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Maschi!«
»Versuche zu schlafen, Dschotin, es wird spät.«
»Das macht nichts. Ich habe nicht mehr lange zu leben. Ich dachte eben, daß Mani doch lieber zu ihrem Vater sollte nach – wo wohnt er doch noch?«
»In Sitarampur.«
»O ja, Sitarampur. Schicke sie dahin. Sie sollte nicht länger bei einem kranken Mann bleiben. Sie ist selbst nicht kräftig.«
»Nun höre ihn einer! Denkst du denn, sie könnte es ertragen, dich in diesem Zustand zu verlassen?«
»Weiß sie, was die Ärzte –?«
»Aber das sieht sie ja selbst! Als ich neulich nur leise andeutete, daß sie zu ihrem Vater sollte, weinte sie sich fast die Augen aus.«
Wir müssen hier zur Erklärung sagen, daß dieser Bericht die Wahrheit etwas entstellte – um es gelinde auszudrücken. In Wirklichkeit verlief das Gespräch mit Mani folgendermaßen:
»Nun, mein Kind, du hast wohl Nachricht von deinem Vater bekommen? Ich meinte, deinen Vetter Anath hier zu sehen.«
»Ja! Nächsten Freitag ist das Annapraschan-Fest Entwöhnungsfest, wobei das Kind zum erstenmal Reis zu essen bekommt. meiner kleinen Schwester. Daher meine ich –«
»Schön, liebes Kind. Schicke ihr ein goldenes Halsband. Darüber wird deine Mutter sich freuen.«
»Ich möchte selbst hinreisen. Ich habe meine kleine Schwester noch gar nicht gesehen, und ich möchte sie gar zu gern sehen.«
»Was fällt dir ein? Du denkst doch nicht im Ernst daran, Dschotin allein zu lassen? Hast du nicht gehört, was der Arzt gesagt hat?«
»Aber er sagte doch, daß augenblicklich keine besondere Ursache zu –«
»Wenn er das auch gesagt hat, du siehst doch, wie krank er ist.«
»Sie ist das erste Mädchen nach drei Brüdern und alle machen soviel aus ihr. – Ich hörte, daß es eine große Sache werden soll. Wenn ich nicht komme, wird Mutter sehr –«
»Ja, ich weiß! Ich verstehe deine Mutter nicht. Aber ich weiß auch sehr gut, wie böse dein Vater sein wird, wenn du jetzt gerade Dschotin allein läßt.«
»Du mußt ihm ein paar Zeilen schreiben und ihm sagen, daß kein besonderer Grund zur Besorgnis da ist und daß, selbst wenn ich reise, auch kein –«
»Ja, da hast du recht; selbst wenn du reist, so ist nicht viel verloren. Aber das wisse: wenn ich deinem Vater schreibe, werde ich ihm offen sagen, was ich denke.«
»Dann brauchst du nicht zu schreiben. Ich werde meinen Mann fragen, und er wird sicher –«
»Nun hör mal, mein Kind. Ich habe ein gut Teil von dir ertragen, aber wenn du das tust, sind wir fertig miteinander. Und dein Vater kennt dich zu gut, als daß du ihn täuschen könntest.«
Als Maschi fort war, warf Mani sich verdrießlich aufs Bett.
Ihre Nachbarin und Freundin kam und fragte, was geschehen sei.
»Denk dir nur! Ist es nicht eine Schande? Jetzt kommt das Annapraschan-Fest meiner einzigen Schwester, und sie wollen mich nicht hinreisen lassen!«
»Aber Mani! Du denkst doch nicht wirklich daran, hinzureisen, wo dein Mann so krank ist?«
»Ich tue doch nichts für ihn, und ich könnte es auch nicht, wenn ich es auch versuchte. Ich will dir offen sagen: Es ist so sterbenslangweilig in diesem Hause, daß ich es nicht aushalten kann!«
»Du bist eine seltsame Frau!«
»Ich kann nur nicht heucheln wie ihr andern und trübsinnig aussehen, nur damit andre nicht schlecht von mir denken.«
»Nun, dann sag' mir, was du jetzt tun willst.«
»Ich muß fort. Niemand kann mich hindern.«
»Kßß! Was du für eine eigenwillige kleine Frau bist!«
Als Dschotin hörte, daß Mani geweint hätte bei dem bloßen Gedanken an eine Heimreise zu ihrem Vater, wurde er so erregt, daß er sich im Bett aufrichten mußte. Er schob das Kissen hinter seinen Rücken und sich darauf zurücklehnend, sagte er: »Maschi, öffne das Fenster ein wenig und nimm die Lampe weg.«
Die stille Nacht stand schweigend am Fenster wie ein Pilger der Ewigkeit, und die Sterne schauten herein, die Zeugen zahlloser Todesszenen in zahllosen Jahrtausenden.
