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V

Innocenz lag in heißem Ringen vor seinem Betschemel, als es an seiner Tür pochte. Er war kaum verwirrt emporgefahren, als zu seinem Erstaunen der Pfarrer Aloys Antholzer bei ihm eintrat. Es war das erstemal, daß derselbe ihn aufsuchte, und sichtlich befand er sich in einer bei ihm auffallenden Erregung. Er kam in Hemdärmeln, so wie er von der Hobelbank aufgesprungen war, und hielt ein aufgerissenes Schreiben in der Hand, dessen Siegel noch an kleinen bunten Schnüren herabhingen. »Dies ist mir vor einer Stunde durch einen besonderen Boten überbracht worden,« sagte er, und in seinen Worten klang noch immer die Nachwirkung eines so unerhörten Ereignisses, »nun ist endlich klar, weshalb man Euch hierher gesandt hat.«

Er ließ sich auf den einzigen Sessel in der Kammer nieder und starrte in das Blatt, als ob er den Inhalt desselben immer noch nicht recht begriffen habe. »Weshalb man mich hierher gesandt hat?« wiederholte Innocenz, der sich nur langsam von seiner Verwirrung losmachte. »Ich denke, darüber hat nie ein Zweifel bestanden.«

Der Pfarrer schüttelte den Kopf. »Wenn Ihr nicht zur Strafe hierhergesandt wurdet, begriff ich's nicht. Keiner könnt' es begreifen. Nun steht's da.« Er schlug mit der Hand auf das Papier. »Die Gräfin Karditsch sollt Ihr bekehren, das ist Eure Mission hier. Mir traut man's natürlich nicht zu und unserem Bruder Ladurner ebensowenig. Da ist ein Spezialgesandter notwendig geworden, und natürlich hat man einen Mönch geschickt, einen vom Benediktinerorden. Die gelten als die weltgewandtesten, seit die Jesuiten in schlimmen Ruf gekommen sind und leicht Argwohn erregen. Um es nun unauffällig zu machen, hat man Euch selber im unklaren gelassen über Eure Aufgabe hier, bis die Zeit gekommen war, wo Ihr sie erfahren mußtet und Land und Leute kennengelernt hattet. Daß ich alt und gebrechlich bin, gab den besten Vorwand, Euch hierher zu senden. Uneingeweihte konnten keine geheimnisvollen Zwecke hinter dieser Sendung wittern. Und nun sollt Ihr Euch des Vertrauens, das Eure Oberen in Euch gesetzt haben, würdig erweisen, Bruder Innocenz.«

Der Mönch hatte mit steigender Verwunderung zugehört, wie der Pfarrer das alles, immer in das Schreiben blickend, das er entfaltet vor sich in den Händen hielt, abgebrochen hervorstieß, allmählich wieder mehr und mehr in seinen müden Stumpfsinn zurückfallend. Er hatte in der Tat von einer solchen Mission, die ihn hierher geführt, keine Ahnung gehabt, und der Gedanke an die ernste und hohe Aufgabe, die ihm anvertraut werden sollte, erfüllte ihn mit einem stolzen Dankesgefühl. War es nicht eine Fügung des Himmels, daß er gerade jetzt ein so verantwortungsvolles Amt zugewiesen erhielt, wo er sich dem unseligen Weibe in der Sägemühle gegenüber ohnmächtig und hilflos gefühlt hatte? War es nicht, als sollte er in einem heiligen Glaubenskampfe, in den man ihn aussandte, und in dem er alle Kraft seiner Überzeugung, alle heißatmige Beredsamkeit seines Priesteramtes als Bundesgenossen aufrufen mußte, das verlorene Gleichgewicht seiner Seele wiederfinden und mit neuer Stärke, neuer Zuversicht, Klarheit und Ruhe sich durchdringen lassen? Wahrlich, der liebreiche Gott meinte es wohl mit ihm und gab ihm ein sichtbares Zeichen der Gnade, damit er nicht verzage oder schwach werde, sondern alle jäh aufgestiegenen Zweifel niederkämpfe in siegesgewisser Begeisterung für die heilige Sache.

»Die Gräfin Karditsch ist Protestantin?« fragte er. »Wie ist das möglich? Die Grafen Karditsch sind ja ein uraltes krainisches Feudalgeschlecht, das von jeher zu den festesten Stützen unseres Glaubens gehört hat. Angehörige desselben haben hohe geistliche Würden bekleidet.«

Der Pfarrer zuckte die Achseln. »Eben deshalb ist ihr Ketzertum für die Kirche solch ein Stein des Anstoßes, und sie soll um jeden Preis bekehrt werden. Der Graf selber wünscht nichts sehnlicher als das und läßt Euch alle Freiheit – aber lest doch selber!«

Er reichte ihm das Schreiben. »Es ist vertraulich,« sagte der Mönch zögernd.

Aloys Antholzer machte eine gleichgültig-wegwerfende Handbewegung. »Also darf ich darüber schalten, wie ich will. Lest nur!«

Innocenz las. Es ergab sich aus dem ausführlichen Schreiben, daß Graf Karditsch, der letzte Sprosse eines altangesehenen Geschlechtes, das in Krain ausgedehnte Güterkomplexe, ein Haus in Wien und ein Jagdschloß auf der Lahn in Tirol besaß, vor etwa sechs Jahren eine Dame aus protestantischer niederösterreichischer Adelsfamilie, die Freiin Donata Weylburg, geheiratet hatte. Die Vermählung war sowohl nach protestantischem wie nach katholischem Ritus vollzogen worden, da ein Übertritt der Verlobten zum katholischen Glauben nicht hatte erreicht werden können. Sie hatte ihrem Bräutigam auf dessen inständiges Drängen zwar das Versprechen gegeben, zu seiner Religion überzutreten, sobald sie zu der Überzeugung gelange, daß sie dies ohne Gewissensskrupel und ohne Heuchelei über sich vermöge; sie hatte auch die Besuche des gräflichen Beichtvaters geduldet und war bereitwillig auf dessen religiöse Gespräche und seine Erläuterungen der katholischen Glaubensnormen eingegangen, aber nur um dem Grafen danach zu eröffnen, daß sie bei ihrem eigenen Glauben bleiben müsse. Ein späterer Versuch, der nach der Verehelichung auf dem krainischen Stammgut durch den Ortsgeistlichen stattgefunden hatte, war ebenso fehlgeschlagen, trotzdem die Gräfin sich damals Mutter gefühlt hatte und bei der Heirat das Versprechen abgegeben worden war, die der Ehe entstammenden Kinder in der katholischen Konfession erziehen zu lassen, ein Versprechen, ohne welches die katholische Kirche bei der Vermählung des Paares ihre Mitwirkung überhaupt versagt haben würde. Der bald darauf geborene Knabe war denn auch in den Schoß der katholischen Kirche aufgenommen worden, die Gräfin aber hatte bei ihrem Ketzertum beharrt, und es hatte nicht ausbleiben können, daß infolgedessen allmählich eine Entfremdung zwischen den Gatten eingetreten war, welche dem Grafen den dringenden Wunsch nahelegte, doch noch früher oder später bei seiner Gemahlin das heißersehnte Ziel zu erreichen. Zu diesem Behuf hatte er dieselbe in Begleitung seiner Mutter, der Gräfin Theodora, nach Schloß Peutelstein auf der Lahn gesandt, wozu die neuerdings geschwächte Gesundheit derselben einen willkommenen Vorwand geboten, weil ihm die Stille und Erhabenheit des einsamen Hochgebirges als der geeignete Boden erschienen war, auf welchem die Einkehr bei sich selber und die Erkenntnis des wahren Heiles der Seele ihr gedeihen konnte. Zugleich aber hatte er durch den ihm befreundeten Bischof Ermeling in Villach die Beihilfe der Kirche erbeten und dafür in Aussicht gestellt, im Falle der Bekehrung seiner Gemahlin dem der Jurisdiktion des Bischofs unterstehenden Benediktinerkloster zu Greifenburg eine reiche Schenkung an Bargeld und Immobilien zu übermachen, welche für alle Zeiten als sichtbarer Ausdruck seiner Erkenntlichkeit gelten konnte. Daraufhin war der Bruder Innocenz als ein glaubenseifriger Streiter für die heilige Sache des Katholizismus auserwählt worden, um das Werk, dessen Gelingen nicht nur der Kirche zu Ehr und Nutzen, sondern auch einer irrenden Menschenseele zum wahren Heil verhelfen sollte, zu vollbringen unter dem gnädigen Beistand des dreieinigen Gottes. Dem Pfarrer Antholzer wurde aufgegeben, dem Mönch, den man ohne Kenntnis der Aufgabe, deren Lösung man von ihm erwartete, ausgesandt hatte, um seine Seele nicht vorzeitig mit Besorgnis zu beschweren, die Wege zu ebnen und ihm in allen Stücken als Helfer und Berater zu dienen. Da die Gräfin Theodora Karditsch eine eifrige Anhängerin der heiligen Kirche und überdies in die Mission des Bruders Innocenz eingeweiht sei, ständen der Einführung desselben auf Schloß Peutelstein keinerlei Schwierigkeiten im Wege.

