreift ihr alle denn nicht, daß ihr ein furchtbares, frevelhaftes Spiel treibt? Daß ich nun, nachdem ich alles weiß, diese Bekehrung, um derentwillen man mich hierher geschickt hat, nicht mehr als ein heiliges, sondern ein unwürdiges und verbrecherisches Werk betrachten muß? Wer gab euch das Recht dazu, das von mir zu verlangen und mich so wider Wissen und Wollen zu eurem Mitschuldigen daran zu machen? Ich will es nicht sein, ich weise jede Mitwirkung daran von mir. Und das sollte zum Heil unserer Kirche sein und zur Ehre unseres Gottes geschehen, daß ihr in einem Weibe die sündige Liebe zu einem Priester zu entflammen sucht, damit diese sie zur Bekehrung treibt? An solchem unsühnbaren Frevel will ich keinen Teil haben. Eher werfe ich dieses Gewand von mir, das mich dazu zwingen könnte, und kündige euch den Kadavergehorsam auf, den ihr verlangt und zu fordern berechtigt seid! Denn das, was ihr getan und gewollt, ist ein Vergehen wider alles göttliche und menschliche Recht, und eine Bekehrung, auf solchem Wege erreicht, mag den äußerlichen Interessen der Kirche vielleicht dienen, aber Gott wohlgefällig ist sie nicht, und für den Sieg unserer guten Sache beweist sie wahrlich nichts. Zum Gaukler und Betrüger habt ihr mich gemacht, ohne daß ich es wußte und wollte, und wenn die Herzenseinfalt dieses Greises mir nicht das schlaue Gewebe verraten hätte, das ihr um mich spannt, wäre das Furchtbare vielleicht geschehen, ahnungslos von mir vollbracht worden. Jetzt aber, in der letzten Stunde, zerreiße ich es und nehm's als ein sichtbares Zeichen des Himmels, daß ich es noch darf, daß er mir die Gelegenheit und die Macht dazu zeigte! Den Gott, der mir das gewährt, verehr' ich anbetend im Staube – euren Gott aber verwerf' ich. Einen Gott, der solch einen Frevel duldet oder gar gutheißt und befiehlt, will ich von dieser Stunde an nicht mehr bekennen und ihm nicht mehr dienen in blindem Gehorsam. Es ist kein guter und kein gerechter Gott. Ein Götze ist es, den ihr selber euch geformt habt nach eurem Bilde, aber kein übermenschliches, allgütiges und allgerechtes Wesen. Ich sage mich von diesem Gott der Priester und der Klöster los – bekenne mich allein zu dem Gotte, der da die Wahrheit ist, zu Donatas Gotte!«
Er war wie außer sich geraten, das Blut raste in ihm und drängte in mächtigen Wogen zu seinem Gehirn herauf. Seine Schläfen hämmerten und zuckten. Vor ihm wallte alles wie in einem gestaltlosen Nebel durcheinander, er unterschied nichts mehr klar, es war ihm, als bräche und sänke jählings um ihn her zusammen, was bis dahin ihm als fest und heilig und groß, als unumstößlich und unangreifbar gegolten hatte. Er begriff nicht, daß es nur dieses letzten Anstoßes mehr bedurft hatte, um das längst durchlöcherte und unterhöhlte Gebäude seines Glaubens, an dem die rastlosen Zweifel genagt und dem die Erfahrungen des Lebens den Grund zerwühlt hatten, zusammenstürzen zu lassen; daß er bis heute nur noch in schwacher, feiger Angst sich wie ein von allen Seiten gehetztes Wild in das Dickicht geflüchtet und dort versteckt gehalten hatte, um den Todesstoß noch eine Weile hinauszuzögern und sich inzwischen sicher zu wähnen, statt mutig vorzubrechen und selber in kühnem Ringen ein Ende zu machen. Er war schon lange nicht mehr der blindgläubige Sohn der Kirche und der begeisterte, überzeugte Anhänger ihrer Glaubenssatzungen und Vorschriften – das, was er gesehen und erlebt, hatte seine Seele im Innersten gewandelt, und statt die Gräfin Donata zu seiner Religion zu bekehren, hatte sie selber ihn allmählich ohne ihr Wissen und Wollen zu ihren eigenen Anschauungen zu bekehren begonnen; – aber immer noch hatte er mit zäher Willenskraft an dem festgehalten, was ihm das Unwandelbare und Unantastbare gewesen war, an dem Glauben, in dem man ihn auferzogen, zu dem man ihn geweiht hatte, ohne den er sich das Weiterbestehen der Welt nicht zu denken vermochte.
Nun plötzlich, wo er die Aufgabe, zu deren Erfüllung man ihn hierhergesandt, als tief unsittlich, als ein frevles Spiel mit dem Heiligsten erkennen mußte, bäumte sein innerstes Empfinden sich dagegen auf, noch länger auf die Satzungen einer Kirche zu schwören, die das von ihm verlangen durfte, der er das in wortlosem Gehorsam leisten mußte, wenn anders er noch ihr Knecht war. Nein, nein und wieder nein! Er wollte es nicht. Und er wollte nicht mehr einer Kirche angehören, deren Gebote denen des Menschenherzens Hohn sprachen, die unter dem Deckmantel der Religion Verbrechen beging, die Ehre Gottes zum Aushängeschild für ihre gemeinen, weltlichen Interessen benutzte, und deren Priester der Versuchung und Sünde erbarmungslos in die Arme getrieben wurden. Kein Wunder, daß das fromme, strenggläubige, fanatische Volk dieser Berge, das sich dem Priester, wenn er in der Kirche oder draußen seiner heiligen Ämter waltete, in Ehrfurcht und Ergebenheit beugte, ihn als Menschen verachten gelernt hatte. Er, Innocenz, war von diesen Priestern keiner mehr, wollte keiner mehr sein.
