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XXIV.

Maria Terhalden sagte ihren Töchtern, daß sie in Geschäften für ein paar Tage verreisen müsse. Sie nannte keinen Ort und keine Zeit. Wenn etwas vorfiele, sollten sie sich an Onkel Jörg wenden. – –

Zum erstenmal im Leben handelte sie ohne Ueberlegung, ohne ihr Gewissen, ihr Pflichtgefühl, die Vergangenheit und die Zukunft zu Rate zu ziehen. Menschen hatte sie ja nie befragt. Diesmal befragte sie nicht einmal sich selbst.

Wieder durchflog sie die flachen Lande, durch die sie schon einmal ihr Weg geführt. Damals lagen sie im dicken Nebel. Heut lastete über ihnen ein satter, wolkenloser Sonnenschein. Damals lagen die Felder öde und leer; heut stand die Ernte in Garben. Damals war alles Ruhe, Erschöpfung nach vollbrachten Aufgaben und Arbeiten; heut war alles Lebensdrang, Schaffensfreude, Arbeitslust. Vogelsang und Menschenlied durchhallte die sonnige Weite; Fruchtbarkeit und Segen krönte die Erde mit stolzem, sattem Glück.

Gegen Abend kam Maria Terhalden auf der kleinen Station an, die ganz verloren dalag in dem weiten, flachen Felde. Damals hatte ein elegantes Gefährt sie erwartet; heute ging sie zu Fuß.

Ihre kleine Reisetasche in der Hand, schritt sie rüstig aus, an erstaunten Menschen vorbei, die der Fragenden den Weg wiesen, und ihr dann noch erstaunter nachsahen. – Zwei Stunden mußte sie wandern; aber sie wurde nicht müde. Die Sonne versank am flammenden Abendhimmel. Das warme, rote Licht wurde matter und blasser. Aus den Weidegründen stieg die abendliche Kühle. Kleine feine Nebelschleier schwebten darüber hin. Der Brachvogel pfiff; die Wildente flatterte mit Klatschen und Flügelschlagen aus den kleinen Tümpeln, auf denen breite, blanke Mummelblätter lagen; der Reiher segelte ruhevoll mit lautlosem Flug durch den durchsichtigen Aether. –

Das Abendrot verblaßte, die Dämmerung sank über die Lande.

Drüben tauchten Bäume und Dächer auf. Der Rauch aus den Schornsteinen stieg blaugrau und kerzengrade empor, und verschwamm mit dem blaugrauen Zwielicht. Ein Hund schlug an; ein Stier brüllte. Die Schnitter sangen ein Abendlied, spielende Kinder schrien und lärmten wie Spatzenvolk. –

Die alte Dorette saß vor der Giebeltür, die Hände über dem stattlichen Leib gefaltet, in beschaulicher Trägheit nach der Arbeit des Tages ruhend. Der feine Küchengeruch, der sie wie die Atmosphäre ihres Seins immer umgab, vermischte sich mit dem Duft der Nelken und Reseden in den Beeten vor dem Hause. Zu ihren Füßen lag der Hund; über ihrem Kopf huschten, sich kreuzend, die unruhigen Flattermäuse.

Die alte Dorette druselte; sie hatte das graue Haupt gegen die Mauer gelehnt und die Augen halb geschlossen in wohligem Sichgehenlassen. Auf dem Hofe war alles still; nur am Stall hinter der Fliederhecke schäkerte der Knecht mit der Magd. Durch die Stille hallte ein leichter Schritt, der sich schnell und zielbewußt näherte. Die alte Dorette blinzelte mit den Augen. Denn sie war neugierig; und außerdem fühlte sie sich verantwortlich für alles, was auf diesem Hofe geschah.

Es kam jemand gerade auf sie zu. Eine Frau. Eine feine Frau, eine junge Frau; eine blonde Frau. Oder war es ein feines, junges, blondes Mädchen? Die alte Dorette wurde plötzlich unruhig. Die kannte sie doch! die hatte sie doch schon einmal gesehen! War das nicht – ja, gewiß und wirklich, das war Frau Maria Terhalden.