»Nun?« fragte der Pfarrer, als Innocenz ihm das zusammengefaltete Schreiben wieder zurückreichte.

»Ich werde noch heute nach Schloß Peutelstein hinübergehen,« versetzte der Mönch.

Damit war die Unterredung zwischen den beiden, die sich nie viel zu sagen wußten, zu Ende. Aloys Antholzer hatte die Erregung, in welche ihn das Erscheinen eines Expreßboten mit dem bischöflichen Schreiben versetzt hatte, schon wieder völlig überwunden, und sein Gesicht zeigte den nämlichen müdleeren Ausdruck wie immer, als er gleichgültig nickend die Kammer des Mönches verließ.

Nach der Mahlzeit, an der jetzt Resi immer teilnahm, und die völlig schweigsam zu verlaufen pflegte, machte Innocenz sich auf den Weg. Das Gefühl dumpfer Ratlosigkeit und bangen Zweifels, mit dem er heute morgen aus der Sägemühle heimgekommen war, hatte einer heißen Kampffreude Raum gemacht, welche ihm die Seele schwellte. Er war durch das Vertrauen, das seine Oberen ihm zollten, und durch den Reiz seiner erhabenen Aufgabe wie über sich selber hinausgehoben. Die Gräfin hatte er seit jener ersten seltsamen Begegnung nicht wiedergesehen und nicht geahnt, daß er ihr noch einmal so werde gegenübertreten müssen, wie es nun seine heilige Mission von ihm verlangte. Seit er wußte, daß sie eine Ketzerin war, begriff er erst, was ihm in ihrem Wesen damals befremdlich aufgefallen war. Sie stand der Kirche feindlich gegenüber und achtete diejenigen nicht, die sich ihre Diener nannten. In ihm aber lebte eine unerschütterliche Zuversicht, daß es ihm gelingen werde, dies schöne Weltkind auf den Pfaden des Glaubens in den Schoß der alleinseligmachenden Kirche zurückzuführen und durch solch heiligendes Werk sich selbst die Seele von allen Zweifeln und von aller Lässigkeit im Glauben wieder rein zu baden. Nie war er mit feurigerer Entschlossenheit an die zu lösende Aufgabe herangetreten.

Der Weg zum Schlosse führte ihn an den wild zerklüfteten Hängen des Roßkamms entlang durch eine öde, trümmerbedeckte Felslandschaft. Plötzlich aber geriet er an einer Pfadkrümmung mitten in ein Walddickicht. Prächtige, pyramidenartig geformte Lärchen, deren helles Grün sich von dem lichtgrauen Gewände abhob, klommen hier an den ragenden Höhen empor und verdeckten mit den sich im Wind gegeneinander neigenden Wipfeln jeden Ausblick in den Himmel hinauf. Hier murmelte ein Bach zwischen übermoostem Gestein, und Vögel schmetterten im Gezweig. Es war wie eine andere Welt voll freundlicher Anmut, die mitten in diese hehre Großartigkeit hineinversetzt worden war. Nach hundert Schritten ragte unter den Bäumen das schmucke, steinerne Forsthaus auf, und eine Weile später erblickte man drüben zwischen den Stämmen hindurch unter den ragenden Zacken der Dolomiten das Jagdschloß Peutelstein.

Von hier aus gesehen erregte es nicht den Eindruck des Lockenden und Lebensfreudigen wie damals, als der Mönch es durch die Felsenge auf seinem ersten Wege in das Reich der Dolomiten in Begleitung der alten Wurzin von Moosbrunn geschaut hatte, es lag vielmehr düster und drohend unter einem grauen, wolkenüberflatterten Himmel da, ein trotziger Quaderbau, der den Gefahren dieser Felsenwildnis die Stirn bieten zu wollen schien. Dazu regte sich nirgends Leben in seiner Nähe. Das Jagdschloß war der einst hochberühmten, talsperrenden Veste gleichen Namens nachgebildet worden, an deren Entstehung im neunten Jahrhundert sich mancherlei unverbürgte Sagen knüpften, und die in den Kämpfen deutscher Kaiser mit der Republik Venedig mehrfach eine geschichtlich merkwürdige Rolle gespielt hatte, bis sie endgültig zu Tirol gekommen, dann vernachlässigt, verfallen und schließlich vom Erdboden verschwunden war. Die Laune eines reichen Feudalherrn, dem hier weite Jagdgründe zu eigen waren, hatte das Schloß nach noch erhaltenen alten Zeichnungen ins Leben gerufen und dann einem friedlicheren Zwecke geweiht, als zu dem sein Vorbild in eisernen Zeiten gedient hatte.

Als Innocenz sich dem Bau näherte, schlugen zwei Hunde, die vor dem Portal an der Kette lagen, ein wütendes Gekläff an. Ein Diener trat daraufhin aus einer zur Rechten befindlichen Loge und fragte den Ankömmling ehrerbietig nach seinem Begehr. Als er erfahren hatte, daß derselbe die Gräfin-Mutter zu sprechen wünsche, geleitete er ihn unter der Mitteilung, daß dieselbe sich augenblicklich zur Mittagsruhe zurückgezogen habe, in Kürze aber wieder erscheinen werde, durch den läuferbelegten, kellerluftigen Steinkorridor des Schlosses in ein zu ebener Erde gelegenes Gemach, in dem er ihn zu warten bat. Dann zog er sich wieder zurück, die Tür geräuschlos hinter sich zudrückend.

Innocenz befand sich in einem mit verschwenderischem Luxus ausgestatteten Boudoir, wie er es hinter diesen düster-ernsten Steinmauern niemals vermutet hätte. Sein Schritt erstarb hier lautlos in dem weichen Teppich, der den ganzen Boden des Gemaches bedeckte, und der dunkle Ton, in dem die Farbe der Wände wie der Möbel gehalten war, erregte den Eindruck vornehmer Stille. Alles zeugte hier von feinem Geschmack und gediegenem Reichtum, und es war, als ob der Gegensatz zu der starren Gebirgsöde draußen mit voller Absichtlichkeit reizvoll hervorgekehrt worden sei. In einem Glasschrank von schwarzem Ebenholz, dessen Tür halb geöffnet war, standen mehrere Reihen von Büchern. Innocenz konnte sich nicht verhehlen, daß es ihn gelockt haben würde, darunter zu wählen. Als er näher herantrat, um wenigstens unter den Titeln Umschau zu halten, gewahrte er erst ein Bild in breitem Goldrahmen, das über dem Samtdiwan an der Wand hing. Als er zu ihm aufblickte, erschrak er heftig. Es war ein Breitbild, das in einer lieblichen Landschaft zwei weibliche Gestalten an einem Brunnenbecken gelagert darstellte, beide von unbeschreiblichem Liebreiz umflossen; aber während die zur Rechten Sitzende sittig gekleidet war, dehnte die andere in herrlicher Nacktheit ihre Glieder am Rande des Beckens. Goldenes Haar wogte ihr fessellos über den Nacken herab, und in vollendeter Grazie der Bewegungen schien sie der Gefährtin mit der Hand die lachende Schönheit des Lebens um sie her zu weisen, ohne sich ihrer Nacktheit bewußt zu sein. Wie ein berauschender Traum wehte das Bild den gebannten Betrachter an. Er stand wie in eine andere Welt entrückt, und sein Auge konnte sich an der vollkommenen Harmonie dieser Glieder, an dem Farbenreiz der leuchtenden, siegesgewissen Schönheit dieses Wunderwerkes nicht satt trinken. Wie eine neue Erkenntnis ging sie ihm plötzlich auf. Daß er da ein nacktes Weib vor sich sah, wußte, empfand er gar nicht. Er schwelgte nur in dem entzückenden Gleichmaß dieser Linien, in dem glanzvollen Zauber dieser Farben.

Das also war die Kunst! Nun kannte, nun verstand er sie plötzlich. Und ein seliger Gedanke, ein Bangen vor etwas Übergewaltigem rieselte ihm durch die Glieder. Neulich in der St. Ulrichskapelle hatte er nur erst geahnt, welch eine Wunderwelt sie umschloß und vor ihm auftun könnte, heute, hier wußte er es, bebte es in jedem seiner rascheren Herzschläge nach, kreiste es in jedem Blutstropfen.

