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Brindaban Kundu kam wütend zu seinem Vater und sagte: »Ich gehe jetzt auf der Stelle fort.«
»Du elendes, undankbares Geschöpf!« rief der Vater, Dschagannath Kundu, verächtlich. »Wenn du mir alles bezahlt hast, was ich für deine Nahrung und Kleidung ausgegeben habe, dann ist es Zeit, so großartig zu tun.«
Die Nahrung und Kleidung, die es in Dschagannaths Hause zu geben pflegte, hatte nicht viel kosten können. Unsere alten Weisen wußten mit unglaublich wenig auszukommen. Dschagannaths Lebensweise zeigte, daß sein Ideal in dieser Beziehung dem ihren nicht nachgab. Wenn er es ihnen nicht ganz gleichtun konnte, so war zum Teil die Abhängigkeit von der entarteten Gesellschaft um ihn herum schuld daran, zum Teil waren es gewisse unvernünftige Forderungen der Natur, bei ihrem Bestreben, Leib und Seele zusammenzuhalten.
Solange Brindaban noch nicht verheiratet war, ging die Sache ganz gut, aber nach seiner Verheiratung fing er an, dem Ideal seines Vaters untreu zu werden. Es war klar, daß des Sohnes Begriffe von Wohlsein sich immer mehr vom Geistigen ab dem Materiellen zuwandten und in das Fahrwasser der verderbten Welt gerieten. Er wollte das Unbehagen, das ihm Hitze und Kälte, Hunger und Durst verursachten, nicht länger geduldig hinnehmen. Das Minimum, das er an Nahrung und Kleidung brauchte, wuchs zusehends.
Vater und Sohn gerieten immer häufiger aneinander. Endlich wurde Brindabans Frau ernstlich krank, und ein Landarzt wurde gerufen. Aber als der Doktor eine teure Medizin für die Kranke verordnete, nahm Dschagannath dies als einen offenbaren Beweis seiner Unfähigkeit und wies ihm ohne weiteres die Tür. Zuerst flehte Brindaban seinen Vater an, die Behandlung doch nicht abzubrechen, dann wurde er heftig und machte ihm Vorwürfe, aber es half alles nichts. Als seine Frau starb, schalt und schmähte er seinen Vater und nannte ihn einen Mörder.
»Unsinn!« sagte der Vater. »Sterben die Menschen denn nicht auch, wenn sie alle möglichen Medizinen verschlucken? Wenn teure Medizinen das Leben retten können, wie kommt es da, daß Könige und Kaiser nicht unsterblich sind? Du erwartest doch wohl nicht, daß deine Frau mit mehr Pomp und Feierlichkeit sterben soll als deine Mutter und deine Großmutter?«
Wäre Brindaban nicht von Kummer überwältigt und zum Denken ganz unfähig gewesen, so hätten ihm diese Worte wirklich einigen Trost geben können. Weder seine Mutter noch seine Großmutter hatten Medizin genommen, bevor sie dieser Welt Valet sagten, und so war es altehrwürdige Gewohnheit in der Familie. Aber ach, die jüngere Generation wollte nicht mehr nach dieser alten Gewohnheit sterben! Die Engländer waren zu der Zeit, in der unsere Geschichte spielt, erst ins Land gekommen. Die guten alten rechtgläubigen Leute waren damals entsetzt über die gottlose Art der neuen Generation; sie hockten stumm in ihrem Winkel und versuchten, aus ihren langen Wasserpfeifen Trost zu saugen.
Kurz und gut, der moderne Brindaban sagte zu seinem alten Kauz von Vater: »Ich gehe auf der Stelle.«
Der Vater war sogleich einverstanden und tat feierlich den Wunsch: Sollte er in Zukunft seinem Sohne je einen einzigen Heller geben, so möchten die Götter ihm diese Tat anrechnen, als ob er das heilige Blut von Kühen vergossen hätte. Brindaban wünschte gleicherweise: Sollte er je etwas von seinem Vater annehmen, so möchte ihm diese Tat wie ein Muttermord angerechnet werden.