Dschotin sah das Antlitz seiner Mani auf dem Hintergrunde der dunklen Nacht und sah, wie ihre großen dunklen Augen unaufhörlich von Tränen überflossen.
Maschi fühlte sich erleichtert, als sie ihn so ruhig sah, denn sie dachte, er schliefe.
Plötzlich machte er eine hastige Bewegung und sagte: »Maschi, ihr meintet alle, Mani sei zu oberflächlich, um sich in unserem Hause glücklich zu fühlen. Aber jetzt siehst du –«
»Ja, mein Liebling, jetzt sehe ich, daß ich mich irrte, – aber in der Prüfung bewährt sich erst der Mensch.«
»Maschi!«
»Versuch doch zu schlafen, mein Liebling.«
»Laß mich doch ein bißchen denken, laß mich plaudern. Sei nicht böse, Maschi!«
»Nun also, plaudre.«
»Damals, als ich glaubte, ich könnte Manis Herz nicht gewinnen, ertrug ich es still. Aber du –«
»Nein, mein Liebling, das darfst du nicht sagen; ich ertrug es auch.«
»Unsre Herzen, weißt du, sind nicht leblose Dinge, die man nur aufzunehmen braucht, um sie zu besitzen. Ich fühlte, daß Mani ihr eigenes Herz nicht kannte und daß eines Tages, durch ein starkes Erlebnis –«
»Ja, Dschotin, du hast recht.«
»Daher beachtete ich ihre Launen nicht viel.«
Maschi schwieg und unterdrückte einen Seufzer. Nicht einmal, sondern oft hatte sie bemerkt, wie Dschotin die Nacht auf der Veranda zugebracht hatte. Er hatte sich lieber von dem prasselnden Regen durchnässen lassen, als daß er in sein Schlafzimmer gegangen wäre. Wie manchen Tag lang hatte er mit fieberndem Kopf dagelegen, und sie wußte, wie er sich sehnte, daß Mani käme und seine heiße Stirn kühlte, während Mani sich fertig machte, um ins Theater zu gehen. Doch wenn Mani gekommen war, um ihn zu fächeln, hatte er sie verdrießlich fortgeschickt. Sie allein wußte von seiner heimlichen großen Not. Wie oft hätte sie ihm sagen mögen: »Beachte das törichte Kind nicht so viel, laß sie, bis sie selbst Sehnsucht und stille Tränen kennenlernt.« Aber so etwas kann man nicht sagen, und es wird auch leicht mißverstanden. Dschotin hatte der Gottheit Weib in seinem Herzen einen Altar errichtet, auf dem Mani thronte. Er konnte nicht glauben, daß er keinen Anteil haben sollte an dem Wein der Liebe, den jene Gottheit schenkte. Und so fuhr er fort anzubeten und sein Opfer darzubringen und gab die Hoffnung auf eine Gabe nicht auf.
Maschi glaubte wieder, daß Dschotin schliefe, als er plötzlich ausrief:
»Ich weiß, du dachtest, ich sei nicht glücklich mit Mani, und daher warst du böse auf sie. Aber Maschi, das Glück ist wie jene Sterne. Sie decken nicht die ganze Dunkelheit zu, es sind Lücken dazwischen. Diese Lücken sind unsere Irrtümer. Wir machen Fehler im Leben und verstehen vieles falsch, aber das Licht der Wahrheit dringt doch durch. – Ich weiß nicht, wie es kommt, daß mein Herz heute abend so froh ist.«
Maschi begann sanft über Dschotins Stirn zu streichen, während ihre Tränen ungesehen im Dunkel flossen.