Was wollte die hier? Wo kam die her – so spät, zu Fuß!

Maria Terhalden stellte ihre Reisetasche auf die Bank, neben den Platz, von dem die alte Dorette verstört aufgefahren war. Sie legte den Finger auf den Mund mit einem schalkhaften Lächeln.

»Still, Dorette,« flüsterte sie. »Machen Sie keinen Aufstand. Sie kennen mich wieder, nicht wahr?«

Die Alte ergriff ihre Hände und drückte sie wortlos.

»Unter Hunderten kenn ich Sie wieder,« sagte sie endlich. »Aber was hat denn das zu sagen – weiß denn der Herr –«

»Nichts weiß er. Aber ich habe mit ihm zu reden. Ist er zu Hause?«

Nun fiel der alten Dorette etwas ein.

»Na – das ist man ein Glück, daß Sie heute kommen. Morgen hätten Sie ihn nicht mehr gefunden!«

»Warum nicht?«

»Weil er alle Koffer gepackt hat. Morgen geht er auf Reisen; für lange Zeit, hat er gesagt; übers Wasser. Er war die letzte Zeit so sonderbar; gar nicht mehr freundlich, wie sonst; finster und ungebärdig, wie damals, als er zuerst zu uns kam. Das macht wohl die Einsamkeit. Ich hab's ja immer gesagt – das ist nichts für ihn.«

Maria sah an ihr vorbei mit einem verträumten, schweren Blick. Die alte Dorette sammelte sich.

»Soll ich Sie melden? Er sitzt wohl noch an den Büchern. Er hat noch Licht. Der Sekretär ist vor einer Viertelstunde drin gewesen.«

Maria nahm den kleinen Reisehut ab und fuhr mit der Hand glättend über das lockre Haar. Sie zog auch die Jacke herunter und stand da in ihrem einfachen, schwarzen Kleidchen, unscheinbar und doch stolz und vornehm wie eine Prinzessin.

»Nein. Ich will unangemeldet hineingehen. Zeigen Sie mir nur den Weg. Nein – nicht über den Hof. Lieber hinten herum –«

Die alte Dorette sah sie kopfschüttelnd an. Sie hätte zu gern gewußt, was dies alles zu bedeuten hatte. Sie hatte keine blasse Ahnung.

Sie ging voran und Maria Terhalden folgte. Dorettes Schritt wuchtete schwerfällig durch die gewölbten Gänge; Marias Schritt war unhörbar, wie der Schritt des Glücks auf den Zugängen menschlicher Herzen.

»Da – die erste Tür links,« sagte die alte Dorette. Maria blieb stehen, und nickte ihr zu. Dorette fühlte sich verabschiedet und entfernte sich unterwürfig.

Rütjer Thoren saß am Schreibtisch und ordnete seine Papiere, wie man das tut, wenn man eine lange Reise antritt, von der man nicht wissen kann, ob sie wieder zurückführt. Die Schlüssel klapperten, das Papier knisterte, Schubfächer flogen auf und zu. Ein Buch fiel auf die Erde. Er bückte sich danach.

Da klinkte jemand an seiner Tür. Er hatte niemand kommen hören. Wer störte ihn noch? – Er kramte weiter und sah gar nicht hin. –

Plötzlich hatte er die Empfindung, als stünde da jemand im Zimmer. Da sah er beunruhigt auf.

Mein Gott – – er war doch wach, nüchtern, träumte doch nicht. Oder war er so heruntergekommen mit seinen Nerven in diesen elenden Wochen, daß er mit wachen Augen Gespenster sah? Daß ihm im nüchternen Zustand Geister erschienen? – Er war wie gelähmt, fand kein Wort, keine Bewegung.

Maria Terhalden kam näher, ganz leise, ganz langsam, mit einem holdseligen Lächeln, mit einer bangen Frage in den schönen, stillen Augen.

Nein – das war nicht die Maria Terhalden, die ihn fortgeschickt hatte, unbarmherzig, starrsinnig fortgeschickt hatte in die Finsternis zerstörter Lebenshoffnungen. Das war die Maria Terhalden von damals, als sie noch ein süßes, barmherziges Kind gewesen war.