Für die Leute im Dorf war diese kleine Revolution eine erlösende Abwechslung in dem ewigen Einerlei ihres Lebens. Und als Dschagannath seinen Sohn enterbte, tat jeder sein Bestes, um ihn zu trösten. Nur in einer so entarteten Zeit konnte es geschehen, daß jemand sich um eines Weibes willen mit seinem Vater entzweite – darin waren sich alle einig. Und sie gaben auch einen sehr einleuchtenden Grund für ihre Ansicht: »Wenn einem sein Weib stirbt,« sagten sie, »so kann er sich gleich ein anderes suchen. Aber wenn ihm sein Vater stirbt, so kann er nicht für Geld oder gute Worte einen anderen bekommen, der an seine Stelle träte.« Ihre Logik war zweifellos richtig, aber es ist zu vermuten, daß die gänzliche Aussichtslosigkeit, einen anderen Vater zu bekommen, den mißleiteten Sohn nicht sehr bekümmerte. Im Gegenteil.
Auch dem Alten wurde die Trennung von Brindaban nicht schwer. Zunächst einmal wurden die Haushaltsausgaben durch seine Abwesenheit geringer. Und dann wurde der Vater auch von einer großen Angst befreit, die ihn immer verfolgt hatte: von der Angst, sein Sohn und Erbe könne ihn eines Tages vergiften. Wenn er sein kärgliches Mahl aß, hatte er den Gedanken an Gift nie loswerden können. Nach dem Tode seiner Schwiegertochter hatte diese Angst sich etwas gemindert, und jetzt, da der Sohn fort war, verschwand sie ganz.
Aber es gab eine weiche Stelle im Herzen des alten Mannes. Brindaban hatte einen vierjährigen Sohn, Gokul Tschandra, mit sich genommen. Nun waren die Kosten für den Unterhalt des Kindes verhältnismäßig gering und konnten daher Dschagannaths Liebe zu ihm keinen Abbruch tun. Doch wenn sein Kummer, als Brindaban den Kleinen mit sich nahm, auch aufrichtig war, so mischte sich doch die Berechnung hinein, wieviel er monatlich durch die Abwesenheit der beiden sparen würde, wieviel das in einem Jahr ausmachte und welches Kapital dazu gehören würde, um die gleiche Summe an Zinsen einzubringen.
Aber es wurde dem Alten immer schwerer, in dem leeren Hause, in dem kein Gokul Tschandra mehr Unfug trieb, zu leben. Jetzt war niemand mehr da, der ihm Streiche spielte, während er seine Gebete sprach, niemand, der ihm sein Essen wegriß und es aufaß, niemand, der mit seinem Tintenfaß davonlief, wenn er seine Rechnungsabschlüsse machte. Der gewohnheitsmäßige Gang seines täglichen Lebens, der nun durch nichts mehr unterbrochen wurde, wurde ihm zur unerträglichen Last. Er fand, daß man solchen ungestörten Frieden nur in der künftigen Welt ertragen könnte. Wenn er die Löcher erblickte, die sein Enkel in seine Bettdecke gerissen hatte, oder die Tintenzeichnungen auf seiner Binsenmatte, die von demselben Künstler herrührten, so wurde ihm das Herz schwer vor Kummer. Einst hatte er dem Jungen bittere Vorwürfe gemacht, daß er sein Lendentuch in der kurzen Zeit von zwei Jahren zerrissen hatte; jetzt traten Dschagannath die Tränen in die Augen, als er da im Schlafzimmer stand und die schmutzigen Überreste anstarrte. Er verwahrte sie sorgfältig in seiner Lade und tat ein feierliches Gelübde: sollte Gokul je zurückkommen, so wollte er nicht schelten, und wenn er auch jedes Jahr ein Lendentuch aufbrauchte.
Aber Gokul kehrte nicht zurück, und der arme Dschagannath alterte sehr schnell. Sein leeres Haus erschien ihm mit jedem Tage leerer.
Der alte Mann hielt es nicht mehr still zu Hause aus. Selbst in der Mittagszeit, wenn alle ehrbaren Leute im Dorf ihre Mittagsruhe genossen, dann sah man Dschagannath durchs Dorf wandern, die lange Pfeife in der Hand. Die Knaben hörten auf zu spielen, wenn sie ihn sahen, sie zogen sich geschlossen in sichere Entfernung zurück und sangen einen Vers, den ein Dorfdichter verfaßt hatte und der die sparsamen Gewohnheiten des alten Herrn pries. Niemand wagte es, seinen wirklichen Namen zu nennen, aus Furcht, an dem Tage fasten zu müssen Es herrscht in Bengalen der Aberglaube, daß, wer den Namen eines Geizhalses ausspricht, an dem Tage nichts zu essen bekommt., und so legten die Leute ihm andere Namen bei. Die älteren Leute nannten ihn Dschagannasch Dschagannath heißt »der Herr der Welt« und Dschagannasch würde heißen »der Verderber der Welt«., aber die jüngere Generation nannte ihn einen Vampyr. Vielleicht hatte die blutlose, vertrocknete Haut des Alten eine gewisse äußere Ähnlichkeit mit der eines Vampyrs.