In der furchtbaren Erregung, die sich seiner bemächtigt hatte, wollte er gleich jetzt ins Tal hinabsteigen, nach Kloster Greifenburg pilgern und vor den Abt hintreten, um ihm zu sagen: »Nimm dieses Ordenskleid von mir, das meinen Schultern zu schwer geworden ist, und löse mich von meinen Gelübden, die ich nicht mehr halten kann! Ich gehöre nicht mehr zu euch, ich kann der Kirche nicht mehr dienen, die von mir fordert und fordern darf, was mein Kopf verwirft und mein Herz verabscheut. Ich will nicht heucheln und will nicht mit dem Brandmal einer ewigen Lüge auf der Stirn weiterleben. Darum gib mich frei und laß mich ziehen, damit ich fortan mir mit meiner eigenen Hände Arbeit mein Brot verdiene, statt mein Leben zu vergeuden in müßigem Gebet und Beschaulichkeit, und meinem Gott diene auf meine Art!«
So wie er da ging und stand, wollte er aus dem Hause stürmen; da erst gedachte er daran, daß Donata ihn droben auf der Teufelskanzel erwarte, und daß es um die Zeit sei, wo er die Wanderung dorthin antreten müsse, um sie zu finden. Ein bitter-hohnvolles Lächeln glitt um seine Lippen, als er sich dessen erinnerte. Er strich sich ein paarmal über die perlende Stirn hin. Es war ihm, als müsse er erst einen Schleier verscheuchen, der da vor seinen Augen hing. Das war wahrlich die rechte Stimmung, zu Donata zu gehen, um jetzt von ihren Lippen zu hören, wie es um ihren heißen Drang nach dem wahren Glauben stand! Ihr Kind hatte man zugrunde gehen lassen, um ihr Herz weicher und des Trostes der allein wahren Religion bedürftiger zu stimmen; einen Priester hatte man ihr gesandt, der ihr in der einsamen Öde des Hochgebirges als Mann hatte die Sinne entflammen und begehrlich machen sollen – alles zur höheren Ehre Gottes oder doch, damit Graf Alexander Karditsch nicht um sein reiches Erbe und das Kloster Greifenburg nicht um seinen Lohn und Gewinn kam!
Und nun sollte er gehen, um als ein begeisterter Verkünder seiner Glaubenslehre dem armen, betrogenen Weibe das Bekenntnis abzunehmen, daß sie sich bekehrt hatte, daß sie von der Heilswahrheit der Religion durchdrungen sei, deren Priester er war! Gab es einen schneidenderen Widerspruch, einen blutigeren Hohn? Aber immerhin. Er würde gehen, und er wollte sie anhören. Nur daß er ihr auch Antwort geben würde – keine Antwort, wie sein Priestereid und seine Gelübde sie ihm vorschrieben, sondern eine, wie sie sein eigenes Herz, wie sie sein menschliches Empfinden, wie sie seine heilige Empörung über ein unheiliges Gaukelspiel, das man mit ihr und ihm getrieben, ihm auf die Zunge legen würden, und dann mochte es kommen, wie es mußte, dann war er frei, kein Mönch mehr und kein Geweihter der Kirche mehr, sondern ein Mensch, der sich frei und selbstverantwortlich zu seinem Gotte bekannte, und vor ihm lag das Leben!
Innocenz stürmte wie auf der Flucht befindlich aus dem Hause. Drüben vor der Sägemühle gewahrte er einen Menschenauflauf, man drängte und stieß sich dort, angstvolle, erschrockene und neugierige Gesichter waren dem Innern des Hauses zugekehrt. Innocenz wollte teilnahmlos daran vorüber. Was würde denn auch geschehen sein? Wahrscheinlich wollte man das unglückliche Weib sehen, das wie ein Stück Vieh gebunden werden mußte, um nicht in religiösem Wahnsinn sein eigenes Kind umzubringen, das sie als Engel durch seine Fürbitte vor den Flammenqualen der Hölle erretten sollte. Auch ein Opfer dieser Religion, deren Diener und Verkündiger er war! Was kümmerte das alles ihn noch? Er mußte vorüber – vorüber –.
»Hochwürden! Hochwürden!«
Der wilde Xaverl war's, der es rief, und Innocenz wandte sich grüßend zu ihm. Der Senn trug seine mächtige, flache Holzbutte auf dem Rücken und mochte eben von der Alm herabgestiegen sein oder dorthin zurückwollen.
»Ich habe Eile. Was willst du?« fragte Innocenz, als Xaverl ihn mit verstörtem Gesichtsausdruck ansah.
»Wißt Ihr's denn schon, Hochwürden?« Der Senn atmete noch knapper als sonst.
»Was soll ich wissen?«
»Daß die Sägmüllerin ihr Kind umgebracht hat! Ihr eigenes Kind!«
Innocenz erschrak nun doch. »Wie ist das möglich? Sie war doch gebunden?«
»An Händen und Füßen,« bestätigte der Senn. »Auf dem Boden hat sie sich hing'wälzt wie ein Tier bis ans Bett der Kathi, und dann hat sie sich über das Kind g'worfen und hat's so lang' niederg'drückt in die Kissen mit ihrem ganzen Leib, bis das Dirndl erstickt g'wesen unter der Last. Kein Mensch hat's gemerkt g'habt, bloß das andere Kind hat in der Wiegen dabeig'legen und hat g'schlafen. Die Leut' waren alle aus'm Haus, und bloß der Hamerl draußen beim Mühlrad. Als er in die Stub' 'kommen ist, hat die Sägmüllerin am Boden g'legen vor dem Kindsbett und hat mit lauter Stimm' gebetet; und als er das Kind g'sehen hat, das ganz blau im G'sicht war und gar kein' Atemzug mehr g'tan hat, hat er g'schrien: ›Jesses Maria und Joseph, Sägmüllerin, was habt Ihr g'macht?‹ Da hat sie ihn ganz freundlich ang'schaut mit hellen, fröhlichen Augen und hat g'sagt: ›Nun bin ich glücklich, nun wird mein' Kathi mich freibitten von den ewigen Flammen!‹ Und ganz verklärt und ganz ruhig ist sie seitdem, was man auch zu ihr red't. Heilige Mutter Gottes, welch eine Sach', Hochwürden, welch eine Sach'!«
»Das sind alles die Früchte unserer heiligen Religion!« sagte Innocenz mit einem irren, stieren Blick.