»Ich dachte eben, Maschi, sie ist so jung! Was wird sie tun, wenn ich – –?«
»Jung, Dschotin? Sie ist alt genug. Ich war auch jung, als ich den Geliebten verlor, und ich fand ihn auf immer in meinem Herzen wieder. War das überhaupt ein Verlust? Und meinst du denn, daß man durchaus glücklich sein muß?«
»Maschi, es scheint, daß gerade, wo Manis Herz erwacht, ich – –«
»Sei darum nicht traurig, Dschotin. Ist es nicht genug, daß ihr Herz erwacht?«
Plötzlich fielen Dschotin die Worte aus dem Liede eines Volkssängers ein, das er vor langer Zeit einmal gehört hatte:
O mein Herz, du erwachtest nicht, als der Mann
deiner Liebe an deine Tür kam.
Erst beim Schall seiner scheidenden Schritte erwachtest du.
O, du erwachtest im Dunkel!
»Maschi, wie spät ist es jetzt?«
»Gegen neun.«
»Noch so früh! Und ich glaubte, es müßte wenigstens schon zwei oder drei sein. Meine Mitternacht beginnt ja schon, wenn die Sonne untergegangen ist. Aber warum wolltest du denn, daß ich schlafe?«
»Nun, du weißt, wie lange du gestern wach lagst, als du immerfort sprachst. Daher mußt du heute früh einschlafen.«
»Schläft Mani schon?«
»O nein, sie ist dabei, dir etwas Suppe zu kochen.«
»Das ist doch nicht dein Ernst, Maschi? Tut sie das wirklich?«
»Gewiß! Sie kocht ja alles für dich, die fleißige kleine Frau.«
»Ich dachte, daß Mani überhaupt nicht –«
»Eine Frau braucht nicht lange, um solche Dinge zu lernen. Wenn's not tut, lernt man sie von selbst.«
»Die Fischsuppe, die ich heute morgen aß, hatte einen so besonders köstlichen Geschmack; ich dachte, du hättest sie gekocht?«
»Ach, du meine Güte, nein! Du denkst doch nicht etwa, Mani würde mich etwas für dich tun lassen? Sie besorgt ja deine ganze Wäsche selbst; sie weiß, wie eigen du damit bist. Wenn du nur deine Wohnzimmer sehen könntest, wie blitzblank sie alles hält! – Wenn ich sie häufig in dein Krankenzimmer kommen ließe, so würde sie sich ganz aufreiben. Aber das will sie ja auch gerade.«
»Ist denn Manis Gesundheit –?«
»Der Arzt meint, wir sollten sie nicht zu oft ins Krankenzimmer lassen. Sie ist zu weichherzig.«
»Aber Maschi, wie kannst du sie daran hindern, hereinzukommen?«
»Weil sie mir blind gehorcht. Aber ich muß ihr beständig sagen, wie es dir geht.«
Die Sterne glitzerten am Himmel wie Tränentropfen. Dschotin neigte sein Haupt dankbar seinem Leben, das im Begriff war zu scheiden, und als der Tod durch das Dunkel seine Rechte nach ihm ausstreckte, faßte er sie vertrauensvoll.
Nach einer Weile seufzte Dschotin und sagte mit einer Bewegung leiser Ungeduld:
»Maschi, wenn Mani doch noch wacht, könnte ich da nicht – wenn auch nur eine –?«
»Ja gewiß! Ich will sie rufen.«
»Ich werde sie nicht lange festhalten, nur fünf Minuten. Ich habe ihr etwas Besonderes zu sagen.«
Maschi ging seufzend hinaus, um Mani zu holen. Inzwischen fing Dschotins Puls an, schnell zu schlagen. Er wußte nur zu gut, daß es ihm nie gelungen war, ein vertrauliches Gespräch mit Mani zu haben. Die beiden Instrumente waren verschieden gestimmt, und es war nicht leicht, sie zusammen zu spielen. Immer wieder hatte Dschotin ein plötzliches Gefühl von Eifersucht überkommen, wenn er Mani mit ihren Freundinnen lustig schwatzen und lachen hörte. Dschotin tadelte nur sich, – warum konnte er nicht über oberflächliche Dinge plaudern so wie sie? Nicht daß er es nicht gekonnt hätte; mit seinen männlichen Freunden plauderte er oft über allerlei alltägliche Dinge. Aber das Geplauder, das für Männer paßt, paßt nicht für Frauen. Man kann ein philosophisches Gespräch als Monolog halten und seinen unaufmerksamen Zuhörer gar nicht beachten, aber beim leichten Geplauder müssen mindestens zwei zusammenwirken. Man kann auf einer Sackpfeife spielen, aber nicht mit einer Zymbel. Wie oft hatte Dschotin, wenn er am Abend mit Mani draußen auf der Veranda saß, gewaltsame Anstrengungen gemacht, eine Unterhaltung mit ihr in Gang zu bringen, aber immer wieder riß gleich der Faden ab. Und es war, als ob der Abend sich seines Schweigens schämte. Dschotin war sicher, daß Mani sich von ihm fortsehnte. Dann hatte er selbst ernstlich gewünscht, ein Dritter möchte dazu kommen. Denn eine Unterhaltung zu dreien ist leicht, wenn sie zu zweien schwer fällt.