Rütjer Thoren fühlte etwas in seinem männlichen Herzen, das der Furcht ähnlich war. Der Furcht vor etwas Uebersinnlichem, Ueberwältigendem. Er starrte sie an, als wolle er den Geist bannen.

Maria Terhalden zitterte. Alles an ihr zitterte, ihr Leib und ihre Seele. Unter diesem Zittern raffte sie ihren ganzen Mut zusammen. Sie hatte Mut, denn sie freute sich so über alle Maßen, sie war so unsinnig glücklich, daß sie sein Gesicht, sein liebes, geliebtes Gesicht wiedersah.

»Ich will den Köbinghof bezahlen,« sagte Maria Terhalden.

Sie war es also wirklich. Ihre Stimme brach den Zauber. Er vergaß, alles, was man in solchen Augenblicken verständnisloser Ueberraschung zu sagen pflegt. Er stand steif und förmlich auf und machte ein finstres Gesicht.

Was ist das nun noch für eine Komödie – nach Toresschluß, dachte er grimmig.

»Geschenke bezahlt man nicht,« sagte er hart.

»So will ich mich bedanken. Es kommt ja auf dasselbe heraus.«

»Das hättest du – hätten Sie sich und mir ersparen können.«

Maria Terhalden kam noch einen Schritt näher; sie stand jetzt dicht neben ihm.

»Rütjer,« sagte sie, »verstehst du mich denn nicht – oder willst du mich nicht verstehen?«

Endlich – endlich dämmerte es ihm. Aber es war zu schnell, zu plötzlich. Sein Atem jagte. Trotzdem konnte er sich nicht so weit herablassen, zu fragen. Und wenn sie sich jetzt umgewandt hätte und hinausgegangen wäre – er konnte nicht fragen.

Maria Terhalden schlug die Augen nieder vor seinem finstern, hochfahrenden Blick.

»Ich will bezahlen – will danken –« flüsterte sie; »mit dem Besten, mit allem, was ich habe, mit mir selber. Deine Güte hat mich überwunden.« Und plötzlich warf sie den Kopf zurück, riß die Augen weit und selig auf, breitete die Arme nach ihm aus. »Nimm mich – ach, nimm mich doch –«

*

Der Graf hat immer noch Licht, sagte die alte Dorette zu sich selber; und es geht doch schon auf Mitternacht. Und Frau Maria kommt auch nicht wieder!

Sie war nicht zu Bett gegangen. Sie mußte doch abwarten, was das eigentlich wurde. Frau Maria mußte doch irgendwo untergebracht werden. Sie konnte doch nicht ebenso geheimnisvoll wieder verschwinden, wie sie gekommen war. Alle zehn Minuten stand sie von ihrem alten Sofa auf, in dessen Ecke sie sich müde zusammengeknäuelt hatte, drückte ihr Gesicht gegen die Fensterscheiben und stellte mit ihren vor Schlafsucht zwinkernden Augen fest, daß der Graf immer noch Licht hatte.

Endlich wurde es ihr zu arg. Wenn die beiden da die ganze Nacht verwachen wollten – sie mußte ihre Ruhe haben. Vorher aber wollte sie noch beweisen, daß sie wußte, was sich schickte, was ihres Amtes war.

Entschlossen nahm sie Marias Sachen, die sie in ihrem Zimmer verwahrt hatte, tappte sich durch das dunkle Haus, in dem längst alle Leute schliefen, und klopfte herausfordernd an die Tür ihres Herrn.

Niemand antwortete. Da trat sie ohne weiteres ein.

Ueberm Arm Marias Jacke, in der Hand den Hut und die Tasche, stand sie da und wußte nicht, wie ihr geschah.

Da saß Rütjer Thoren, und neben ihm saß Frau Maria Terhalden, und sie hielten sich umschlungen, und ihr Kopf lag an seiner Brust, und er neigte sich über sie und flüsterte mit ihr und streichelte ihr blondes Haar und küßte sie.