Der wilde Xaverl verstand ihn nicht. »Und der Sägmüller,« fuhr er fort, »hat sein Weib niederstechen wollen, als er heim'kommen ist. Ein' furchtbar'n Aufstand hat's 'geben, gerad' ein' furchtbar'n. Mit dem Messer ist er auf sie los in seiner greulichen Wut und g'schimpft hat er gott'slästerlich auf die Heiligen im Himmel und die Priester auf Erden. Wann der Hamerl ihm nicht das Messer wegg'rissen hätt', ich weiß halt nicht, was g'scheh'n wär'. Ein' Mord hätt's geb'n, denk' ich, und war an dem einen doch wohl g'rad' g'nug. Und dann hat der Hamerl dem unsel'gen Weib die Stricke auf'knüpft, und dann hat's sich so ruhig und ordentlich gebärdet, als wär's wieder die Sägmüllerin von früher, hat ganz still dag'sessen und ist freundlich und gut g'wesen. Und jetzt, wie sie zu beten anfangen, betet sie mit, kniet nieder, gerad' neben ihrem Mann, der von ihr wegg'rückt ist, als wenn sie ein ekelhaftes Tier wär', und ist wie eine G'sunde. Betet für die arm' Seel' von ihrem Kind, das sie selber umg'bracht hat, Hochwürden! Was man nicht erleben muß in derer wunderlichen Welt. Horcht nur einmal, sie. betet mit!«
Und Innocenz vernahm wieder einmal aus dem Innern der Sägemühle die starken, harten Töne eines gemeinsamen Gebets, das nach der Art dieser Bergbewohner herausgestoßen wurde wie ein Kommando. Hamerl betete vor und die anderen fielen ein. Und vor dem Hause hatte die neugierig drängende Menge sich gleichfalls aufs Knie geworfen und bekreuzigte sich und betete mit. »Heilige Jungfrau Maria, bitt' für uns!« klang es in allen Tonarten herüber.
Innocenz wandte sich ab. Er rief dem wilden Xaverl ein Lebewohl zu und hastete weiter. Welchen Teil hatte er noch an diesen Menschen? Wozu hätte er sich unter sie mischen sollen? Das Kind konnte er nicht mehr zum Leben erwecken, das der blinde Fanatismus gemordet hatte, und ihren Trost fanden diese alle ja in ihrem Gebet ohne eines Menschen Hilfe. Vorüber also, vorüber!
Die Gedanken wogten und wühlten unablässig in seiner Seele, während er bergauf stürmte. Was werden sollte, bedachte er nicht. Was kam auch darauf an? Was geworden war, beschäftigte und erfüllte ihn ganz allein. Und dann durchströmte es ihn plötzlich mit heißer Sehnsucht nach Filomena. Sie war ihm die Verkörperung des Friedens, nach welchem er jetzt das innigste Verlangen trug. Er hätte die Arme nach ihr ausbreiten mögen in die leere Luft. Immer war es ihm, als müsse ihre anmutige Gestalt ihm auf dem schmalen Felssteige entgegenkommen, hinter jeder Bergecke sah er sie auftauchen, und er meinte, je höher er stieg, desto näher komme er ihr, und sie werde zu ihm alsbald herabwandeln wie ein himmelentstiegener Sendbote, mit dem Palmenreis in der Hand, um ihm Erlösung zu verkündigen, Erlösung und Frieden. Und wenn es das letztemal war, daß er in diese Berge hinaufstieg, und er käme niemals lebend mehr von ihnen herab, so wollte er wenigstens noch die eine große und freie Tat begehen, zu der sein ganzes Inneres ihn jetzt gebieterisch hindrängte, und die ihm eine Sühne erscheinen würde für alles, was er bis dahin gefrevelt gegen den heiligen Geist der Wahrheit.
Als er nach rastloser Wanderung die Teufelskanzel erreichte, fand er die Gräfin noch nicht dort vor. Der Spätsommertag lag mit gleicher, fast wolkenloser Klarheit über der gewaltigen Bergwelt, wie gestern leuchteten jede Rille im Gestein, alle Schründe und Schroffen der Steilwände stark erkennbar herüber, die Gletscherfurchen schimmerten bläulich, und in reizvoll wechselnden Farbenabstufungen schoben die zackigen Dolomiten sich ineinander. Alles, wie es gestern auch gewesen war. Und doch, wie anders als gestern! Was lag zwischen dem Gestern und diesem Heut!
Innocenz beugte sein Knie und betete hier oben angesichts aller Schönheit und aller grausigen Schauer der Natur. Er konnte noch beten. Nicht zu dem Gotte, dem er sich einst in blinder Unterwürfigkeit, ohne zu wissen, was er tat, am Altar zugeschworen, und dem er bis heute gedient hatte im Meßgewand, beim Weihrauchduft in leeren Formen und hohlen Satzungen, welche eine gedankenlose Menge gedankenlos nachgebetet, sondern zu dem, der aus dem Klopfen des eigenen Herzens wie aus den tausend Wundern und Schrecken der schaffenden Natur mit vernehmbarer und gewaltiger Stimme zu ihm redete. Und diesem Gotte wollte er dienen und treu bleiben bis zum letzten Atemzuge seiner ringenden Brust.
