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Deine große Müdigkeit, Seele, das ist es, was mir nicht gefällt.
Deine Müdigkeit ist so dunkel, als müßtest du in einen Abgrund steigen, und dann in noch einen, und mit dem Blick den dritten ergründen, vor dem du schauderst, so kalt, so schwarz ist er, und wie deine Hand, dir voran, hinunter greift, da fühlt sie schon Totengebeine darin, von denen, die vor dir hinabgestiegen sind und nie wieder das holde Licht geschaut haben. Deine Müdigkeit will Erfahrung heißen; deine Müdigkeit glaubt die Menschen zu kennen. Deine Müdigkeit meint zu wissen, was die Vergangenheit bedeutet hat. Und du begreifst nicht, daß du in Dunkelheiten tastest, in engen, schwarzen Dunkelheiten, daß dir Vergangenheit sich ebenso verhüllt wie das, was du Zukunft nennst. Aber, Seele, es gibt ja nicht Vergangenheit und Zukunft, es gibt nur eine grobe Ewigkeit, in der du ein Teil bist, ein Goldkörnchen, ein leuchtender Funke. Was willst du denn in Nächten? Was sprichst du denn von Müdigkeit, bevor es an der Zeit ist für dich, müde zu sein?
Dein Los ist dunkel? Warum eben solltest du es aus eigner Kraft und eignem Glanz erhellen. Deine Arbeit ist schwer? Was ist denn das für Arbeit, die leicht ist?
Man würde nicht sagen: »Arbeit«, wenn es leicht wäre, und: »Müde«, wenn es stets Freude wäre. Du bist zu kleingläubig, Seele, darum schaust du immer zurück und erstarrst an deinem eignen Unglück, an allem, was dich schon zerrissen hat, und denkst nicht, daß alles, was dich zerrissen hat, unter deinen Füßen sich in Reichtum und Blumen verwandeln soll.
Daß die Erde rätselhaft traurig ist, das geht dich, Seele, nichts an: du bist hineingestellt, deinen Umkreis hell zu machen. Was weiter ist, das ist nicht deine Sache. Dein Leib hungert: Dein Leib ist krank? Dein Leib leidet? Aber, Seele, das ist ja nur dein Kleid, das sich eben beklagt. Dein Kleid soll verbraucht werden, auf diese oder die andere Weise. Dein Kleid kann dich nur kurze Zeit quälen. Das wirst du abwerfen. Wenn du Leuchtkraft genug erlangt hast, um die Hülle zu durchbrechen, und selbst zu verbrennen, was nicht mehr zu dir gehört. Alle Menschen sind müde. Alle Menschen sollen müde werden.
Die ganze Erde ist auf Verbrauch eingerichtet, wie solltest du allein darin ohne Not sein? Der Vogel lebt in Angst, der Wurm wird verzehrt, der Biene Hochzeitsflug wird von irgend einem Räuber vernichtet, und du willst allein glücklich sein, da, wo kein Tier glücklich ist, und zufrieden, ohne Angst leben darf?
Wer bist du denn, daß du es so sehr viel besser haben mußt, als alle die andern, die unschuldig sind, und gar nicht wissen, warum sie sich ängstigen?