Eines Nachmittags, als Dschagannath wie gewöhnlich die von Mangobäumen überschatteten Dorfstraßen durchstreifte, sah er einen Knaben, augenscheinlich einen Fremden, der die Hauptmannschaft über die Dorfknaben an sich gerissen hatte und ihnen den Plan eines neuen Streiches auseinandersetzte. Durch die Energie seines Charakters und die verblüffende Neuheit seiner Ideen gewonnen, hatten die Knaben ihm alle als ihrem Oberhaupt gehuldigt. Im Gegensatz zu den andern lief er nicht vor dem alten Mann davon, sondern ging dicht zu ihm heran und schüttelte aus seinem Tschadar eine Art Plaid, das als Mantel um die Schulter getragen wird. eine lebendige Eidechse, die auf den Alten sprang, an seinem Rücken hinablief und schnell ins Gebüsch huschte. Der arme Mann zitterte vor Schreck am ganzen Leibe, zur großen Belustigung der andern Knaben, die vor Freude jubelten. Dschagannath ging scheltend und fluchend davon. Doch er war noch nicht weit gegangen, als der Gamtscha Schulterschal. plötzlich von seiner Schulter verschwand, und im nächsten Augenblick sah man ihn auf dem Kopf des fremden Jungen, in einen Turban verwandelt.
Die neuen Aufmerksamkeiten dieses Bürschchens wirkten befreiend auf Dschagannath. Es war lange her, seit irgendein Junge sich so etwas bei ihm herausgenommen hatte. Nach vielem guten Zureden und allerlei schönen Versprechungen gelang es ihm endlich, den Knaben zu bewegen, zu ihm heranzukommen, und nun entspann sich folgendes Gespräch zwischen ihnen:
»Wie heißt du, mein Junge?«
»Nitai Pal.«
»Wo wohnst du?«
»Das sage ich nicht.«
»Das sage ich nicht.«
»Warum nicht?«
»Weil ich von Hause fortgelaufen bin.«
»Warum hast du das getan?«
»Mein Vater wollte mich zur Schule schicken.«
Es schien Dschagannath eine unnütze Geldverschwendung, solchen Knaben zur Schule zu schicken, und er sagte sich, der Vater müsse ein ganz unpraktischer Mann sein, daß er dies nicht eingesehen hatte.
»Hör' mal, mein Junge,« sagte Dschagannath, »möchtest du wohl mit mir kommen und bei mir bleiben?«
»Meinetwegen«, sagte der Junge. Und sogleich richtete er sich bei Dschagannath häuslich ein, ohne die mindesten Bedenken, als ob das Haus der Schatten eines Baumes an der Straße gewesen wäre. Und nicht nur das. Er begann seine Wünsche in bezug auf Nahrung und Kleidung mit solcher kühlen Ruhe zu äußern, als ob er die Rechnung im voraus bezahlt hätte; und wenn irgend etwas nicht in Ordnung war, machte er sich gar kein Gewissen daraus, mit dem Alten zu zanken. Es war Dschagannath leicht genug gewesen, sein eigenes Kind im Zaum zu halten, aber jetzt, wo es sich um ein fremdes Kind handelte, mußte er die Waffen strecken.
Die Leute im Dorf waren erstaunt, daß Dschagannath sich plötzlich so viel aus dem fremden Jungen machte. Sie waren sicher, daß das Ende des Alten nahe sei, und sie empfanden es schmerzlich, daß er sein ganzes Eigentum diesem hergelaufenen Schlingel vermachen würde. Wütend vor Neid hätten sie dem Knaben gern ein Leid angetan, aber der Alte hütete ihn wie seinen Augapfel.
Mitunter drohte der Junge, er wolle fortgehen, und dann suchte der Alte ihn mit dem Versprechen zu locken, er wolle ihm sein ganzes Eigentum hinterlassen. So klein der Knabe auch noch war, so verstand er doch schon vollkommen die Größe dieses Versprechens.