Und noch ein anderes begriff er, während er immer noch dastand und seine Blicke in das Niegeschaute versenkte: der Maler, der in der Ulrichskapelle die Felslandschaften auf die Wand gezaubert hatte, und der Schöpfer dieses Bildes hier waren entweder ein und dieselbe Person, oder sie waren doch beide von dem gleichen Geiste durchdrungen gewesen und gehörten der gleichen geistigen Umgebung und dem gleichen Lande an. Denn etwas unzweifelhaft Verwandtes sprach aus den Kunstschöpfungen dort und hier; nur daß dort geahnt und gewollt war, was hier zur herrlichsten Vollendung gediehen war, daß dort ein Jünger die Kunst zu verwirklichen versucht hatte, was hier ein Meister in ihr auf der blühenden Mittagshöhe seines Wollens und Könnens mit sieghafter Sicherheit geschaffen. Der Mönch kannte seinen Namen nicht, aber er wußte, daß es einer der leuchtendsten sein müsse, die je am Himmel der Kunst gestrahlt hatten und die man in Äonen nicht auszusprechen verlernen würde.

Und in dieser Kunst, deren vollkommenster Ausdruck ihm hier vor Augen trat, wollte er selber mit stümpernder Hand dem großen, unbekannten Meister nachzueifern versuchen? Welch törichte Vermessenheit war das! Wenn nirgends sonst, hier mußte er seine Ohnmacht ja wohl fühlen. Und doch wollte der heiße Drang in ihm nicht still werden, auch jetzt hier nicht. Im Gegenteil: es war, als ob er nur neue, bis dahin unbekannte Kräfte in sich hinüberströmen fühlte. Ein brennender Ehrgeiz war in ihm erwacht. In seiner Seele gärte und wogte es ungestüm.

In seiner Versunkenheit hatte der Mönch nicht gewahrt, daß die Türe eines Nebengemaches leise aufgegangen war und eine hohe, dunkle Frauengestalt unter dem Rahmen derselben erschien, die jetzt einen düster-erstaunten Blick auf den Mann im Mönchsgewande warf, der da in stummer Andacht vor dem Bilde stand. Sie konnte seine Züge von hier aus nicht erkennen, sondern sah nur seine hohe, vornehme Gestalt, die das dunkle Klostergewand trefflich kleidete. Sie bot in ihrem schlichten, hoch am Halse schließenden schwarzen Seidenkleide ein Bild fast klösterlicher Einfachheit und Strenge. Eine schwarze Spitzenhaube umschloß das dünne, graue, dicht anliegende Haar. Das Antlitz darunter wies unverkennbare Spuren einstiger hoher Schönheit auf; jetzt waren die Züge starr und ehern in ihrer Regelmäßigkeit, und der Ausdruck des Gesichts düster und herb. Die grauen Augen unter einer ungewöhnlich hohen, leise gefurchten Stirn blickten finster, ein Zug von Unerbittlichkeit lag um die Mundwinkel ausgeprägt. Die vornehme, königliche Erscheinung der Frau erregte den Eindruck des Unnahbaren; sie sah aus, wie wenn sie, gleich einer Niobe, in ihrem Schmerze versteinert sei. Nur manchmal lohte in der Tiefe ihrer Augen ein Strahl auf, der eher auf religiösen Fanatismus, von dem ihr ganzes Wesen beherrscht war, hinzudeuten schien, als auf eine durch irdisches Weh hervorgerufene Erstarrung aller weicheren Regungen ihres Innern.

Als der Mönch sich bei einem durch ihr Weiterschreiten verursachten Rauschen ihres Kleides jählings umwandte, flog ihm eine heiße Röte über das Antlitz hin. Plötzlich kam ihm zum Bewußtsein, daß die Gräfin seine andächtige Versunkenheit diesem Bilde gegenüber falsch deuten könne, und zornige Scham über sich selber stieg ihm in Wangen und Schläfen. Mit der Gräfin aber war eine merkwürdige Veränderung vorgegangen, als der Mönch ihr sein Gesicht jetzt voll zugekehrt hatte. Sie schrak sichtlich zusammen, fuhr sich mit der Hand nach der Stirn und stammelte zusammenhanglos: »Wer sind – wie kommen Sie? – Heiliger Gott!«

Sie lehnte sich einen Augenblick völlig fassungslos gegen die Wand zurück, die Hand auf ihr Herz gepreßt, todesbleich, halbgeschlossenen Auges. Dann hatte sie den jähen Anfall überwunden, und während Innocenz sie stumm-erschrocken anblickte, sagte sie mit einem flüchtigen Lächeln: »Verzeihen Sie mir, – eine merkwürdige Ähnlichkeit, die mir so unvermutet entgegentrat, – Sie sind der hochwürdige Bruder, den das Kloster Greifenburg uns heraufsendet, nicht wahr?«

Der Mönch verneigte sich ehrerbietig. »Bruder Innocenz,« sagte er, die dargebotene, noch immer schöne und wohlgepflegte Hand der Gräfin flüchtig berührend.

Die Nennung dieses Namens schien abermals eine sonderbare Wirkung auf die Gräfin auszuüben, denn sie verfärbte sich wiederum; aber ihre Worte klangen jetzt ganz ruhig und gemessen, als sie den Mönch bat, Platz zu nehmen, und dann, als sie sich gegenübersaßen, begann: »Sie wissen, welche Aufgabe Ihrer hier wartet, Hochwürden?«

Der Mönch bejahte mit einer Verneigung, und sie fuhr fort: »Ich halte es für meine Pflicht, Sie darauf aufmerksam zu machen, daß es kein leichtes Werk ist, zu dessen Vollendung Sie berufen worden sind, Hochwürden – im Gegenteil.«

»Ich weiß es und um so mehr reizt es mich, es dennoch zu vollbringen.« Innocenz sagte das mit wiedergewonnener Festigkeit, während die Gräfin düster vor sich hin und an ihm vorüber blickte. »Darf ich fragen, ob die Gräfin Donata als Ketzerin nur unserem heiligen Glauben oder ob sie aller Religion überhaupt feindlich gegenübersteht? Ist sie eine starre Protestantin oder eine Zweiflerin?«

»Ich fürchte, sie ist eine Zweiflerin.«

»Das erleichtert meine Aufgabe wesentlich. Haben Sie aber die Güte, mir einiges Nähere über ihre Neigungen und Gewohnheiten mitzuteilen. Ist die Gräfin ein eitles, gefallsüchtiges Weltkind oder ist sie tieferen und heiligeren Regungen zugänglich?«

Gräfin Theodora Karditsch starrte, die Stirn in die Hand gestützt, zu Boden. »Es ist mir schwer, darauf zu antworten,« sagte sie kalt. »Sie ist die Gattin meines Sohnes. Aber ich darf vor dem Vertreter unserer Kirche kein Geheimnis bewahren, und es gilt einem heiligen Zweck. Gräfin Donata ist allem religiösen Leben völlig abgeneigt, sie besucht auch ihre eigene Kirche nicht. Ihr oberflächlicher Sinn findet nur Genuß und Befriedigung, wenn es sich um sogenannte künstlerische Anregungen handelt; sie schwärmt für das Theater, für Bilder, Statuen und Bücher, – Bücher, wie sich von selbst versteht, die einen Sinnenkitzel ausüben, wohl gar der Religion und der Sittlichkeit Hohn sprechen. Sie ist leichtlebig und steht ganz unter den Einflüssen modern-freigeistiger Anschauungen, wie sie in protestantischen Kreisen so häufig zu finden sind. Dabei ist sie eine Mutter, die ihr Kind abgöttisch liebt, – sich zum wenigsten den Anschein gibt, es so zu lieben. Die Gefahr einer Einwirkung auf den künftigen Grafen Karditsch in ungewünschter Richtung liegt begreiflicherweise um so näher, und es ist hohe Zeit, ihren Sinn auf das Bleibende, das Göttliche zu lenken.«

Innocenz hatte aufmerksam zugehört. Die Schilderung der Gräfin Donata entsprach dem Bilde, das er selber aus jener einzigen Begegnung mit ihr gewonnen hatte, doch nicht ganz. Ihre wortlose Versunkenheit angesichts der zauberhaften Lichteffekte, welche der scheidende Tag auf der Riesenmauer des Monte Valdena hervorrief, der Umstand, daß sie den einsamen Platz im wilden Gebirg aufgesucht hatte, nur um sich daran weiden zu können, redeten nicht für einen oberflächlichen Sinn. Die Erwähnung der künstlerischen Interessen der jungen Gräfin hatte ein flüchtiges Rot auf das Antlitz des Hörers gerufen. Zwischen der kalten, strengen Natur der Sprecherin und der warmblütigen, jugendfrohen ihrer Schwiegertochter mochte allerdings ein unüberbrückbarer Abgrund klaffen, aber so wenig sich Innocenz von der harten Schroffheit dieser alten Frau angezogen fühlte, so vorurteilslos nahm er sich vor, der Gräfin Donata entgegenzutreten, um sie im offenen und ehrlichen Kampfe, ohne ihrer innersten Natur Fesseln anzulegen, für die gute Sache zu gewinnen. Noch eine Frage schwebte ihm auf den Lippen, und nun tat er sie zögernd. »Nach allem, was Sie mir da mitteilen, Frau Gräfin, werden Sie vielleicht mein Erstaunen darüber nicht verdammen, daß Graf Alexander Karditsch diese Verbindung überhaupt geschlossen hat –«