Jetzt fing er an darüber nachzudenken, was er sagen wollte, wenn Mani käme. Aber so ein künstlich zurechtgelegtes Gespräch wollte ihn nicht befriedigen. Dschotin fürchtete, daß diese fünf Minuten heute abend verloren sein würden. Und doch blieben ihm nur so wenige Augenblicke zu vertraulichem Gespräch.
»Was ist denn das, Kind, du willst doch nicht irgendwohin?«
»Doch, ich will nach Sitarampur.«
»Was denkst du dir denn? Wer soll dich denn begleiten?«
»Anath.«
»Nicht heute, mein Kind, ein andermal.«
»Aber die Kajüte ist schon belegt.«
»Was macht das? Der Verlust läßt sich leicht tragen. Reise morgen, morgen früh.«
»Maschi, ich glaube nicht an die Unglückstage des Kalenders. Was kann es schaden, wenn ich heute reise?«
»Dschotin möchte mit dir sprechen.«
»Schön, ich habe noch etwas Zeit. Ich will noch schnell einmal nach ihm sehen.«
»Aber du mußt ihm nicht sagen, daß du verreisen willst.«
»Gut, ich will ihm nichts sagen. Aber ich kann nicht lange bei ihm bleiben. Morgen ist das Annapraschan-Fest meiner Schwester, und ich muß heute reisen.«
»O mein Kind, ich bitte dich, höre doch dies eine Mal auf mich! Versuch, dich eine Weile ganz still zu fassen und setze dich zu ihm. Laß ihn nicht merken, daß du es eilig hast.«
»Was kann ich tun? Der Zug wartet nicht auf mich. Anath kommt in zehn Minuten zurück. Bis dahin kann ich bei ihm bleiben.«
»Nein, das geht nicht. In dieser seelischen Verfassung werde ich dich nie zu ihm lassen ... O du erbärmliches Geschöpf, der Mann, den du so quälst, wird bald diese Welt verlassen; aber ich warne dich: du wirst diesen Tag zeitlebens nicht vergessen. Daß es einen Gott gibt, daß es einen Gott gibt, das wirst du eines Tages erfahren.«
»Maschi, du mußt mich nicht so verwünschen.«
»O mein armer Junge, mein Liebling! Warum lebst du noch länger? Diese Sünde hat kein Ende, und ich kann nichts tun, sie zu hindern.«
Maschi zögerte noch eine Weile, dann ging sie ins Krankenzimmer zurück in der Hoffnung, daß Dschotin inzwischen eingeschlafen sei. Aber Dschotin bewegte sich im Bett, als sie eintrat. Maschi rief aus:
»Sieh einmal an, was sie nun gemacht hat!«
»Was ist geschehen? Kommt Mani nicht? Warum bist du so lange fortgeblieben, Maschi?«
»Ich fand sie bitterlich weinend, weil sie die Milch für deine Suppe hatte verbrennen lassen. Ich versuchte sie zu trösten und sagte, es gäbe ja noch mehr Milch. Aber daß sie bei der Zubereitung deiner Suppe so nachlässig hatte sein können, der Gedanke brachte sie ganz in Verzweiflung. Mit großer Mühe gelang es mir, sie etwas zu beruhigen und ins Bett zu bringen. Daher habe ich sie heute nicht mitgebracht. Laß sie ihren Kummer verschlafen.«
Obgleich es Dschotin schmerzlich war, daß Mani nicht kam, fühlte er sich doch in gewisser Weise erleichtert. Er hatte so halb und halb gefürchtet, daß die wirkliche Mani das Bild, das er von ihr im Herzen trug, trüben könnte. Das war schon früher geschehen. Und der Gedanke, daß Mani unglücklich war, weil sie seine Milch verbrannt hatte, füllte sein Herz mit überströmender Freude.