Nun begannen die Dorfbewohner nach dem Vater des Knaben zu forschen. Das Herz schmolz ihnen vor Mitleid mit den geängstigten Eltern, und sie erklärten, der Sohn müsse ein ganz gottloser Bube sein, daß er ihnen solch Leid zufügte. Sie häuften Schmähungen auf sein Haupt, aber die Wut, mit der sie es taten, verriet eher Neid als Gerechtigkeitssinn.
Eines Tages hörte der alte Mann von einem Wanderer, daß ein gewisser Damodar Pal seinen verlorenen Sohn suche und jetzt eben in diese Gegend komme. Als Nitai dies hörte, wurde er sehr unruhig; er wollte Reichtum Reichtum sein lassen und davonlaufen. Dschagannath beruhigte ihn: »Ich will dich verstecken, wo niemand dich finden kann, selbst die Leute im Dorfe nicht«, sagte er.
Dies reizte die Neugier des Knaben, und er fragte: »O, wo denn? Zeig mir schnell den Platz!«
»Wenn ich ihn dir jetzt zeige, merken es die Leute. Warte, bis es Nacht ist«, sagte Dschagannath.
Die Aussicht auf das geheimnisvolle Versteck entzückte den Knaben. Er malte sich aus, wie er, sobald sein Vater ohne ihn fortgegangen sein würde, mit seinen Kameraden Verstecken spielen und eine Wette machen wollte. Niemand würde ihn finden können. Wäre das nicht ein Spaß? Und daß auch sein Vater das ganze Dorf durchsuchen würde, ohne ihn zu finden – welch ein Hauptspaß!
Am Mittag schloß Dschagannath den Knaben in seinem Hause ein und verschwand auf einige Zeit. Als er wieder zurückkam, plagte ihn Nitai mit Fragen.
Sobald es dunkel war, sagte Nitai: »Großvater, gehen wir jetzt?«
»Erst muß es Nacht sein«, erwiderte Dschagannath.
Nach einer kleinen Weile rief der Knabe: »Jetzt ist es Nacht, Großvater; komm, laß uns gehen.«
»Die Leute im Dorf sind noch nicht zu Bett«, flüsterte Dschagannath.
Nitai wartete einen Augenblick, dann sagte er wieder: »Jetzt sind sie zu Bett, Großvater, ganz gewiß. Laß uns jetzt gehen!«
Die Nacht rückte vor. Der Schlaf legte sich schwer auf die Lider des armen Jungen, und er mußte gewaltige Anstrengungen machen, um wach zu bleiben. Um Mitternacht ergriff Dschagannath des Knaben Arm und verließ das Haus. Sie tasteten sich durch die dunklen Straßen des schlafenden Dorfes. Kein Laut unterbrach die Stille, nur ab und zu heulte irgendwo ein Hund, und dann stimmten alle Hunde ringsum im Chor ein; oder ein Nachtvogel, der durch den Laut von Menschentritten zu dieser ungewohnten Stunde aufgeschreckt war, flatterte dicht an ihnen vorbei. Nitai zitterte vor Angst und klammerte sich an Dschagannaths Arm.
Sie durchquerten manches Feld, und endlich kamen sie an ein Sumpfdickicht, wo ein verfallener leerer Tempel stand. »Ach, hier ist es!« rief Nitai enttäuscht. Er hatte sich den Ort ganz anders gedacht. Hierbei war nichts besonders Geheimnisvolles. Wie oft hatte er, seit er von Hause fortgelaufen war, die Nacht in solchem verlassenen Tempel zugebracht. Es war zwar ein ganz guter Ort zum Versteckenspielen, aber es war doch leicht möglich, daß seine Kameraden ihn hier aufstöberten.
Dschagannath trat hinein und hob von der Mitte der Diele eine Steinfliese. Der erstaunte Knabe erblickte einen unterirdischen Raum, in dem eine Lampe brannte. Furcht und Neugierde kämpften in seinem kleinen Herzen. Dschagannath stieg auf einer Leiter hinab, und Nitai folgte ihm.
Als der Knabe sich umsah, sah er rings an den Wänden lauter eherne Krüge. In der Mitte lag ein Gebetteppich ausgebreitet, und davor waren Zinnober, Sandelpaste, Blumen und andere Dinge, die man zur Pudscha pûjâ = gottesdienstliche Verehrung, wie sie Göttern oder auch Menschen, denen eine besondere Würde eignet, erwiesen wird. brauchte, bereitgelegt. Um seine Neugier zu befriedigen, langte der Knabe in einen der Krüge und nahm etwas von dem Inhalt heraus. Es waren Rupien und Goldmünzen.