Gräfin Theodora nickte leise vor sich hin, während ein unsäglich bitteres Zucken um ihre Mundwinkel ging. Wie in eine weite Ferne hinausblickend, erwiderte sie: »Solch eine Frage legt man uns, die wir auf den Höhen des Lebens wandeln, nicht vor, Pater Innocenz. Man darf sie gekrönten Häuptern gegenüber nicht tun, und auch in unseren Regionen gibt es tausend Antworten darauf – oder keine. Aus welch verschiedenen Rücksichten werden denn unsere Ehen geschlossen! Sie sind alle gleich zwingend oder gleich nichtig, je nach dem Standpunkt, den man dazu einnimmt. Übrigens liebte Graf Alexander seine Gattin.«

»Und die Ehe hat ihr Glück eingebüßt, weil die Verschiedenheit der religiösen Anschauungen die Gatten innerlich entfremdete? Nur deshalb?«

»Ja,« sagte die Gräfin nach kurzem Zögern. Dann trat eine Pause ein, bis sie, sich erhebend, hinzusetzte:

»Ich will Sie jetzt meiner Schwiegertochter zuführen, Pater Innocenz. Auch mit unserem Hauskaplan, dem langjährigen Beichtvater der Familie, welcher durch meinen Sohn wieder zum Erzieher des kleinen Ronald bestimmt worden ist, möchte ich Sie bekannt machen. Pater Pius ist erst seit gestern hier und wird sich glücklich schätzen, Ihnen die Hand drücken zu können. Kommen Sie! Wir werden die Gräfin voraussichtlich drüben in ihrem Boudoir finden.«

Sie schritt ihm voraus und Innocenz folgte schweigend. Sie durchwanderten ein paar gleichfalls üppig ausgestattete Gemächer, die sich an dasjenige schlossen, in welchem sie geweilt hatten, kamen dann an der Schloßkapelle vorüber, in die Gräfin Theodora den Mönch einen Blick tun ließ, ohne daß er Zeit fand, das Altarblatt derselben zu betrachten, und gelangten endlich an ein Zimmer, an dessen Flügeltür die Gräfin pochte, um danach, ohne den Hereinruf abzuwarten, dieselbe rasch zu öffnen. Man hatte von draußen helles Kinderlachen vernommen, durch welches das Klopfen übertönt sein mochte.

Als die beiden eintraten, bot sich ihnen ein anmutiger Anblick. Gräfin Donata lehnte in einem Fauteuil, ihren fünfjährigen Knaben, ein bildhübsches, braunlockiges Kind, auf den Knien und ließ sich von dessen kleinen Händen einen Alpenrosenkranz aufs Haar setzen. Dem Kleinen gelang es sichtlich noch nicht ganz nach seinen Wünschen, und er hatte das schöne, goldblonde Haar seiner Mutter arg dabei zerzaust. Nun hing es ihr wirr um die Stirn, und die großen, klaren Augen blickten wie durch einen goldigen Schleier darunter hervor. In leichter Verwirrung sprang sie auf, als die beiden eintraten, und warf das Haar mit einer ungezwungenen Bewegung in den Nacken zurück. Dann nahm sie den Knaben, der sich verschüchtert an ihr Kleid schmiegte, bei der Hand und kam, den Kranz rasch auf seinen Kopf drückend, der Gräfin-Mutter mit ruhiger Freundlichkeit entgegen. Ihr Gesicht war von leichter Röte überflammt, als sie, ihre Hand ausstreckend, sagte: »Verzeihen Sie, Mama, ich hörte Sie nicht klopfen. Ronald war übermütig und steckte mich an.« Sie hatte auch den sich verneigenden Mönch mit unbefangener Höflichkeit begrüßt, und als Gräfin Theodora ihn jetzt ihr vorstellen wollte, fiel sie, auch ihm die Hand bietend, ein: »Oh, wir kennen uns bereits.«

Gräfin Theodora blickte befremdet auf Innocenz, der nun in leichter Verlegenheit stotterte: »In der Tat, ja. Ich vergaß, Ihnen vorher mitzuteilen, daß die Frau Gräfin schon einmal die Güte hatte, einen in der Bergwildnis verirrten Wanderer auf den richtigen Weg zu weisen.« Er verneigte sich noch einmal dabei mit vollendetem Anstand, die Hand der Gräfin Donata flüchtig berührend. Es war ihm selber seltsam, daß er jetzt und hier auf ihre gemeinsame Betrachtung jenes erhabenen Sonnenuntergangs-Schauspiels von damals mit keinem Wort eingehen mochte, das war wie ein Geheimnis zwischen ihnen beiden.

Gräfin Theodora nickte gleichgültig. »Pater Innocenz ist als Vikar in St. Ulrich tätig, liebe Donata,« sagte sie, »und ich hoffe, er wird jetzt ein häufiger Gast unseres Hauses sein. Sie werden sicherlich im Sinne Alexanders handeln, wenn Sie ihm den Aufenthalt auf Peutelstein angenehm machen.«

Donata erwiderte nur mit einer leichten Kopfneigung. Dann setzte man sich. Der Kaffee wurde serviert, eine gleichgültige Unterhaltung über naheliegende Gegenstände begann. Währenddessen hatte der Knabe ganz still am Sessel seiner Mutter gelehnt, deren Arm sich hin und wieder zärtlich um seinen Nacken schlang, und einen Finger im Munde, mit seinen großen, verwunderten Augen den fremden, schwarzen Mann betrachtet. Sein blasses, feines Gesicht, das ganz von den sonderbar schimmernden, fast schwermütig zu nennenden Augen beherrscht wurde, glich dem der Mutter auffallend. Als Innocenz ihn freundlich zu sich heranziehen wollte, sah er erst ängstlich zu Donata auf, als diese aber ermutigend ihm zunickte, ging er ganz tapfer auf den Mönch zu, schmiegte sich zwischen dessen Knie und fragte, zu ihm aufblickend, während Innocenz ihm übers Haar hinstrich: »Weshalb hast du solch schwarzes Kleid an? Ich dächte, solch schwarze Kleider hätten nur alte Leute an, solche mit weißen Haaren, wie Pater Pius.«

Innocenz versuchte lächelnd ihm zu erklären, weshalb er das mönchische Gewand trage. Aber Ronald schüttelte eigenwillig den Kopf. »Es ist aber nicht schön. Ich möchte dich viel lieber in einem anderen Kleid sehen.«

»Das verstehst du nicht, Kind,« sagte Donata verweisend. Gräfin Theodora jedoch fiel strenge ein: »Ronald wird unbescheiden. Sie verwöhnen ihn zu sehr, Donata.«

»Er ist so kränklich und zart,« fiel die junge Mutter entschuldigend ein, »man muß ihm manches nachsehen.« Ihr Auge ruhte mit banger Sorge auf dem schönen Kinde.

Gräfin Theodora verneinte mit einem entschiedenen Kopfschütteln die letztere Behauptung, während Innocenz, den Knaben streichelnd, fragte: »Gibt er Ihnen Anlaß zur Sorge, Gräfin? Unsere Luft wird ihm wohltun.«

»Wenn sie nicht zu scharf und rauh für ihn ist,« erwiderte Donata mit einem Anflug von trüber Bitterkeit. »Ich fürchte, diese hohe Luft ist nur für ursprünglich starke Konstitutionen geschaffen, schwache greift sie an und reibt sie auf. Ronald ist, seit wir hier sind, immer zarter und hinfälliger geworden. Er ist eine Pflanze, die ins Treibhaus gehört, wenn sie gedeihen soll.«

Ein dunkler Schatten hatte sich während ihrer Worte zwischen den Augenbrauen gezeigt. Gräfin Theodora warf mit verächtlichem Lächeln die Oberlippe auf. »Sie gefallen sich in solchen Hirngespinsten, liebe Donata. Sie wissen, daß Doktor Kunatter die Hochgebirgsluft für Ronald dringlich empfohlen hat.«

»Nur daß ich zu diesem alten Dorfarzt, der allen Einflüsterungen zugänglich ist, nicht das geringste Vertrauen habe. Er verordnet stets, was er erwünscht und willkommen weiß. Übrigens kann auch der gescheiteste Arzt sich irren. Und die Tatsache, daß Ronald hier an Kräften verliert, statt zu gewinnen, ist doch unleugbar.«

Ihre Erwiderung klang zum ersten Male scharf und gereizt. Gräfin Theodora richtete sich in ihrer steifen, vornehmen Geradheit noch um einige Zoll höher empor, warf der Sprecherin einen vernichtenden Blick zu und erwiderte dann mit kühler Überlegenheit: »Das klingt ja eigentümlich. Etwa, als ob wir anderen alle blind und taub wären, oder als ob uns nur daran liegen könnte, Ronald krank zu machen.«

»Das habe ich nicht gesagt!«

»Sondern –?« Die Stimme der Gräfin-Mutter klang jetzt schneidend, wie wenn eine Steinsäge knirschte.