Als er sich erhob, stand Gräfin Donata vor ihm. Er hatte sie nicht kommen hören, und sie hatte, um ihn nicht zu stören, ihre Anwesenheit durch kein leisestes Geräusch verraten. Nun ruhten ihre Augen forschend auf ihm. Er aber schlug die seinen nicht nieder und zeigte keinerlei Scham, Verlegenheit oder Überraschung, sondern begrüßte sie mit ruhiger Sicherheit.
Sekundenlang lag ihre Hand in der seinen, dann fragte sie: »Wollen wir hinauf?« und als er zustimmend den Kopf neigte, schritt sie ihm voran. Hektor, der jetzt aus der Tiefe auftauchte, wo er bis dahin einem waidwunden Hirsch nachgespürt hatte, trottete neben ihr her. Innocenz folgte langsam.
Der Weg war steil und schmal, immer zur Seite drohte ihm der Abgrund, in den ein einziger Fehltritt den Wanderer unweigerlich hinabstürzen mußte. Das war ein Kletterpfad, den Gemsjäger in das bröckelige Kalkgestein eingehauen hatten, und der einen schwindelfreien Kopf und ein scharfes Auge verlangte neben einem sicheren Schritt. Innocenz mußte ein paarmal mit der Hand sich gegen die Felswand stützen, weil es ihm schwarz vor den Blicken wurde. Donata dagegen schritt vorauf, ohne zu rasten oder zu zögern. Einmal blickte sie sich nach ihm um, wie wenn sie ihm Mut zusprechen wollte. Da schämte er sich seiner Schwäche und stieg ihr rüstig nach.
Lange hätte er es jedoch trotz aller seiner Willensanstrengung nicht vermocht, und er atmete erleichtert auf, als Donata ihm zurief, sie seien schon angelangt. Der Weg war nur kurz gewesen und allein seine Beschwerlichkeit hatte ihn lang erscheinen lassen. Nun hatten sie eine schmale Felsabdachung erreicht, auf der sie sich plötzlich wie in eine andere Welt versetzt sahen. Während des Steigens war, ohne daß sie es gemerkt hatten, die Bergwelt hinter ihnen versunken. Sich schroff vorschiebende Wände verdeckten sie vollständig, und man gewahrte nichts weiter, als gerade zu ihren Füßen die Teufelskanzel; es war, als sei darüber hinaus und darunter alles in Nebel niedergetaucht, der Fernblick fortgelöscht, die übrige Welt entschwunden. Es war ein Platz, an dem man die Hochgebirgseinsamkeit mit allen ihren Schauern und mit allen ihren Wonnen gewahren zu können glaubte wie etwas Greifbares und Wesenhaftes. Tiefe Lautlosigkeit herrschte hier; nur der Azur des Himmels lag über ihnen, sonst war alles steinerne Unbeweglichkeit. Es war ein Erdfleck voller Erhabenheit und voller Grauen. Gräfin Donata hatte recht gehabt; man glaubte hier, daß es keinen Rückweg mehr zu den Menschen und auf die bewohnte Erde herab geben könne. Weiter aufwärts leitete kein Pfad an der jäh abstürzenden Wand empor, und der Weg, den sie gekommen waren, ließ sich von hier aus nicht mehr erblicken. Man war wie abgeschnitten von allen Bedingungen des Lebens, man schwebte gleichsam zwischen Himmel und Erde.
»Nun?« fragte Donata, als Innocenz schwer atmend sich gegen den Fels gelehnt hatte, »hab' ich Ihnen zu viel versprochen? Ist das nicht ein guter Platz für uns?«
Sie stand vor ihm, aber ihre Augen sahen ihn nicht an, sondern gingen über ihn fort in die leere Luft. »Ich finde, es ist ein unendlich trauriger Platz,« erwiderte er, »ein trostloser.«
Darauf erwiderte sie nichts, sondern ließ sich auf dem kahlen Gefelse nieder, die Hände im Schoß gefaltet, die Blicke vor sich hin gerichtet. Es sah aus, als wollte sie die Schauer des Platzes voll in sich hineinsaugen, oder als betrachtete sie mit wollüstigem Grausen drunten den andern, auf dem sie sich selber einmal als Leiche gesehen hatte. Erst nach einer Weile hatte Innocenz sein Gefühl des Schwindels so weit niedergekämpft, um es ihr gleichtun und sich einen Sitz im Gestein wählen zu können. Dann saßen sie schweigend und wie gebannt nebeneinander, vor ihnen der Abgrund, über ihnen der Himmel. Ihrer beider Herzen waren so voll, daß sie gerade deshalb lange Zeit keine Worte fanden.
Endlich sagte Donata, ohne den Mönch anzusehen: »Ich bin mit mir einig geworden, Pater Innocenz. Ich will den Frieden, den ich suche, und den ich nirgends sonst zu finden vermochte, fortan da suchen, wo Sie ihn mir verheißen haben: in der Religion.«
»In welcher Religion?« fragte er wie geistesabwesend.