»Maschi!«
»Ja, mein Liebling?«
»Ich bin ganz gewiß, daß es mit mir zu Ende geht. Aber ich bin nicht traurig darum. Gräme dich nicht um mich!«
»Nein, mein Liebling, ich werde mich nicht grämen. Ich glaube nicht, daß nur das Leben gut ist, und der Tod nicht.«
»Maschi, du kannst mir glauben, der Tod ist süß.«
Dschotin lag still da und blickte hinaus in den dunklen Nachthimmel, und es war ihm, als ob es Mani selbst sei, die in Gestalt des Todes auf ihn zuschritt. Sie war in ewige Jugend gekleidet, und die Sterne waren Blumen, die die große Mutter der Welt segnend auf ihren dunklen Scheitel gestreut hatte. Es war ihm, als ob er sie jetzt wieder zum erstenmal unter dem Hochzeitsschleier sähe Braut und Bräutigam sehen einander zum erstenmal bei der Hochzeitsfeier unter einem Schleier, den man ihnen übers Haupt wirft.. Die unendliche Nacht wurde ganz erfüllt von dem liebenden Blick aus Manis dunklen Augen. Mani, die Braut dieses Hauses, das kleine Mädchen, wurde zu dem Bild einer Gottheit, das auf dem Altar der Sterne thronte, wo Leben und Tod in einen Strom münden. Dschotin faltete die Hände und flüsterte leise: »Endlich hat sich der Schleier gehoben, die Hülle des tiefen Dunkels ist zerrissen. Ach, Geliebte! Wie oft hast du mein Herz gemartert, aber jetzt wirst du mich nicht mehr verlassen!«
»Ich habe Schmerzen, Maschi, aber du mußt nicht denken, daß ich leide. Es ist, als ob meine Schmerzen sich allmählich von meinem Leben lösten. Bisher folgten sie ihm wie ein beladenes Boot im Schlepptau, jetzt aber ist das Seil zerrissen, und sie treiben dahin mit allem, was mich drückt. Ich sehe sie noch, aber sie gehören nicht mehr zu mir. – Aber Maschi, ich habe diese beiden letzten Tage Mani nicht ein einziges Mal gesehen!«
»Dschotin, ich will dir ein anderes Kissen geben.«
»Es scheint mir fast, Maschi, als ob Mani mich auch verlassen hat und von mir forttreibt wie das beladene Leidensboot.«
»Komm, trink ein Schlückchen von dem Granatapfelsaft, mein Liebling. Dir muß der Hals ganz trocken sein.«
»Ich schrieb gestern mein Testament; habe ich es dir gezeigt? Ich kann mich nicht mehr erinnern.«
»Du brauchst es mir nicht zu zeigen, Dschotin.«
»Als Mutter starb, besaß ich nichts. Du ernährtest mich und zogst mich auf. Daher meine ich – –«
»Unsinn, Kind. Ich hatte nur dies Haus und ein bißchen Vermögen. Das übrige hast du verdient.«
»Aber dies Haus –?«
»Das ist nichts. Du hast ja soviel hinzugebaut, daß es schwer ist zu sagen, wo mein Haus war!«
»Ich bin sicher, daß Manis Liebe zu dir wirklich –«
»Ja, ja, das weiß ich, Dschotin. Nun versuch zu schlafen.«
»Wenn ich auch mein ganzes Eigentum Mani hinterlassen habe, so ist es praktisch doch deins, Maschi. Sie wird dir ja immer in allem gehorchen.«
»Warum quälst du dich deshalb so viel, mein Liebling?«
»Alles, was ich habe, verdanke ich dir. Wenn du mein Testament siehst, so denke keinen Augenblick, daß – –«
»Aber was fällt dir ein, Dschotin? Glaubst du denn, daß ich es auch nur einen Augenblick übelnehmen könnte, wenn du Mani gibst, was dir gehört? Ich bin doch nicht so kleinlich.«
»Aber du wirst auch – –«
»Nun höre einmal, Dschotin, jetzt werde ich böse. Du willst mich mit Geld trösten.«
»Ach, Maschi, wie gern möchte ich dir etwas geben, was besser ist als Geld!«
»Das hast du ja getan, Dschotin! mehr als genug. Hast du mir denn nicht mein einsames Leben ausgefüllt? Das war solch ein großes Glück, daß ich es mir in vielen früheren Leben verdient haben muß. Du hast mir soviel gegeben, daß ich jetzt, wo dies Leben mir nichts mehr zu geben hat, nicht klagen werde. Ja, ja, hinterlasse nur Mani alles: dein Haus, dein Geld, deinen Wagen und dein Land – mir sind solche Lasten jetzt zu schwer.«
»Ich weiß ja, daß du den Geschmack an den Freuden des Lebens verloren hast, aber Mani ist so jung, daß –«
»O nein, das mußt du nicht sagen. Wenn du ihr dein Eigentum hinterläßt, das ist schon recht, aber was die Freuden des Lebens anbetrifft –«
»Aber warum sollte sie sie auch nicht genießen, Maschi?«
»Nein, nein, das wird sie nicht können in ihrem großen Schmerz. Sie werden ihr wie Staub und Asche sein.«
Dschotin schwieg. Er konnte nicht entscheiden, ob es wahr war oder nicht und ob er es beklagen müsse, wenn Mani die Welt ohne ihn zuwider war.