»Daß die Vermutung naheliegt, man könnte die Sorge für das Kind anderen – für höher erachteten Rücksichten unterordnen und um deshalb –«

Der Eintritt des Hauskaplans unterbrach hier das Gespräch, das für Innocenz bereits in hohem Maße peinlich geworden war. Pater Pius war ein weißhaariger, hagerer und unansehnlicher Herr, der ganz Demut und Bescheidenheit schien. Er trat mit zahlreichen Bücklingen ein und stammelte, sich förmlich krümmend, tausend Entschuldigungen, daß er nicht eher zur Stelle gewesen sei, ein unverzeihliches Ruhebedürfnis – die gestrigen Reisestrapazen – die mangelhafte Nachtruhe in einem fremden Bett – ja, man sei leider recht alt, recht hinfällig geworden – aber mit Gottes Hilfe – Und er verneigte sich vor Innocenz, als ob der hochwürdige Herr Bischof in Person ihm gegenüberstehe, ganz Ergebenheit, ganz Ehrfurcht. Mit seiner elegischen Stimme, immer niedergeschlagenen Blickes, gab er auf alle an ihn gerichteten Fragen in so bescheidenem Tone Antwort, als sei er sich der Anmaßung, hier überhaupt das Wort zu ergreifen, voll bewußt. Dieser gedrückte, von hundert Rücksichten eingeengte, verängstigte und in Demut ersterbende Priester erschien Innocenz nur als das Zerrbild eines Vertreters seines heiligen Berufes.

Auch Gräfin Donata mochte, so freundlich sie ihm begegnete, durch seine Gesellschaft sich nicht angezogen fühlen, und Innocenz begriff sehr wohl, daß dieser verschüchterte Greis, der nur immer an den Lippen der Gräfin-Mutter hing und augenscheinlich mit jedem Wort Anstoß zu erregen fürchtete, nicht imstande gewesen sei, die ihm geistig überlegene Ketzerin seinem Glauben zu gewinnen. Dazu mochte es freilich eines stärkeren Geistes bedürfen, und die Aufgabe, zu der er berufen war, erschien Innocenz nur immer verlockender, je mehr sein Selbstgefühl dadurch geweckt wurde.

Gräfin Donata hatte sich erhoben, um Urlaub für ihren vorgeschriebenen nachmittägigen Spaziergang zu erbitten, für den sonst keine Zeit bleibe. Obgleich es sich hier sichtlich nur um einen Vorwand handelte, zu entkommen, stimmte die Gräfin-Mutter bereitwillig zu, gab aber gleichzeitig auch Innocenz ein Zeichen, das dieser nicht wohl mißdeuten konnte. Er stand rasch auf und sagte: »Vielleicht gestatten Sie meine Begleitung, Frau Gräfin. Für einen Neuling in diesen Bergen kann es ja nur von Wert sein, sich einer so bewährten Führung anvertrauen zu dürfen.«

Er brachte das mit so vollendeter Ritterlichkeit hervor, daß die strengen Züge Gräfin Theodoras ein beifälliges Lächeln überhuschte. Ihm selber war es verwunderlich, wie sicher und ruhig er sich auf dem ihm fremden Boden zu bewegen vermochte, wie wenn ihn der Instinkt geleitet hätte, in einen augenfälligen Gegensatz zu Pater Pius zu treten. Donata stimmte mit einer freundlichen Kopfneigung zu. Als sie gegangen war, sich zum Ausgehen zu rüsten und den Knaben seiner Wärterin zu übergeben, sagte die alte Gräfin: »Sie werden auf solchen Bergwanderungen am ehesten Gelegenheit haben, Hochwürden, Ihrem Ziele näherzukommen. Meine Schwiegertochter ist auffallend empfänglich für Naturreize, und Sie dürften sie dann auch allen Einwirkungen seelischer Art gegenüber zugänglicher finden als irgendwo sonst. Ich warne Sie nur vor jedem zu raschen Vorgehen. Seien Sie behutsam! Donata ist argwöhnisch und klug. Pater Pius kann Ihnen davon erzählen.«

Sie wandte sich dem Geistlichen zu, der mit gefalteten Händen und schief hängendem Kopfe in unterwürfiger Haltung dastand und jetzt nur noch mehr in sich zusammenzusinken schien. »Oh, oh,« machte er mit einem so milden und mitleidigen Ausdruck im Gesicht, daß man mit dessen Häßlichkeit fast versöhnt wurde, »aber doch so gut, so seelengut, die junge Frau Gräfin. Das beste Herz von der Welt und so voller Erbarmen mit allem Leid und Ungemach der Menschen, auch der verworfensten und unwürdigsten. Ein wahres Engelsgemüt – Freilich, freilich: ein Ketzerin ist sie ja trotzdem und deshalb hat das alles ja keinen Wert, – keinen wirklichen Wert.«

Den letzten Satz hatte er mit einem verlegenen Murmeln hinzugefügt, als ihm Gräfin Theodora bei seiner befremdlichen Lobrede einen unmutig-überraschten Blick zuwarf. »Sie sehen selbst, wie leicht es ihr wird, Herzen zu gewinnen,« sagte sie abbrechend mit vernichtendem Spott.

Gräfin Donata trat wieder ein und man verabschiedete sich. Hektor wartete draußen schon mit ungeduldigem Bellen auf das Kommen seiner Herrin. Heute zeigte er sich auch gegen Innocenz zutraulicher und sprang in mächtigen Sätzen voraus, als man endlich aufbrach. Innocenz warf noch einen Blick auf das Schloß zurück, als sie den Waldsaum erreicht hatten. Da gewahrte er die Gräfin Theodora, die am offenen Fenster des Oberstocks lehnte und ihnen, die Arme untereinander geschlagen, nachsah. Er wußte selbst nicht, warum ihm das einen peinlichen Eindruck erregte. Es kam ihm vor, wie wenn ein Jäger gemütsruhig zusähe, daß der von ihm kunstgerecht dressierte Hund das ahnungslose Wild, auf das man ihn gehetzt, anfallen sollte. Das war gewiß töricht, aber die steinerne Strenge dieser Frau brachte ihn unwillkürlich auf solche Gedanken; schienen doch alle weichen und weiblichen Regungen völlig in ihr erstickt zu sein.

»Ist es Ihnen gleich, wohin ich Sie führe?« fragte Donata, nachdem sie eine Weile schweigend nebeneinander hergeschritten waren. Und als er das bejaht hatte: »Waren Sie seitdem am Dürrensee, den Sie damals verfehlt hatten?«

»Nein.«

»So lassen Sie uns dorthin gehen. Es ist schön dort.«

»Es ist überall schön in dieser großen, eigenartigen Welt hier oben,« sagte der Mönch.

»Ja, und doch gibt es wohl kein Hochgebirg sonst, das uns so leicht Grauen und Entsetzen einflößt, wie gerade die Dolomiten. Ich kenne viele Menschen, die – mit dem feinsten Natursinn begabt – nach kurzer Zeit den Aufenthalt in ihnen unerträglich finden, und ich selbst kann nicht leugnen, daß mich hier manchmal eine Müdigkeit, eine Melancholie, ein banges Verzagen überkommt, die ich niemals sonst im hohen Gebirg – und ich kenne es seit meiner Kinderzeit gut – irgendwo gespürt habe. Während man sich überall sonst dort frischer und mutvoller fühlt, alle schlummernden Lebenskräfte in sich angeregt findet, wandelt uns hier leicht dem Ungeheuren gegenüber, das uns zu erdrücken scheint, eine seltsame Mutlosigkeit an, als ob doch jeder Kampf und jedes Ringen mit diesen Mächten vergeblich sein würde.«

»Und wodurch erklären Sie sich das?« fragte Innocenz, den die für ihn ganz neue Art der Unterhaltung mit einer feinsinnigen und hochgebildeten Vertreterin der oberen Stände seltsam anzog.