Nun gingen ihre Augen in schreckhaftem Erstaunen zu ihm hinüber. Seine Stimme hatte ihr wie die eines fremden Menschen geklungen, den sie nie vorher gesehen. »Weshalb fragen Sie mich das? Wollen Sie meiner spotten? Ich bin bereit, mich zu Ihrem Glauben, zu dem Glauben meines Kindes zu bekehren. Sie haben Ihr Ziel erreicht. Ich will Frieden haben.«
»Frieden?« wiederholte er, »und den glauben Sie bei uns zu finden, Gräfin Donata? Sie irren. Unsere Religion ist keine des Friedens, sie ist eine des Kampfes und der Zweifel, ja, mehr als das: sie ist eine der Heuchelei und der Lüge. Wenn Sie Frieden suchen, dürfen Sie nicht zu uns kommen. Oder Sie müßten denn allem Denken für immer entsagen und alle menschlichen Regungen des Herzens in sich zum ewigen Schweigen bringen. Sie müßten blinden, gedankenlosen Gehorsam schwören und alles, was an weichen Empfindungen und warmen Herzschlägen in Ihnen lebt, abtöten, um ein willenloses Werkzeug höherer Gewalten zu werden, und zur Ehre Gottes das verleugnen, was es Höchstes und Heiligstes in Ihnen gibt: die Wahrheit. Wollen Sie das, dann lassen Sie sich aufnehmen in den Schoß unserer alleinseligmachenden Kirche! Sonst aber bleiben Sie, was Sie sind und verehren Sie in Ihrer Form – gleichviel in welcher – in Ihrem Geiste den Gott, der die Wahrheit, das Licht und das Leben ist! Sie, die Sie allein der Stimme Ihres Gewissens immer gehorchten und keinen Fußbreit je abzuweichen bereit waren von dem Wege des Rechts und Ihrer Überzeugung, Sie sind eine frommere Christin, Gräfin Donata, und ein echteres Kind Gottes, als wir alle, als ich, als die Priester, die verkündigen, was nicht göttliches Gebot ist, sondern der Wille irrender, sterblicher Menschen gleich uns allen! Tun Sie, wozu Ihr Herz Sie treibt, Gräfin. Sie können in jeder Religion und jedem Glauben Gott dienen. Von mir aber verlangen Sie nicht, daß ich eine Handlung vollziehe, die für mich ein Akt der Lüge wäre, welcher ich abgeschworen habe für allezeit! Ich bin heute kein Priester der Religion mehr, zu der Sie sich bekehren wollen, ich trage dies Kleid, das mich von allen Menschen ausscheidet, zu denen ich doch gehöre, nicht mehr mit Recht und will es von mir tun und als ein freier Mann in die Welt hinausgehen und arbeiten lernen, was mehr ist als beten. – Weshalb sehen Sie mich so starr-erstaunt an, Gräfin? Nein, nein, ich rase nicht, ich rede nicht irre. Wenn ich dies Kleid lebenslang weitertragen müßte, vielleicht würd' ich dann wahnsinnig. Jetzt aber ist es hell und klar in mir und um mich. Und daß Sie gerade heute – erst heute den bedeutungsvollen Schritt zu tun sich entschlossen, Gräfin, das nehm' ich als einen deutlichen Wink des Himmels. Ich habe Sie bekehren wollen, in Wahrheit aber haben Sie mich bekehrt, bekehrt zu dem Gotte, dem alle freien, denkenden Menschen dienen und dienen dürfen!«
Er hatte mit wachsender, innerer Bewegung gesprochen, und seine Stimme hatte sich immer heller durchgerungen, bis sie zuletzt von der Felswand zurückhallte, als mische auch der Geist dieser gewaltigen Bergeinsamkeit die seinige darein und predige die gleichen Worte und rufe sie hin über die schweigenden Gipfel in alle Welt.
Donata aber hatte in bangem Erschauern zugehört. Anfangs hatte sie wirklich geglaubt, er rede irre, dann aber war es mit schreckhafter Gewißheit in ihr aufgestiegen, daß sie wahrhaftig einen anderen vor sich sähe, als den sie bis dahin gekannt, und endlich hatte sie ihm mit wogendem Busen und zuckenden Schläfen zugehört, ganz Hingebung, ganz Beseligung, bis ihre Augen mit leuchtender Begeisterung an ihm hingen und ihr ganzer Körper unter einer übermächtigen Erschütterung erbebte. Und nun war sie aufgesprungen, gleich ihm selber, und stand neben ihm, hochaufgerichtet wie eine Siegerin, und doch im Innersten demütig und seligverzagt wie ein liebendes Weib, das seinen Herrn und Meister gefunden hat und ihm sich beugt in schämigem Entzücken. »Innocenz!« schrie sie auf, wie außer sich, und ihre Hand streckte sich gegen ihn, als wolle sie Besitz von ihm ergreifen, »Innocenz! So wollt' ich dich! Gott im Himmel, ich danke dir – so wollt' ich dich!«
Da durchzuckte ihn ein ungeheurer Schreck. Was war das? Raste dies Weib? Wie war dieser jähe Übergang von ihrer tiefen Zerknirschung und ihrer heißen Sehnsucht nach dem stillen Frieden in Gott zu solchem jubelnden Überwallen ihrer Gefühle möglich? Und war es wirklich nur der aufjauchzende Triumph der Gesinnungsgenossin, der Kampfgefährtin, der ihn aus ihren Worten grüßte? Innocenz mußte der Worte gedenken, die Donata gestern drunten auf der Teufelskanzel gesprochen: »Endlich – endlich!« Er hatte sie nicht verstanden, nicht verstehen wollen; – gestern noch war er ein Mönch gewesen, hatte er geglaubt, es zu sein, es bleiben zu dürfen. Heute, wo er kein Mönch mehr war, wo er als Mann ihr, dem Weibe, gegenüberstand, fürchtete er, sie zu begreifen, und es durchschauerte ihn mit bangem Entsetzen.