Er seufzte und sagte: »Das, was wirklich des Gebens wert ist, können wir niemandem zurücklassen.«
»Es ist nichts Geringes, was du gibst, mein Liebling. Ich bete nur, daß sie den Wert dessen, was ihr gegeben wird, erkennen möge.«
»Gib mir noch etwas von dem Granatapfelsaft, Maschi, ich bin durstig. Kam Mani eigentlich gestern zu mir?«
»Ja, sie kam, aber du schliefst gerade. Sie saß lange Zeit am Kopfende deines Bettes und fächelte dich; dann ging sie weg, um deine Wäsche zu besorgen.«
»O wie wunderschön! Ich glaube, ich habe in demselben Augenblick geträumt, daß Mani versuchte, zu mir hereinzukommen. Die Tür war angelehnt, und sie stieß dagegen, aber sie wollte sich nicht öffnen. Aber Maschi, du gehst zu weit, du solltest sie wissen lassen, daß ich sterbe; sonst wird mein Tod ein so furchtbarer Schlag für sie sein.«
»Komm, mein Liebling, ich will dir diesen Schal über die Füße decken, sie werden ganz kalt.«
»Nein, Maschi, ich kann so etwas nicht auf den Füßen haben.«
»Weißt du, Dschotin, daß Mani dir diesen Schal gestrickt hat? Sie hat so fleißig daran gearbeitet, als sie eigentlich hätte schlafen sollen. Erst gestern ist sie damit fertig geworden.«
Dschotin nahm den Schal und streichelte ihn zärtlich. Er empfand die sanfte Weichheit der Wolle als hielte er Manis Hand in der seinen. Nacht für Nacht hatte sie ihre liebenden Gedanken hineingewoben. Er war nicht aus Wolle gemacht, sondern aus ihrer Berührung. Als daher Maschi den Schal über seine Füße legte, war es ihm, als ob Mani seine müden Glieder liebkoste.
»Aber Maschi, ich dachte, Mani könne gar nicht stricken, – jedenfalls mochte sie es nie.«
»So etwas lernt man schnell. Natürlich mußte ich es ihr zeigen. Auch sind allerlei Fehler darin.«
»Laß diese Fehler nur, wir wollen ihn ja nicht auf die Pariser Ausstellung schicken. Er wird trotz der Fehler meine Füße warm halten.«
Dschotin begann sich im Geiste Mani bei der Arbeit vorzustellen, wie sie Fehler machte und nicht damit zustande kommen konnte und doch Abend für Abend geduldig weiter daran arbeitete. Wie lieb und rührend war das doch! Und wieder strichen seine Finger zärtlich über den Schal.