»Ich glaube, es ist das unermeßliche Schweigen, das über diesem Hochland brütet, was die Wirkung hervorruft. In unseren übrigen Hochlanden – ich denke z. B. an die großartige Gletscherwelt der Tauern, von denen ja noch hier und da ein vereinzelter weißer Gipfel zu uns bei klarer Luft durch eine Talluke hereinblickt, – wallt und tost ein unversiegbares Leben. Alle diese murmelnden Bäche, diese sprudelnden Quellen, diese Schaumkaskaden und Rinnsale erfüllen das Hochgebirgsschweigen mit freudigen Stimmen des Daseins und übertönen das Grauen darin. In den Dolomiten aber versinken die Wasser in dem leicht verwitternden Gestein, rinnen unterirdisch unhörbar fort und kommen nur in den Talsohlen plötzlich an das Tageslicht. Diese hohen, nackten Kalksäulen mit ihren herabgewetterten Blöcken, ihren wüsten Geröllflächen werden dadurch stumm und tot. Ich muß manchmal unwillkürlich an ungeheure Leichensteine denken. Und dann wirkt der ununterbrochene Anblick von lauter bizarren Gestalten hier zuletzt verwirrend und abspannend. Man sehnt sich manchmal nach einem saftigen, grünen Gefilde, nach einem eintönigen Talgelände. Ich kann mir den Charakter der hiesigen Bevölkerung erst erklären, nun ich länger hier weile: dies dumpfe Grauen vor der Natur, der gegenüber man sich völlig ohnmächtig fühlt, vermischt mit einem starren Trotz und einer Art von ingrimmigem Gleichmut. Ich glaube, man muß hier so werden. Und Menschen unseres Schlages, die auf anderem Boden aufgewachsen sind, könnte eine Verbannung hierher schließlich zum Irrsinn führen.«

Sie sagte das alles, auch das letzte, ruhig, aber ein Ton der Leidenschaftlichkeit zitterte dennoch darin nach. Innocenz hatte ihr gespannt zugehört. Jetzt erwiderte er: »Wir sind überall gleicherweise in Gottes Hand, gnädige Gräfin.«

Während er es sprach, hatte er selber die Empfindung, daß das nur leeres Wortgeklingel sei, etwas Auswendiggelerntes, das ihm nicht von Herzen kam und keine Erwiderung auf das Gehörte enthielt. Donata sagte auch nichts mehr darauf. Sie wanderten stumm weiter. Die Bergwelt lag in erhabenem Schweigen um sie her, der Pfad wurde enger und steiler, ein würziger Harzgeruch von einem an verwitterter Felswand klebenden Tannenforst strömte zu ihnen herüber. Plötzlich lag mitten in der ungeheuren Einsamkeit der Wildsee zu ihren Füßen. Milchbläulich dehnte sich seine Fläche bis an den Fuß des Roßkamms, von dem ein dunkler Föhrenbestand bis zu ihm herabtauchte, und spiegelte den finsteren Koloß in allen seinen Umrissen, mit allen seinen Schründen und Schroffen getreulich wider. Die nackten Steilwände, die von seinem Rand emporstiegen, schienen gleichzeitig sich in seine geheimnisvolle Tiefe hinabzusenken. Der Wasserspiegel war nur hier und da von den ihn speisenden Quellen, die in leisem, geisterhaftem Gemurmel emporquirlten, leicht bewegt. Der Wind schlummerte hier in der Senkung, und nur aus der Höhe scholl dumpfes Murren der Nadelkronen hernieder.

Die beiden hatten eine Weile wortlos hinabgeblickt, als Gräfin Donata, die Arme über die Brust kreuzend, plötzlich sagte: »Lassen Sie uns offenes Spiel miteinander spielen, Pater Innocenz. Sie sind hierher gesandt worden, um mich zum Glaubenswechsel zu überreden, nicht wahr?«

Er sah sie erschrocken an. »Weshalb meinen Sie das?«

»Das ist keine Antwort!« versetzte sie herrisch.

»Nun denn,« – er sah ihr gerade ins Gesicht – »ja, Sie haben recht, Gräfin. Und ich danke Gott, daß ich dazu auserlesen wurde. Sie haben mich neulich, als ich in dieser Felsenwildnis verirrt war, auf den rechten Weg geleitet, der mich nach Hause zurückführte; ich möchte Sie zum Dank dafür auf den rechten Pfad geleiten, der Sie aus der Wildnis des Lebens sicher in Ihre wahre Heimat führen soll.«

»Also wirklich!« kam es leise über ihre Lippen, die ein bitteres Lächeln umzuckte. Dann setzte sie lauter hinzu: »Ich danke Ihnen für das Eingeständnis. Lassen Sie es mich mit gleicher Offenheit belohnen. Sie werden eine ungelehrige Schülerin in mir finden, Pater Innocenz. Ich kenne die Lehren Ihrer Religion. Wenn ich in ihnen erzogen worden wäre, ich würde sie, ohne ihren Wert und ihre Bedeutung zu überschätzen, pietätvoll beibehalten haben. Aber ich bin eine Protestantin und bringe dem Glauben meiner Kindheit, meiner ganzen Familie nun die nämliche Ehrfurcht entgegen, die ich dem Katholizismus zollen würde, wenn der Zufall meiner Geburt mich ihm in die Arme geführt hätte. Zu einem Wechsel der äußeren Form kann ich mich nicht bereit erklären. Ohne die gleichzeitige Überzeugung von ihrem höheren Wert, überhaupt ohne einen zwingenden inneren Drang würde derselbe mir als eine unsittliche Handlungsweise erscheinen.«

»Gewiß,« entgegnete er ruhig. »Und diesen inneren Drang in Ihnen zu erwecken, Gräfin, ist eben mein Wunsch und mein Bestreben.«

»Sagen Sie lieber: Ihre Pflicht, Ihre Aufgabe!« fiel sie hastig, in wegwerfendem Tone ein.

»Die ich segne,« ergänzte er mit Nachdruck, »weil sie die höchste und heiligste ist, die mein Beruf mir überhaupt stellen kann. Nie könnte mir eine andere mehr zur eigensten Herzenssache werden.«

Sie maß ihn mit halb erstaunten, halb argwöhnischen Blicken. Das klang anders, als sie es sonst von den Priestern vernommen hatte, die ihr genaht waren; es war ein Ton der Wahrheit darin, der nicht ohne Eindruck auf sie blieb. Dennoch schüttelte sie mit einem spöttischen Lächeln das schöne Haupt.

»Es ist eine sehr undankbare Aufgabe, die Sie da übernommen haben, – ich versichere Sie. Sie wird Ihnen nichts anderes eintragen als – eigene Zweifel an der Unfehlbarkeit der Sache, die Sie verfechten!«

»Glauben Sie?« versetzte er mit einem siegesgewissen, fast schwärmerischen Lächeln, das sein ernstes, edel und scharf geschnittenes Gesicht seltsam verschönte, »glauben Sie wirklich, Frau Gräfin? So sicher sind Sie der Macht Ihres Widerstandes? Nun, ich fürchte diese Zweifel nicht. Welchen Wert könnte eine Religion für uns haben, in der wir uns nur dann gesichert fühlten, wenn uns Kampf und Zweifel ferngehalten, künstlich von uns abgewehrt werden? Das wäre ein trauriges Bollwerk gegen die Versuchungen der Welt! Wir verlangen ja gerade diesen Ansturm, wir sehnen uns nach der Betätigung unserer Glaubenskräfte, um erst durch Streit und Sieg zur vollen Klarheit durchzudringen. Einen trägen Frieden verschmähen wir. Nicht mit Unrecht heißt man uns die streitbare Kirche.«

»Gut denn,« sagte sie, die Arme wieder über dem vollen Busen kreuzend, als wollte sie von vornherein eine Kampfstellung gegen ihn einnehmen und sich wappnen, »nehmen wir es also miteinander auf! Ich verspreche Ihnen, ohne Voreingenommenheit und mit redlichem Wollen an alles heranzutreten, was Sie mir entgegentragen werden.«

»Und ich, allen Proben Ihrer Dialektik, allen Zweifeln, allen Einwendungen gegenüber standzuhalten.«

Sie reichte ihm die Hand. »Auf ehrlichen Krieg denn also!«

Als er ihre Hand ergriff und drückte, ließ sich über ihnen ein Rascheln im Gestrüpp vernehmen, das den steinigen Berghang überwucherte. Innocenz blickte auf. Er hegte unwillkürlich die Vermutung, daß er wieder den bärtigen Mann in der Jägertracht gewahren werde, der ihnen, wie damals, nachgeschlichen sein und die Gräfin ausgespäht haben mochte. Diesmal aber war es die alte Wurzin aus Moosbrunn, die droben zwischen den mächtigen Felsblöcken auftauchte, einen Blick herniederwarf und wieder verschwand. Der Eisenklang ihres Spatens erscholl von der Höhe herab, wo sie nach Wurzeln und Kräutern suchen mochte.