Er war zurückgewichen, damit ihre Hand ihn nicht berühren sollte, und starrte sie mit großen, brennenden Augen an. »Ja,« sagte er, »wir beten fortan zu einem Gotte, Gräfin Donata. Und dieser Gott ist ein Gott der Liebe und Versöhnung, keiner des strengen Fanatismus und des ehernen Formengesetzes, kein Gott, der von uns je forderte, gegen unser menschliches Empfinden und gegen das heiße Klopfen unseres Herzens zu handeln. Wie aber ist es gekommen, Frau Gräfin, daß Sie heute bereit sind, diesen Gott zu verleugnen und den anderen anzubeten, zu dessen Ehre seit den Jahrhunderten der Weltgeschichte menschenmordende Kriege entbrannt sind, Scheiterhaufen flammten und Gewissen geknebelt wurden, in dessen Namen die schwersten und unsühnbarsten Verbrechen begangen worden sind, welche das Gedächtnis der Menschheit kennt, und welche den Namen Mensch schänden? Wie ist das gekommen, Gräfin?«
Sie sah ihn mit einem stillen, glücklichen Lächeln an. »Und das verstehst du nicht?« fragte sie mit einer weichen, zärtlichen, träumerischen Stimme, wie er sie noch nie aus ihrem Munde vernommen. »Wirklich nicht? Welch ein Tor du bist, Innocenz! Um deinetwillen wollt' ich's tun und mußt' es wohl, denn du hieltest mich ja in deinem Bann, unwiderstehlich und unentrinnbar. Ich war in deiner Macht. Was sollt' ich denn nun tun, da du von mir fordertest, ich müsse zu deinem Glauben übertreten, denn es sei der einzig wahre und der einzig beseligende? Ich hätte ja doch viel mehr und ganz anderes noch für dich tun müssen, wenn du es von mir verlangt hättest. Dies aber schien mir nicht allzu schwer. Und seit ich mein Kind verloren habe, hängt mein Herz ja an nichts sonst mehr in der Welt, und ich bin ganz willenlos dein. Solang' es lebte, hatt' ich Widerstand, da war ich noch kraftvoll und trotzig und voll Eigenwillens, da hättest du mich nimmer bezwungen, Innocenz, o nein, nimmer. Aber seitdem – jetzt –«
Ihr Antlitz kehrte sich nicht von ihm ab, und ihre Augen ließen ihn nicht los. Sie hatte sich wieder im Gestein niedergelassen, das Kinn in die Hand gestützt, und das glückselig-träumerische Lächeln um ihre Lippen schwand nicht. Innocenz starrte sie in wachsendem Entsetzen an. So also stand es um sie, so! Nun, sie hatten ja wieder einmal klug gerechnet und genau alles vorherbedacht, die großen Rechner, die zur Ehre Gottes mit Menschenherzen ihr Spiel trieben und mit den Empfindungen einer Frauenseele ihre Exempel anstellten, als wenn es bloße Zahlen wären. Nur in einem Faktor hatten sie sich diesmal getäuscht, und das war er selber, wollte er selber sein. Ein heiliger Zorn schwellte seine Brust. »Gräfin Donata,« sagte er, schwer atmend, »deshalb also! Deshalb allein wollten Sie es. Und Sie wußten nicht mehr, wollten nicht mehr begreifen, welch ein ungeheurer Frevel es gewesen wäre, – welch ein Betrug, welch eine Lüge! Ich danke Gott, daß Ihnen und mir in letzter Stunde Erleuchtung geworden ist und dies uns erspart blieb!«
Sie nickte. »Ja, es ist besser so und schöner,« sprach sie immer im gleichen Ton, halb wie zu sich selber, und ihre Blicke blieben hingebungsvoll auf ihm ruhen. »Und eins möcht' ich noch wissen, Innocenz,« fuhr sie dann lebhafter fort, während er schweigend die Lippen zusammenbiß und ein furchtbarer Kampf ihn durchtobte, »hat man dich deshalb zu mir geschickt, weil man wußte, du würdest über ein heißes Frauenherz, das noch niemals geliebt hat, Macht gewinnen? Ahnte man's, daß ich dir nicht würde widerstehen können, wenn sich auch alle anderen vergeblich gemüht hatten, mich zu unterjochen? Oder war's nur ein Zufall? Fiel die Wahl nur auf dich, weil du ein begeisterter Priester deiner Religion warst und in deinem Glaubenseifer die wärmsten und überzeugendsten Worte finden konntest, mich zu bekehren? Sag' mir's, Innocenz! Ich will Wahrheit darüber haben!«
Seine Blicke hatten sich noch mehr verfinstert als zuvor. Er stand vor ihr, die Arme über der heftig arbeitenden Brust gekreuzt. »Sie haben die schmähliche Wahrheit erraten,« kam es über seine zaudernden Lippen, »es war so, – man wählte mich, weil man die Macht des Priesters über die verirrte Seele verstärken wollte durch die des Mannes über das Weib. Erst heute erfuhr ich's, – ich hätte sonst – beim Allmächtigen! – diese Mission von mir gewiesen, die mein Kleid schändete, und ihnen den Gehorsam aufgekündigt, und wenn es mein Lohn dafür geworden wäre, lebenslang in einer ihrer Bußzellen zu schmachten oder für immer in der Nacht einer ihrer geheimnisvollen Kerker zu verschwinden. Heute erst hat man mir die Augen geöffnet. Und das Licht, das zu ihnen hineindrang, schmerzte nicht so, daß ich sie hätte schließen müssen, sondern es tat mir wohl, und ich trank das Licht der Wahrheit in mich, und von mir fiel alles ab, was noch an Bedenken und Zweifeln, an feigem Zögern und bangem Schwachmut in mir gewesen war, und ich ging als ein neuer Mensch hierher, um Ihnen zu sagen, ich sei kein Mönch und kein Priester mehr. Und nun wissen Sie alles, Frau Gräfin.«