Der Winterschlaf ist nur für den Körper, nicht für die Seele, die muß weiter, sogar im Schlafe ruht die Seele nicht. Da wandert sie durch unbekannten Raum, und nennt das »Träumen«, weil sich das, was sie erlebt, nur im Bilde in ihr Gehirn prägt. Das irdische, körperliche Gehirn wäre zu schwach, um die Erlebnisse der Seele in sich aufzunehmen und in ihrer ganzen Tiefe wiederzugeben. Da sieht es das nur im Bilde und Gleichnis, was die Seele Großes durchmacht, während der Körper schläft. Dein Nichtschlafenkönnen quält dich darum so sehr und macht dich unnütz müde, weil du verlangst, die Erde zu verlassen und dort zu sein, wo dein andrer Beruf ist, der dir unbekannte, unbewußte Beruf, den du bei der Nacht erfüllst, und der dich lehrt, die Erde für das anzusehen, was sie ist, – ein Übergang. Du verstehst nicht, warum der Körper ein solches Hindernis sein muß. Du sollst es wahrscheinlich nicht verstehen, sonst würdest du es verstehen. Du siehst alles rings um dich vergehen und hast doch den Begriff »Ewigkeit«; du siehst Beschränkung überall und hast doch den Begriff »Unendlichkeit«. Ist das nicht Beweis genug, daß deine Seele noch andere Regionen durchschweift und ganz genau weiß, daß es Ewigkeit und Unendlichkeit gibt? Du weißt dir unbewußt, daß es weder Vergangenheit noch Zukunft gibt. Denn dir selbst ist nichts vergangen von deinem kleinen Leben und von dem, was du weißt. Nicht was du gelernt hast, das hast du im Drange der Umstände vergessen, aber was du erlebt hast, das ist gegenwärtig wie in der ersten Stunde, das kann sich nicht verwischen und nicht verändern, du siehst es so deutlich als erlebtest du es eben noch, und oft versinkt die sogenannte Wirklichkeit vor dir in der sogenannten Erinnerung. Weißt du denn, was wirklicher ist, das was du mit leiblichen oder was du mit geistigen Augen siehst?
Lerne deine körperlichen Träume verachten und lerne die andern, die schauenden, im Bilde verstehen. Deine schauenden Träume tragen dich über deinen jetzigen Aufenthaltsort fort, in weiten Raum, und wollen dich verstehen lehren, wollen dich warnen, dir das zeigen, was geschehen muß, und dem du nicht entrinnen kannst, und das du, Seele, ganz genau weißt, wenn du von dem beengenden Gehirn befreit bist.
Müde! Aber Seele, frage dich einmal, ob deine Müdigkeit Stich hält gegen eine einzige kleine Freude, oder gegen einen erfüllten Wunsch? Wo ist sie hingekommen deine Müdigkeit, wenn dir ein Werk gelungen ist? Sie kehrt nur wieder, wenn dies Werk verkannt und mißachtet wird. Sie kehrt wieder, wenn du Angst erduldet hast. Denn Angst macht sehr müde. Wen? Doch wohl nur den Körper; denn der Körper hat Herzklopfen und trockne Lippen, der Körper hat kalte Hände und Ohnmacht, der Körper fällt nieder und kann sich nicht aufrichten. Du aber, Seele, du hast das alles nicht, du stehst schon über deiner Angst, wenn du nur genau weißt, was dir bevorsteht, und was du erdulden mußt, unentrinnbar, unentweichbar. Du stehst, wie der Feldherr über der Schlacht, vor der dein Antlitz erbleicht, und deine Zähne zusammenschlagen, aber du bleibst dennoch stehn, wie der Feldherr auf seinem Posten, und wunderst dich über deinen Mut. Der ist nicht größer, wie der des Weibes, das gebären muß. Sie weiß, ihre Stunde ist gekommen und nichts kann sie abwenden, das Kind muß in die Welt, und wenn sie sich auch tagelang in Qualen windet, und wenn sie ihr Leben darum verlieren wird, das Kind muß in die Welt. So stehst du, Seele, vor dem Unabänderlichen, das du weißt, das du so gut weißt, als hättest du es in einem Spiegel gesehen. Du tust nur vor dir selber so als wüßtest du es nicht. Du weißt die Folgen deiner Handlungen, du weißt, daß sogenanntes Unglück über dich hereinbrechen wird, aber du machst die Augen zu und willst es nicht sehen, und sagst, du bist müde.
Du stirbst nicht vor Schmerz und weißt es. Vielleicht erliegt dein Körper, aber du weißt, daß die Seele auskosten muß, was ihr bestimmt ist zu erleben.
Darum haben einige Menschen eine Hölle und ein Fegefeuer erfunden, in dem deutlichen Gefühl, daß die Seele nicht fertig mit Erleben ist, wenn auch zufällig das Erdenkleid abgestreift ist. Darum ist Selbstmord nur Gehirnschwäche, nicht Seelenentkräftung, denn du, Seele, mußt dennoch auserleben, was dir bestimmt ist, in einer oder der andern Form. Du kannst dem nicht entrinnen, was du Schicksal nennst. Du hast auch eine Ahnung davon, daß es umsonst ist dem Körper ein Ende zu machen, und zauderst, und denkst, vielleicht wendet sich doch das Unerträgliche noch, und dann ist es vielleicht ein für allemal ausgetrunken, und du brauchst nicht noch einmal anzufangen.