Innocenz hatte die Hand Donatas nach kurzem Druck freigegeben und ließ sich nun, ihrem Beispiel folgend, auf einem der moosübersponnenen Felstrümmer nieder, mit denen die Halde hier und auf der anderen Seite des Sees bestreut war. Ein Bedürfnis nach Rast und Schweigen hatte sie beide angewandelt.

Dann sagte die Gräfin, die starr über den Wildsee hingeblickt hatte, plötzlich: »Ich bin Ihnen noch ein Bekenntnis schuldig, Pater Innocenz. Als man mich unter die Dolomiten schickte, angeblich aus Gesundheitsrücksichten, ahnte mir's, daß ein neuer Versuch gemacht werden sollte zu meiner schon mehrfach fehlgeschlagenen Bekehrung. Es sollte eine Art Strafgefangenschaft sein, aus der ich mich jeden Tag selbst befreien könnte durch die bündige Erklärung, zum Katholizismus übertreten zu wollen. Dies Mittel, werden Sie mir zugeben, ist nicht sonderlich loyal. Trotzdem wollt' ich es gelten lassen, und es würde ja völlig wirkungslos bleiben, selbst wenn man mich Jahr um Jahr hier einkerkerte, so leicht bricht man meine Überzeugungen – oder nennen Sie es: meinen Starrsinn, nicht. Aber man hat auch meinen Knaben hierhergebracht, trotzdem ich lieber in eine Trennung von ihm willigen wollte, – kein geringes Opfer für ein vereinsamtes Mutterherz, Pater Innocenz! – als ihn in die rauhe Luft dieses Hochlandes versetzt sehen, die seinem zarten Organismus nach meiner festen Überzeugung gefahrdrohend, wenn nicht gar verderblich sein muß. Meine Befürchtungen haben bereits begonnen, sich zu bestätigen, aber meine Bitten, den Knaben von hier fortzubringen, finden dessenungeachtet kein Gehör. Wenn man sich so weit versteigen sollte, auch das Leben meines Kindes noch in die Wagschale zu werfen, Pater Innocenz, um mich zum Übertritt zu Ihrer Religion zu zwingen, – beim allmächtigen Gott, ich könnte diesen Schritt wider meine Überzeugung und im Vollbewußtsein seiner Unsittlichkeit tun um solches Preises willen, – ich würde, ich müßte ihn tun. Aber fragen Sie sich selbst, der Sie ein Priester dieser Religion sind, Pater Innocenz, welchen Wert ein Glaubenswechsel aus solchem Motive, aus der Qual eines angstzerrissenen Mutterherzens heraus, haben könnte, und sagen Sie mir, mit welchem Vertrauen ich einer Religion entgegenkommen soll, die solche Opfer fordert und annimmt – zur Ehre Gottes!«

Ihre Stimme klang jetzt herb und bitter, von heißer Leidenschaftlichkeit durchbebt. Ihre feinen Nasenflügel zitterten, während der Busen stürmisch auf- und niederging. »Frau Gräfin!« rief Innocenz erschrocken, »Sie irren – Sie müssen sich irren! Unter keinen Umständen kann das der Grund sein, weshalb man Ihr Kind hierher mitgenommen hat. Ich hörte ja heute selber, daß die Gräfin-Mutter Ihnen auf die Andeutung des gleichen Vorwurfes hin –«

»Oh, ich weiß, ich weiß,« fiel sie ihm schneidend ins Wort. »Es ist ein ärztliches Gebot, gewiß, gerade wie bei mir selber, nichts anderes. Die liebevollste Fürsorge ist's. Man bringt mir sogar das Opfer, um meinetwillen Schloß Peutelstein wieder in bewohnbaren Stand zu setzen, die umständliche und schwierige Wirtschaftsführung hier oben anzuordnen, und meine Schwiegermutter weigert sich nicht, mich trotz ihres Alters bis auf diese einsame Höhe zu begleiten, damit es mir auch an Gesellschaft nicht fehlt. Das hat alles ganz den Anschein liebevollster Besorgnis, man muß es eben nur so zu drehen wissen, daß die wahren Beweggründe im Dunkeln bleiben. Und dieser ärztliche Rat! Als ob der arme, alte, halbtaube Dorfarzt in Karditsch sich erdreisten würde, eine andere Ansicht zu haben, als die gnädige Schloßherrschaft, zumal dann, wenn man sie ihm ausdrücklich bekanntgibt, was ja in diesem Falle wohl geschehen sein mag! Weshalb hat man meinem dringenden Wunsch, Ronald durch eine ärztliche Autorität in Wien untersuchen zu lassen, ehe man ihn hierher schickte, denn nicht nachgegeben? Man fürchtete, der Rat eines Wissenden könne alle diese feingesponnenen Pläne zerstören. Und so wurde der greise Dorfbader, über den man sich sonst oft genug lustig macht, plötzlich über Nacht zu einer ausschlaggebenden medizinischen Kapazität!«

Sie lachte hart auf, während der Mönch jetzt verwirrt fragte: »Sie sprechen immer von einem unbestimmten ›man‹, Frau Gräfin, dem Sie alle diese Dinge zuschreiben. – Ist es die Gräfin-Mutter, die Sie darunter verstehen?«

»Ja,« erwiderte sie mit herber Ehrlichkeit, »sie und mein Gatte.«

»Ihr Gatte? Sie werden doch nicht glauben, daß Graf Alexander Karditsch das Leben seines einzigen Kindes wissentlich gefährden würde?«

»Warum nicht, wenn es einem so hohen Zwecke gilt! Und Graf Alexander steht völlig unter dem Einfluß seiner Mutter und – der Priester. Was wiegt ein Kinderleben, wenn es die Rettung einer verlorenen Seele gilt? Gott die Ehre, Pater Innocenz!«

Der Mönch war schweratmend emporgefahren, es litt ihn auf seinem Sitze nicht mehr. Sie ist furchtbar! dachte er, sich mit der Hand über die Stirn streichend. Donata aber verharrte regungslos auf ihrem Steinsitz, die Stirn in der Hand, das Auge starr über die Spiegelfläche des Sees hinausgerichtet. »Und noch eins, Pater Innocenz!« sagte sie. »Es gibt auch weltliche Gründe, die hier mit ins Spiel kommen. Die reichen Liegenschaften des alten, kinderlosen Grafen Karditsch können einst nur dann an seinen Neffen, den Grafen Alexander, fallen, wenn dieser eine Katholikin zur Frau hat. Das Hausgesetz jener Linie verbietet ausdrücklich eine Mischehe und trifft für den Fall, daß der nächste Erbberechtigte solche eingegangen, andere Bestimmungen über die Nachfolge. Diese Bestimmungen stammen freilich aus dem Anfang des Jahrhunderts, aus einer Zeit des engherzigsten Fanatismus in Glaubenssachen, aber keiner hat den Mut gehabt, sie aufzuheben, und sie bestehen zu Recht. Graf Alexander ist nun zwar reich begütert, aber er führt auch das Leben eines Grandseigneur; er ist ein enragierter Sportsmann, er spielt hoch in den adeligen Klubs in Wien, vielleicht unterhält er auch eine oder die andere Tänzerin der großen Oper, – ich weiß es nicht, aber man sagt mir, es gehöre zu einem Leben, wie er es in Übereinstimmung mit vielen seiner Standesgenossen führt, – kurz: er braucht viel Geld, noch mehr, als er zur Verfügung hat, – sein Marstall soll ja berühmt sein, – und da kann er auf jene Erbschaft begreiflicherweise nicht verzichten. Und da es sich einzig und allein um die Erfüllung einer Formalität dabei handelt, die ohnedies zu seinen innigsten Herzenswünschen gehört, deren Hinausschiebung sogar schon in seinen Kreisen und bei Hofe unliebsam aufgefallen ist, – Sie begreifen – auch das ist kein zu unterschätzender Ansporn!«

Die kalte Ruhe, mit welcher die Sprecherin das alles vorbrachte, übte im Verein mit der Unerbittlichkeit ihrer Erklärungen einen niederschmetternden Eindruck auf Innocenz aus. Er hatte eine Frage auf den Lippen, die nach allem Gehörten nahe genug lag, die Frage: »Lieben Sie denn Ihren Gatten nicht? Und weshalb sind Sie beide dann Mann und Weib geworden?« Aber er unterdrückte sie wieder, er fürchtete, nur noch mehr von Dingen zu hören, die ihn verwirrten und zu Boden pressen mußten. Auch hatte Gräfin Theodora ihm ja vorhin gesagt, daß man solche Fragen in ihren Kreisen nicht tun dürfe. So schwieg er, seine Lippe mit den Zähnen nagend.