»Maschi, ist der Doktor unten?«
»Ja, er will heute nacht hierbleiben.«
»Aber sag' ihm, es ist nutzlos, wenn er mir einen Schlaftrunk gibt. Der verschafft mir nicht wirklich Ruhe, und ich fühle mich nur schlechter danach. Laß mich richtig wach bleiben. – Weißt du, Maschi, daß unsre Hochzeit in der Vollmondnacht war im Monat Mai? Morgen ist der Tag, und die Sterne jener Nacht werden am Himmel scheinen. Mani denkt vielleicht nicht daran. Ich möchte sie heute daran erinnern; rufe sie doch auf ein paar Minuten her. – ... Warum antwortest du nicht? Der Doktor hat dir wohl gesagt, ich sei so schwach, daß jede Aufregung – aber ich versichere dich, Maschi, wenn ich heute abend nur ein paar Minuten mit ihr sprechen kann, brauche ich gar keinen Schlaftrunk. – Maschi, weine doch nicht so! Ich fühle mich ganz wohl. Mein Herz ist heute so voll wie nie zuvor in meinem Leben. Darum möchte ich Mani sehen. – Nein, nein, Maschi, ich kann es nicht ertragen, wenn du so weinst. Du bist alle diese letzten Tage so ruhig gewesen. Was hast du denn nur heute abend?«
»Ach, Dschotin, ich glaubte, daß der Quell meiner Tränen versiegt wäre; aber sie fließen immer wieder von neuem. Ich kann es nicht ertragen.«
»Ruf' Mani! Ich will sie an unsern Hochzeitsabend erinnern, so daß sie morgen – –«
»Ich geh schon, mein Liebling. Schombhu wird an der Tür warten. Wenn du irgend etwas willst, ruf ihn.«
Maschi ging in Manis Schlafzimmer und sank weinend auf den Fußboden nieder. »O komm, komm dies eine Mal, du herzloses Geschöpf! Erfülle die letzte Bitte dessen, der dir alles gegeben hat. Er stirbt ja schon, gib ihm doch nicht den Todesstoß!«
Als Dschotin draußen Schritte hörte, fuhr er auf und rief: »Mani!«
»Ich bin Schombhu. Hat der Herr mich gerufen?«
»Sage deiner Herrin, sie soll kommen.«
»Wer soll kommen?«
»Deine Herrin.«
»Sie ist noch nicht zurück.«
»Zurück? Von wo?«
»Von Sitarampur.«
»Wann reiste sie dahin?«
»Vor drei Tagen.«
Einen Augenblick war Dschotin ganz betäubt, und alles drehte sich vor seinen Augen. Er glitt von den Kissen herab, die ihn stützten, und stieß den wollenen Schal, der seine Füße bedeckte, auf den Boden.
Als Maschi nach einer langen Weile zurückkam, erwähnte Dschotin Manis Namen nicht, und Maschi dachte, daß er sie ganz vergessen hätte.
Plötzlich rief er: »Maschi, erzählte ich dir den Traum, den ich neulich nachts hatte?«
»Welchen Traum?«
»Wo Mani immer gegen die Tür stieß, und die Tür wollte sich nicht weiter als einen Zoll öffnen. Sie stand draußen und konnte nicht herein. Jetzt weiß ich, daß Mani bis zuletzt draußen vor meiner Tür bleiben muß.«
Maschi antwortete nicht. Sie sah, daß der Himmel, den sie aus Lügen für Dschotin aufgebaut hatte, nun doch eingestürzt war. Wenn das Leid kommt, so ist es am besten, es nicht zu verleugnen. Wenn Gott schlägt, können wir dem Schlag nicht ausweichen.