Dschagannath wandte sich zu dem Knaben. »Ich habe dir gesagt, Nitai, daß ich dir all mein Geld geben würde. Ich habe nicht viel, diese Krüge sind alles, was ich besitze. Diese will ich dir heute übergeben.«
Der Knabe sprang hoch vor Freude. »Alle?« rief er. »Du nimmst mir aber auch keine einzige Rupie wieder davon weg, nicht wahr?«
»Wenn ich das tue,« sagte der alte Mann in feierlichem Ton, »so möge meine Hand aussätzig werden. Aber ich stelle dir eine Bedingung. Wenn jemals mein Enkel, Gokul Tschandra, oder sein Sohn oder sein Enkel oder Urenkel oder irgendeiner seiner Nachkommen des Weges hierher kommen sollte, so mußt du ihm oder ihnen alles bis auf die letzte Rupie übergeben.«
Der Knabe dachte, der Alte rede irre. »Gut«, erwiderte er.
»So setze dich auf diesen Teppich«, sagte Dschagannath.
»Warum?«
»Weil dir Pudscha erwiesen werden muß.«
»Aber wozu?« fragte der Knabe bestürzt.
»Das ist so die Vorschrift.«
Der Knabe hockte auf dem Teppich nieder, wie ihm gesagt war. Dschagannath bestrich seine Stirn mit Sandelpaste, machte ihm ein rotes Mal zwischen die Augenbrauen, legte ihm einen Blumenkranz um den Nacken und begann, Zaubersprüche herzusagen.
Dem armen Nitai war sehr bang zumute, als er so dasaß wie ein Gott und die Zaubersprüche anhörte. »Großvater«, flüsterte er.
Aber Dschagannath antwortete nicht, sondern fuhr fort, seine Zaubersprüche zu murmeln.
Zum Schluß schleppte er mit großer Mühe die Krüge, einen nach dem andern, vor den Knaben hin und ließ ihn das folgende Gelübde nachsprechen:
»Ich verspreche feierlich, daß ich diesen ganzen Schatz Gokul Tschandra Kundu, dem Sohn Brindaban Kundus, dem Enkel Dschagannath Kundus, übergeben werde, oder dem Sohn oder Enkel oder Urenkel des genannten Gokul Tschandra Kundu oder irgendeinem seiner Nachkommen oder rechtmäßigen Erben.«
Der Knabe wiederholte diese Worte immer wieder bei jedem Krug, bis er ganz betäubt und seine Zunge wie gelähmt war. Als die Zeremonie zu Ende war, war die Luft in der Höhle ganz dick von dem Rauch der irdenen Lampe und dem Atemgift der beiden. Dem Knaben war der Gaumen trocken wie Staub, und alle seine Glieder brannten ihm. Er erstickte fast.
Die Lampe wurde trüber und trüber und ging dann ganz aus. In der vollständigen Dunkelheit, die nun folgte, konnte Nitai hören, wie der Alte die Leiter hinaufkletterte. »Großvater, wohin gehst du?« rief er angstvoll.
»Ich gehe jetzt fort,« erwiderte Dschagannath, »du bleibst hier. Niemand wird dich finden. Vergiß nicht den Namen Gokul Tschandra, Sohn Brindabans und Enkel Dschagannaths.«
Dann zog er die Leiter fort. Mit angsterstickter Stimme flehte der Knabe: »Ich möchte zurück zu meinem Vater!«
Dschagannath legte die Steinplatte wieder an ihren Platz. Dann kniete er nieder und legte sein Ohr an den Stein. Er hörte noch einmal Nitais Stimme: »Vater« – dann kam ein Geräusch, als ob ein schwerer Gegenstand zu Boden fiel – dann war alles still.