Und wenn in dem Augenblicke, da du mit dem Erdenleben abschließen willst, ein Hoffnungsstrahl durch dein Herz zieht, wie schnell öffnest du deine Herzenskammer dem eindringenden Lichte, wie bitter bereust du, daß du hast das kurze Leben nicht tragen wollen, und wie lächelst du später, wenn es dir besser geht, darüber, daß du so töricht hast handeln wollen! Es ist meistens nur ein Augenblick, der so ganz unerträglich ist, denn dann kommt schon wieder irgend eine Kleinigkeit, die dir das Sein in anderm Lichte zeigt. Du bist viel weniger verlassen und vergessen als du es wähnst, du bist von vielen umgeben, die deiner warten, aber du glaubst es nicht in der Stunde, welche du Verzweiflung nennst. Deine Verzweiflung ist nur Ungeduld. Denn, wärest du über der Erde wie der Feldmarschall über der Schlacht, so würdest du eben nicht verzweifeln, sondern die Zähne zusammenbeißen, Seele. Du glaubst nicht an Gott? Warum denn nicht? Weil du eben leidest? Ist das ein Grund? Aber dein Leiden ist vielleicht von der allerhöchsten Notwendigkeit, nicht nur in der dir sichtbaren Welt, sondern es greift vielleicht in dir fremde Welten hinein, und du bist nur ein kleiner Teil von dem, was hervorgebracht werden soll. Du mußt dein Kind hergeben und wähnst dich deswegen von Gott verlassen, und weißt nicht, wie gütig Gott dein Kind vor der Erdenqual bewahrt und es reif findet für viel höheren Beruf, und dich nicht reif genug, um es dem höheren Beruf entgegenzuführen.
Gott hat dich verlassen, weil er dich auf der Erde zur Witwe gemacht hat? Aber dein Mann hat eine Seele gehabt, die dir nicht gehört, in aller Ewigkeit nicht, denn du hast sie vielleicht nicht so verstanden und nicht so gehütet, wie sie es hätte haben sollen, und da wird sie abgerufen zu ihrem höheren Beruf oder zum Ruhen, nach langem Kampfe, den du nicht treu genug geteilt. Und nun stehst du da und ringst die Hände, und deine Seele ist nicht so betrübt wie dein Leib, der vielleicht darben wird, weil der Ernährer fehlt, und du hast ihn nicht lieb genug, um zu begreifen, daß das Erdenleben für ihn vollendet war. Du hast vielleicht nie daran gedacht, daß du allein auf der Erde zurückbleiben müßtest. Aber nun bist du allein, wenigstens fühlst du dich allein, da du nicht sehen kannst, was dich umgibt. Der Eltern Gräber haben sich geschlossen, und niemand hat dich selbstlos lieb, niemand, nicht Mann, nicht Kind, nicht Bruder, nicht Freund, niemand, und du weinst. Aber selbstlos lieb haben dich viele, die du nicht siehst, viele, die dich umschweben, viele, die dir als Hüter bestimmt sind, bis du selbst andere wieder beschützen sollst. Kennst du das ungeheure Ineinandergreifen der Welten? Gott hat dich verlassen? O du kindische Seele! Weißt du denn, wozu Gott dich berufen hat? Müde! Du brauchst ja gar nicht zu wissen, wann du müde bist. Das wissen die andern viel besser als du, die dir zu Wächtern bestimmt sind und dich abrufen, wenn die Stunde der Müdigkeit für dich geschlagen hat. Warum denn in den Abgrund hinunterblicken? Der Himmel ist ebenso nahe, und das Auge voll Licht, das hineinsieht. Warum es willkürlich in Schatten hüllen? Hast du nicht gesehen, daß die Gott vertrauen, auch immer Hilfe erfahren? Es ist deine eigene Ungläubigkeit, die dich in den Abgrund stürzt. Du brauchtest nicht hinunterzublicken, es zwang dich nichts dazu.