Sie aber blickte ihm jetzt, wie er, mit sich kämpfend, stumm vor ihr stand, gerade ins Gesicht und fragte: »Nur eins, ehe wir heute abbrechen und ehe wir künftig miteinander kämpfen wollen, Pater Innocenz! Würde meine Bekehrung aus einem der eben erwähnten Gründe für Sie einen Triumph bedeuten? Ihnen oder der Kirche, die Sie vertreten, zur Ehre, zum Gewinn gereichen? Geben Sie mir hierauf noch eine offene Antwort!«

»Nein,« sagte er ohne Zögern, »unbedingt: nein.«

»Ich danke Ihnen. Unter solchen Bedingungen nehm' ich den Kampf mit Ihnen auf. Sie wissen nun alles, handeln Sie nach Überzeugung und Gewissen!«

»Das will ich, gnädigste Gräfin. Sie haben mir nun Klarheit verschafft und mir offen gezeigt, mit welchen Schwierigkeiten ich zu kämpfen, gegen welche Mächte ich zu ringen habe. Auch ich danke Ihnen.«

»Lassen Sie uns jetzt gehen!« Sie war aufgestanden, warf noch einen letzten Blick über den See hin und schlug dann einen anderen Pfad zum Heimweg ein als den, welchen sie gekommen waren. Der Mönch schritt ihr zur Seite. Er hatte jetzt kein Auge mehr für die Großartigkeit der starren Bergwelt um sie her, seine Seele war in der Tiefe bewegt und erschüttert. Er fühlte, wie fern der Bann des stillen Klosterfriedens ihm lag, und daß nun erst die Kämpfe begonnen hatten, die er mit der Welt bestehen sollte, um seines Glaubens Festigkeit und Glut zu erproben und um die Zuversicht zu erhärten, die bisher noch unangefochten in ihm mächtig gewesen war: daß er im Zeichen des Kreuzes immer und überall würde siegen müssen.

Sie hatten beide im Weiterschreiten gleicherart die Empfindung, daß sie heute an das nicht mehr rühren dürften, was zwischen ihnen gesprochen worden war, und doch lag das Schweigen schwer auf ihnen. So zwang Innocenz seine Gedanken in eine andere Richtung und fragte plötzlich wie erlöst: »Ich sah heute in dem Zimmer des Schlosses, in das man mich zuerst führte, ein fesselndes Bild – jene zwei Frauengestalten. – Sie wissen wohl – von wem ist es?«

Donata hatte sich einen Augenblick besonnen, nicht weil sie nicht gleich gewußt hätte, welches Bild er meinte, sondern nur, weil sie sich erst daran erinnern mußte, daß der Mann neben ihr diese Frage wohl tun konnte, weil er ein Mönchsgewand trug. Dann sagte sie: »Es ist die Kopie eines Meisterwerkes von Tizian. Viele halten es überhaupt für den vollkommensten Ausdruck seiner Kunst. Das Original ist in Rom.«

Tizian! Das war der Name, nach dem Innocenz schon seit Tagen suchte, und der ihm hier lange vor der Seele geschwebt hatte. Nach dem wenigen, was er im Kloster über ihn und über die Geschichte der Künste überhaupt erfahren hatte, erfahren aus trockenen Lehrbüchern, ohne daß sich greifbare Anschauungsbilder damit verknüpft hätten, war der Name Schall und Rauch für ihn geblieben; jetzt plötzlich hatte der große Venezianer Leben und Gestalt für ihn gewonnen. »Wie nennt man das Bild?« fragte er hastig.

»Himmlische und irdische Liebe. Die Deutungen weichen vielfach voneinander ab; über den Zauber, den das Bild ausübt, gibt es aber nur eine Stimme.«

»Und die beiden Fresken drüben in der Ulrichskapelle,« fiel Innocenz erregt ein, »nicht wahr? Sie rühren von dem gleichen Meister her?«

Ein verwunderter Blick aus Donatas Augen streifte ihn flüchtig. »Haben Sie das erkannt? Ja, man schreibt sie dem jugendlichen Tizian zu, der es aus seiner Heimat bis zu uns herauf ja nicht weit hatte, – er ist ganz nahe der jetzigen italienischen Grenze geboren, und sein Heimatstädtchen Pieve di Cadore weist noch manche Bilder von ihm und manche Erinnerungen an ihn auf. Beglaubigt ist seine Autorschaft freilich nicht, und die Bilder sind ja grausam zerstört, aber die Annahme, daß er der Maler derselben ist, liegt doch nach allem sehr nahe. Jedenfalls ist es seine Malweise, und die Bilder, die sicher zur Zeit seiner Anfängerschaft entstanden, sind von hohem Wert. Sie haben Interesse für die Kunst, Pater Innocenz?«

Er errötete wie ein ertappter Schulknabe. »O ja, ja – nur – Sie begreifen; ich habe so wenig – eigentlich so gar keine Gelegenheit gefunden –«

»Und hier,« fiel sie mit einem wehmütigen Lächeln ein, »möchte sie sich Ihnen wohl auch nicht bieten. Im Schloß kann ich Ihnen freilich ein paar Kupferstichwerke zeigen, auch hängt eine Kopie der Tizianschen Magdalena in einem Zimmer des Oberstocks, – und dann finden sich unter den Büchern sicherlich einige Werke, die sich mit den bildenden Künsten beschäftigen, speziell mit Tizian, dessen Name einem ja hier unter den Dolomiten dauernd so nahe tritt. Das ist aber auch alles, und das stell' ich Ihnen natürlich gern zur Verfügung.«

Innocenz erwiderte mit einigen Dankworten, und daß er bald die Sprecherin mahnen werde, ihre Zusage zu erfüllen. Er schwankte einen Augenblick, ob er ihr über seine eigenen dilettantischen Versuche in der Malerei noch eine Eröffnung machen solle, aber eine seltsame Scheu hielt ihn davon zurück. Er hätte auch gern über die »himmlische und irdische Liebe« noch mehr von ihr gehört, nur daß er nicht sicher war, wie sie seine Neugierde aufnehmen würde. So blieb er, ohne zu einem Entschluß zu kommen, schweigsam, bis ihre Wege sich trennten.

Am Scheidepunkt derselben reichte sie ihm die Hand. »Auf Wiedersehen, Pater Innocenz! Lassen Sie uns öfters zusammen in die Bergwelt wandern! Ich weiß Sie noch manchen herrlichen Pfad zu führen. Und da draußen redet sich's leichter und freier als hinter Mauern. Mir ist's immer, als scheue man sich angesichts der großen Natur, eine Lüge über die Lippen zu bringen, selbst nur eine von jenen kleinen, konventionellen Lügen, die uns in unseren vier Wänden so notwendig und verzeihlich erscheinen, daß sie uns kaum mehr als solche zum Bewußtsein kommen. Ich glaube, wir schämen uns vor der Natur, uns unnatürlich zu zeigen, sie zwingt uns wider unseren Willen zur Wahrheit. Und Wahrheit ist's ja doch wohl, was wir beide voneinander fordern und erwarten.«

Innocenz neigte sich zustimmend. Dann schieden sie. Die Sonne, die nur flüchtig bisher hinter flatternden Wolkenschleiern hier und da durchgebrochen war, war nun vollends im Dunst niedergetaucht. Die Felszacken erschienen farblos, düster und traurig. Wie drohend reckten sie sich vor Innocenz auf, als er den Rest des Heimweges antrat.

Er war noch nicht weit gegangen, sah aber die Häuser von St. Ulrich bereits vor sich liegen, als plötzlich die alte Wurzin hinter einem Felsblock mit dem Kopfe herauftauchte. Innocenz rief ihr einen Gruß zu und wollte vorüber, ihm stand jetzt der Sinn nicht danach, mit der Alten von Filomena zu sprechen, was er lange vorgehabt hatte. Sie aber machte ihm mit der Hand, in der sie den Spaten trug, ein Zeichen, und als er näher trat, raunte sie ihm mit heiserer Stimme zu, während in ihren erloschenen Augen unter dem mächtigen Hutrande ein seltsames Feuer aufzuckte: »Seid auf Eurer Hut, hochwürdiger Herr! Die vom Schlosse bringen Jammer und Verderben über Euresgleichen. Die legen's allemal darauf an. Der himmlische Vater verdamme sie! Seid auf Eurer Hut!«

Innocenz erkannte die Greisin, die das zornbebend, mit allen Zeichen eines ingrimmigen Hasses herausstieß und nun mit der welken, gekrümmten Faust nach der Richtung hinüberdrohte, in welcher Schloß Peutelstein lag, nicht wieder. Ihr Runzelgesicht war verzerrt von einem Ausdruck der Feindseligkeit, der ihn erschreckte. Er wollte eine Frage an sie richten, aber sie hatte sich schon wieder zu ihren Kräutern und Wurzeln herabgebückt und gab keine Antwort mehr, ja, sie schien seine Gegenwart überhaupt vergessen zu haben. So schritt Innocenz, von mancherlei widerstreitenden Empfindungen bestürmt, weiter.


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