Nachdem Dschagannath so seinen Reichtum einem Yak Yak oder Yakscha ist ein übernatürliches Wesen, von dem die altindische Sage und Dichtung berichtet. In Bengalen versteht man heutzutage unter einem Yak einen Geist, der einen Schatz zu bewachen hat, wie in dieser Geschichte. übergeben hatte, begann er, den Stein mit Erde zuzudecken. Dann häufte er zerbrochene Mauersteine und losen Mörtel darüber. Obenauf pflanzte er Grasbüschel und Waldgewächse. Die Nacht war fast vergangen, aber er konnte sich nicht von dem Orte losreißen. Immer wieder legte er sein Ohr an den Boden und horchte. Es war ihm, als ob von tief, tief unten – aus dem Innern der Erde herauf – ein Wehklagen ertönte. Es war ihm, als ob der Nachthimmel von diesem einen Laut überflutet wäre, als ob die ganze Menschheit, vom Schlummer aufgeschreckt, sich in ihrem Bett aufrichtete und horchte.
Der Alte häufte wie rasend Erde auf Erde auf den Stein. Er wollte jenen Ton irgendwie ersticken, aber immer kam es ihm vor, als hörte er »Vater!«
Er schlug mit aller Kraft auf den Boden und rief: »Sei still, sonst hören dich die Leute!« Aber immer noch glaubte er den Ruf »Vater« zu hören.
Die Sonne erleuchtete den östlichen Horizont. Da verließ Dschagannath den Tempel und kam hinaus aufs freie Feld.
Doch auch da rief plötzlich jemand: »Vater!« Erschrocken wandte er sich um und sah seinen Sohn dicht hinter sich.
»Vater,« sagte Brindaban, »ich höre, daß mein Junge sich in deinem Hause verbirgt. Ich muß ihn wiederhaben.«
Mit weitaufgerissenen Augen und verzerrtem Mund beugte der Alte sich vor und rief: »Dein Junge?«
»Ja, mein Gokul. Er heißt jetzt Nitai Pal, und ich selbst nenne mich Damodar Pal. Dein ›Ruhm‹ hat sich in der Nachbarschaft so weit verbreitet, daß ich unsere Herkunft verbergen mußte, weil die Menschen sich sonst geweigert hätten, unseren Namen auszusprechen.«
Langsam hob der alte Mann beide Arme über den Kopf. Seine Finger begannen sich krampfartig zu bewegen, als ob er versuchte, nach irgend etwas in der Luft zu greifen. Dann fiel er zu Boden.
Als er wieder zur Besinnung kam, zog er seinen Sohn nach dem verlassenen Tempel. Als sie beide drinnen waren, sagte er: »Hörst du irgend etwas klagen?«
»Nein«, sagte Brindaban.
»Höre einmal scharf hin! Hörst du nicht jemanden ›Vater‹ rufen?«
»Nein.«
Dies schien ihn sehr zu erleichtern.
Von diesem Tage an pflegte er umherzugehen und die Leute zu fragen: »Hört ihr nicht etwas klagen?« Sie lachten über den kindischen Alten.
Etwa vier Jahre später lag Dschagannath im Sterben. Als das Licht der Welt allmählich seinen Augen entschwand und das Atmen ihm immer schwerer wurde, richtete er sich plötzlich wie im Fieberwahn auf. Er warf beide Hände in die Luft, als ob er nach etwas tastete, und murmelte: »Nitai, wer hat mir die Leiter weggenommen?«
Unfähig, die Leiter zu finden, um aus seinem furchtbaren Kerker herauszuklettern, wo kein Licht zu sehen und keine Luft zum Atmen war, fiel er auf sein Lager zurück und entschwand in jene Region, wo noch niemals jemand gefunden wurde im ewigen Versteckspiel der Welt.
Ereignisse, wie das in dieser Geschichte erzählte, die jetzt glücklicherweise der Vergangenheit angehören, waren früher in Bengalen durchaus nicht selten. Unser Dichter weicht jedoch etwas von den landläufigen Berichten ab. Geizige Menschen nahmen zu solchem abergläubischen Treiben ihre Zuflucht, um selbst in einer zukünftigen Existenz wieder in den Besitz des Schatzes zu kommen. »Wenn du mich in einer künftigen Existenz des Weges kommen siehst«, so lautete die gewöhnliche Formel des Auftrages, den man dem Opfer mitgab, bevor es zum »Yak« wurde, »mußt du mir diesen ganzen Schatz übergeben. Bewahre ihn bis dahin und rühre dich nicht!« In unserer Kindheit hörten wir viele »wahre« Geschichten von Leuten, die plötzlich reich geworden waren durch die Begegnung mit solchen geisterhaften Wächtern ihres Reichtums aus einer früheren Existenz.