»Ich dacht' es,« murmelte sie, »ich dacht' es lange. Sie sind so klug, sie wissen, wie man Seelen fängt; und wenn alle anderen Mittel fehlschlagen, muß man zu diesem letzten greifen.« Sie lächelte. »Nun, es war gut so, es war ja gut so. Was haben sie nun erreicht? Statt eine Seele zu gewinnen, haben sie eine verloren, deren sie sich ganz sicher wähnten, und sie hätten dich so gern zu einer großen Leuchte ihrer Kirche und zu einem streitbaren Helden ihres Glaubens herangebildet. Nun ist das alles vorbei. Die klugen Rechner haben allzu spitzfindig gerechnet. Und jetzt gehören wir für allezeit zusammen, wir zwei.«
Sie sprach die letzten Worte wiederum wie aus einem Traume heraus, in dem sie befangen war, und das Lächeln, das ihre Lippen umspielte, dünkte ihn jetzt wie das einer Irrsinnigen. Eine namenlose Angst überfiel ihn. »Gräfin,« sagte er beklommen, »lassen Sie uns gehen! Es ist ein so trauriger Platz hier. Und Sie müssen nach Hause. Ihre Stirn glüht – ich fürchte, Sie sind krank, Sie haben Fieber –«
Sie lachte sorglos auf. »Welch unnötige Furcht! Nein, nein, nein, ich bin nicht krank. Ich war's; aber jetzt bin ich ja genesen, ganz genesen. Alles ist so frei und so leicht in mir geworden. Und Fieber? Du lieber, törichter Mensch, begreifst du denn nicht, was das für ein Fieber ist? Ja, die Leidenschaft ist auch ein Fieber, Innocenz, und rast durch unsere Adern und läßt unser Blut sieden, und wir fühlen uns über uns selbst hinausgehoben und sind neue Menschen. Nicht wahr? Du wirst es ja auch wissen. Es ist, als ob man nun erst geboren wäre.«
Seine angstvolle Erregung wuchs. »Um Gottes willen, Gräfin,« stammelte er, »was reden Sie da? Sie müssen wirklich nach Hause. Lassen Sie uns doch gehen, ich beschwöre Sie, lassen Sie uns gehen!«
»Nach Hause?« wiederholte sie und lächelte ihn unbefangen an, »wo ist denn mein Haus? Wo du bist, Innocenz, da bin ich daheim, und überall sonst ist die Fremde, die kalte, liebeleere Fremde.«
»Gräfin!« schrie er auf, »haben Sie denn vergessen, daß Sie die Gattin des Grafen Karditsch sind?«
Sie schüttelte den Kopf. »O nein, nein,« sagte sie ruhig, als redete sie im Schlafwandeln, »nichts hab' ich vergessen, gar nichts. Seine Gattin, sagst du, Innocenz? Seine Gattin bin ich doch nur vor den Menschen, vor meinem Herzen nicht, gewiß nicht. Aber das weißt du ja alles. Und jetzt, wo du kein Mönch und kein Priester mehr bist, weißt du ja auch, daß die Ehe kein Sakrament ist, wie deine Kirche es dich gelehrt hat, daß es nur ein Sakrament gibt: die Liebe. Denkst du nicht mehr an die arme, unselige Frau, der du vorlügen mußtest, sie sei das Weib eines anderen, der sie ihrem jetzigen Manne gegen Geld überlassen hatte, bloß weil deine Satzungen dich dazu zwangen? Wie könnte dich das jetzt noch schrecken, Innocenz, daß ich vor der Welt eines anderen Mannes Weib bin? Ich liebte ihn ja nicht, habe ihn nie geliebt. Dich lieb' ich und dich allein! Du bist die erste und die letzte Liebe meines Herzens, Innocenz! Du bist ja jetzt frei, hast dich endlich frei gerungen, – wir beide sind es. So lass' uns nun zusammen in die Welt hinausgehen; wir sind ja eins, wir gehören zusammen. Weshalb wolltest du jetzt noch feige Bedenken hegen und sinnlose Rücksichten nehmen? Komm'! Lass' uns gehen! Aber nicht dorthin zurück, von wo wir kamen, sondern ins Leben hinaus, – in ein neues Leben!«
Sie war aufgestanden und hatte nach seiner Hand gegriffen, aber er entriß sie ihr und trat mit allen Zeichen fassungslosen Entsetzens zurück. »Gräfin,« stammelte er, »Sie wissen nicht, was Sie reden, – zu wem Sie reden!«
»Nicht?« erwiderte sie in seltsam gedehntem Ton, der ein erstes Aufdämmern des Verstehens verriet, »ich wüßte das nicht? Ich weiß es so klar und sicher, wie ich weiß, daß da droben die Sonne zu unseren Häupten steht. Und du entziehst mir deine Hand, Innocenz? Wozu dies Gaukelspiel? Du willst nicht mit mir gehen? Was also soll denn werden?«
Es zuckte schmerzlich in dem Gesicht des Mönches, als er mit einer Stimme, die gezwungen fest klang, entgegnete: »Was werden soll? Das muß jeder von uns mit sich selber ausmachen, Gräfin Donata. Unsere Wege sind nicht die gleichen, – darin irren Sie sich. Ich gehe, aber ich gehe allein!«
»Allein?« Es brach wie ein wahnsinniger Schrei von ihren Lippen, »allein? Warum?« Und als er nicht antwortete, sondern nur, mit seiner Bewegung kämpfend, sie voll heißen Mitleids anblickte, klang es hinterdrein: »Liebst du mich denn nicht, Innocenz?«
Jetzt hatte sie seine Hand ergriffen und hielt sie fest und klammerte sich daran, und ihre Augen bohrten sich in die seinen, während ihr todblasses Antlitz völlig bewegungslos blieb. Wie ein Ruf tiefster Seelenqual, haltlos irrender Verzweiflung war die letzte Frage ihm ans Ohr geklungen. Und er wagte nicht zu antworten, er konnte nicht. Aber sie verstand ihn dennoch. Langsam, ganz langsam lösten ihre eiskalten Finger sich von den seinen ab, und ein düsterer Schatten flog über ihr wieder völlig versteinertes Antlitz. Innocenz konnte die Vorstellung nicht loswerden, daß der Todesengel an ihr vorübergestrichen sei und sein dunkler Fittich über ihr Gesicht geschattet habe. »Gräfin,« stotterte er in wildem Schmerz.