»Maschi, die Liebe, die du mir gegeben hast, wird durch all meine künftigen Leben dauern. Ich habe dies Leben ganz damit angefüllt und nehme sie mit fort. Ich bin gewiß, in unserm nächsten Leben wirst du als meine Tochter geboren werden, und ich werde dich mit meiner ganzen Liebe hüten und hegen.«
»Was sagst du da, Dschotin? Meinst du, ich soll wieder als Mädchen geboren werden? Kannst du nicht beten, daß ich als Sohn in deine Arme komme?«
»Nein, nein, nicht als Sohn. Du wirst in mein Haus kommen in jener wunderbaren Schönheit, die dich schmückte, als du jung warst. Ich kann mir sogar schon vorstellen, wie ich dich kleiden werde.«
»Sprich nicht so viel, Dschotin, versuch' zu schlafen.«
»Ich werde dich Lakschmi Gemahlin Vischnus, Göttin des Glückes und der Schönheit. nennen.«
»Aber das ist ein altmodischer Name, Dschotin.«
»Ja, aber du bist ja auch meine altmodische Maschi. Komm wieder in mein Haus mit deiner schönen altmodischen Art.«
»Ich kann doch nicht wünschen, deinem Hause die Enttäuschung zu bringen, daß ein Mädchen statt eines Knaben kommt.«
»Maschi, du hältst mich für schwach und willst mir alles Schwere ersparen.«
»Mein Kind, ich bin eine Frau und habe als solche meine Schwäche. Daher habe ich mein ganzes Leben versucht, dir alles mögliche Schwere zu ersparen, – aber es ist mir nicht gelungen.«
»Maschi, ich habe in diesem Leben nicht Zeit gehabt, die Lehren, die ich empfangen habe, anzuwenden. Aber sie werden mir in meinem nächsten Leben zugute kommen. Ich werde dann zeigen, was ein Mann leisten kann. Ich habe gelernt, wie verkehrt es ist, immer nur an sich zu denken.«
»Was du auch sagen magst, mein Liebling, du hast nie etwas für dich selbst erstrebt, sondern alles andern gegeben.«
»Eins darf ich jedenfalls von mir sagen: Ich bin im Glück nie tyrannisch gewesen, noch habe ich versucht, mein Recht mit Gewalt zu erzwingen. Weil ich mich nicht belügen konnte, habe ich lange warten müssen. Vielleicht wird die Wahrheit zuletzt doch gütig zu mir sein. – Wer ist da, Maschi, wer ist da?«
»Wo? Es ist niemand da, Dschotin.«
»Maschi, sieh doch einmal nebenan nach. Ich glaubte –«
»Nein, mein Liebling! Ich sehe niemanden.«
»Aber ich meinte ganz deutlich – –«
»Nein, Dschotin, es ist nichts. Also sei ruhig. Der Doktor kommt jetzt.«
Als der Doktor eintrat, sagte er:
»Hören Sie mal, Sie dürfen nicht so viel bei dem Kranken sein, Sie regen ihn auf. Gehn Sie zu Bett, mein Assistent bleibt bei ihm.«
»Nein, Maschi, ich kann dich nicht fortlassen.«
»Gut, mein Liebling, ich werde ruhig in der Ecke sitzen.«
»Nein, nein, du mußt dicht bei mir sitzen. Ich kann deine Hand nicht lassen, nicht bis zuletzt. Deine Hand hat mich geführt und aus deiner Hand soll Gott mich wieder empfangen.«
»Nun gut,« sagte der Doktor, »Sie können dableiben. Aber Dschotin Babu, Sie dürfen nicht zu ihr sprechen. Es ist Zeit, daß Sie Ihre Medizin nehmen.«
»Zeit für Medizin? Unsinn! Die Zeit dafür ist vorbei. Jetzt Medizin geben heißt nur täuschen. Aber ich fürchte mich auch gar nicht vor dem Sterben. Maschi, der Tod bereitet mir schon seinen Trank, was soll der Doktor mich noch plagen! Schick ihn fort! Dich nur brauch ich jetzt, niemanden sonst, niemanden! Keine Lüge mehr!«
»Ich muß hier als Arzt Einspruch tun, diese Aufregung schadet Ihnen!«
»Gehen Sie also fort, Doktor, regen Sie mich nicht mehr auf! – Ist er fort, Maschi? ... das ist gut! Nun komm und nimm meinen Kopf in deinen Schoß.«
»Ja komm, mein Liebling. Und nun versuch' zu schlafen!«
»Nein, Maschi, sag' nicht, daß ich schlafen soll. Wenn ich einschlafe, wache ich nicht wieder auf. Ich muß mich noch etwas wach halten. – Hörst du nicht ein Geräusch? Es kommt jemand!«
»Dschotin, mein Liebling, mach' deine Augen mal ein wenig auf. Sie ist gekommen. Schau einmal her und sieh!«
»Wer ist gekommen? Ein Traum?«
»Kein Traum, mein Liebling! Mani ist mit ihrem Vater gekommen.«
»Wer bist du?«
»Siehst du denn nicht? Es ist deine Mani!«
»Mani? Hat die Tür sich geöffnet?«
»Ja, mein Lieb, sie ist weit offen.«
»Nein, Maschi, nicht den Schal! nicht diesen Schal! Dieser Schal ist eine Lüge!«
»Es ist kein Schal, Dschotin. Es ist unsere Mani, die sich über deine Füße geworfen hat. Leg deine Hand auf ihren Kopf und segne sie. Weine nicht so, Mani! Du hast noch Zeit genug dazu. Nun sei ein Weilchen ganz still.«