Sie aber winkte ihm mit der Hand hoheitsvoll, zu schweigen. »Es ist gut so,« brachte sie mühsam heraus, »ich danke Ihnen. Ich war wohl wirklich von Sinnen, zu glauben, daß auch Sie – weil ich –. Es war Wahnsinn, gewiß. Und es war edel von Ihnen und groß, daß Sie keine Lüge über die Lippen brachten. Jetzt wäre eine Lüge ja doppelt frevelhaft gewesen, jetzt wollen wir beide nur noch Wahrheit, Wahrheit, – und wenn sie auch versteinert, wenn sie auch tötet! Nochmals: ich danke Ihnen. Vergessen Sie diese Stunde und meine Worte. Leben Sie wohl!«
Er sah sie gehen, er brachte kein Wort der Erwiderung heraus, nicht einmal einen Abschiedsgruß. Da gewahrte er, wie sie sich mit der Hand über die Stirn hinstrich und nun an den Rand der Tiefe vortrat und sich hinüberbeugte und nun – ein furchtbarer Schrei brach von Innocenz' Lippen: »Donata!«
Im nächsten Augenblick war er neben ihr, hatte sie von dem schwindelnden Abgrund zurückgerissen, hielt ihren Leib umschlungen, erwehrte sich ihrer Arme, die sich von den seinen lösen wollten. »Lassen Sie mich! Ich muß! Ich will! Hinab will ich! Glauben Sie, ich könnte auch das noch überleben, – jetzt noch leben bleiben?«
Zwischen ihren ächzenden Atemzügen kam es stoßweise hervor, und ein gellendes Hohnlachen scholl hinterdrein. Ein kurzes, verzweifeltes, wahnsinniges Ringen begann. »Nein, nein, ich lasse Sie nicht!« schrie Innocenz und hielt sie mit übermenschlicher Kraft über dem Abgrund. Ihre heißen Atemzüge vermischten sich miteinander, ihre Augen glühten einander an, wie in tödlichem Haß.
Da plötzlich scholl drunten von der Teufelskanzel her in den furchtbaren Kampf hinein eine gellende Stimme: »Lass' los, nichtswürdiger Pfaff! Lass' los! Hab' ich dich endlich auf frischer Tat ertappt, Schandbub'? Lass' los, sag' ich! Jetzt bist hin! Mein ist sie, hörst's? Mein!«
Unwillkürlich hatten seine Arme das Weib freigegeben, schreckgelähmt starrte er in die Tiefe hinab. Da gewahrte er den Jäger-Lenzl dort, der den Stutzen an die Backe hielt und gerade zu ihm hinaufzielte. Ohne mit den Wimpern zu zucken, ohne eine Gliederregung blieb er stehen. Er hatte in diesem Moment keinen Gedanken an Flucht oder Rettung. Und da krachte auch schon der Schuß, der ihm gelten sollte –
Aber im gleichen Augenblick hatte auch die Gräfin sich mit in die Luft geworfenen Armen über ihn gestürzt. Nur ein jäher Aufschrei hatte sich ihren Lippen entrungen, dann hatte sie ihn zur Seite gerissen, mit ihrem Körper den seinigen gedeckt.
Dröhnend rollte der Schuß, ein lang nachhallendes Echo weckend, an den gewaltigen Felswänden hin, gleich einem betäubenden Donnerschlag. Dann gellte von den Lippen dessen, der ihn abgefeuert, ein irrer Aufschrei. Von der Höhe der schmalen Felsplatte herab, an deren Rande sie gestanden, war Donata zu seinen Füßen niedergestürzt, – nicht mehr Donata, sondern ihr blutüberströmter Leichnam, den beim Sturz noch das zackige Gestein furchtbar zerrissen und entstellt hatte.
Der Jäger-Lenzl warf seine Büchse von sich und sank neben der Toten nieder wie ein gefällter Baumstamm. Narrte ihn denn ein Spuk der Hölle? Aber nein, nein, – da war's, da war seine Kugel ihr in den Rücken gedrungen und vorn durch das Herz wieder ausgetreten. – Er, er hatte sie ermordet, statt den zu treffen, der sie ihm hatte entreißen, der dies herrliche Weib hatte besitzen wollen, den Pfaffen, den scheinheiligen Ehrenräuber! Wie ein wildes Tier dieser Felsöde brüllte er auf, als er sich dessen klar ward. Dann aber raffte er sich empor, wie mit einem verzweifelten Entschlusse. Mit einem irr-wollüstigen Stöhnen riß er den zerschmetterten Leichnam Donata in seine Arme und trat mit seiner Last so langsam, Schritt für Schritt, den Abstieg an. Ein abwesendes Lächeln lag dabei um seine Lippen, seine Augen verschlangen mit einem Ausdruck grausigen Entzückens die verstümmelte Lieblichkeit dieser Züge, er fühlte mit selig-entsetztem Schauer die herrliche Rundung dieser zertrümmerten Formen an seiner Brust. Dann blickte er mit jäh und flüchtig auftauchender Erinnerung noch einmal nach der Felshöhe zurück, wohinauf er vorher den Lauf seiner Büchse gerichtet hatte. Wo war der geblieben, dem seine Kugel eigentlich gegolten hatte? Er sah ihn droben nicht mehr, und schritt, ohne seiner zu gedenken, weiter mit seiner Bürde talab.
Innocenz hatte mit dem letzten Verglimmen seines Bewußtseins nur noch das Furchtbare erschaut und begriffen: Donata tot, Donata um seinetwillen gestorben, – als Leiche auf dem Platze drunten, auf dem sie sich einst in einer Vision als Tote gesehen, vor dem es ihr immer gegraut und wohin es sie dennoch unwiderstehlich gezogen hatte. Dann sah und wußte er nichts mehr. Er war auf das harte Gestein niedergestürzt, aus einer schweren Kopfwunde sickerte sein Blut, und die Sinne verließen ihn.