Die Tasche fiel ihr aus der Hand und schlug dumpf auf die Diele. Die beiden fuhren auf, und als sie die alte Dorette und ihr Entsetzen sahen, lachten sie.

Lieber Gott – wie lange hatte sie ihren Herrn nicht so lachen hören!

Aber es kränkte sie doch, daß man über sie lachte. Und sie hatte gesessen und gewartet und nichts gewußt.

»Wie kann man aber auch einer alten Person solchen Schreck einjagen!« brummte sie, hob die Tasche auf und stellte alles auf einen Stuhl. »Ich bitte um Verzeihung, wenn ich störe,« fuhr sie förmlich fort. »Ich wollte nur fragen, wo die Sachen bleiben sollen, und ob ich ein Zimmer zurechtmachen muß. Zeit wäre es ja.«

Rütjer Thoren sah sie halb gerührt, halb übermütig an.

»Kommen Sie einmal her, Dorette. Sehen Sie, das ist Ihre neue Herrin. Erst hat sie nicht gewollt; aber nun hat sie sich besonnen, und ist bei Nacht und Nebel hergelaufen, um es mir zu sagen. Und nun machen Sie das beste Zimmer im Hause für sie zurecht. Das beste ist noch lange nicht gut genug für sie.«

Verstehen tu ich das alles nicht, dachte Fräulein Dorette, während sie im Hause herumging, um für Maria Terhaldens Nachtruhe zu sorgen. Bei seinen Leuten geht das wohl anders zu, als bei Unsereinem. Aber Gott sei Dank, daß sie heute abend gekommen ist – morgen wäre es zu spät gewesen.

Sie war gründlich wach geworden. Die freudige Aufregung machte, daß sie Trab lief bei ihrer Arbeit, wie in jungen Tagen. Das hab ich ja schon damals gedacht, redete sie sich ein: Fräulein Antje wäre gut, aber Frau Maria wäre besser. Nur daß sie damals nicht zu haben war. Ja, ja – wie das wunderlich zugeht im Leben! – –

Drei Tage blieb Maria Terhalden bei Rütjer Thoren. Sie hatte es ihm nicht abschlagen können. Sie konnte ihm überhaupt nichts mehr abschlagen. Er hatte sie so sehr gebeten. – –

»Ein paar Tage nur, ein paar erste, selige Tage für uns ganz allein! Laß doch alle Bedenken und Rücksichten! Wir sind doch keinem andern verantwortlich, als uns allein. Ich will dich halten wie das heiligste Gut meines Lebens, aber ich will dich in diesen ersten Tagen für mich allein haben. Nachher kommt so viel andres – jetzt einzig und allein nur du und ich!«

Und die Tage waren wie Minuten an Kürze, und die Minuten waren wie Ewigkeit an Inhalt. Er küßte ihr den ganzen Ballast der Vergangenheit von der Seele, er küßte all die schweren Gedanken von ihrer Stirne fort. Er küßte ihr das Herz warm und die Augen hell. Die Sicherheit seiner starken Persönlichkeit hob sie über alle Unsicherheiten ihres Empfindens hinaus.

»Ich weiß nicht, was das ist,« sagte Maria. »Ich bin gar nicht mehr ich. Und doch habe ich mich nie so als mich selbst gefühlt. Ich könnte Tollheiten, ich könnte ein Verbrechen für dich begehen, und würde nur lachen, wenn jemand behaupten wollte, daß es ein Verbrechen sei. Mir ist, als hätte ich überhaupt noch nie gelebt, und wäre nun plötzlich auf die schwindelnde Höhe des Lebens gehoben und könnte da nicht allein stehen.«

Rütjer Thoren wurde ganz demütig, wenn sie so sprach. Ihre Liebe ängstigte ihn dann. Es war wirklich manchmal, als könne sie es nicht ertragen. Ihre Augen wurden immer größer, und sie wurde immer durchsichtiger. Ihr Leib war nur noch wie eine durchsichtige Hülle um ihre fiebernde Seele. Aber gerade das liebte er ja so sehr an ihr – dies Erglühen und Durchleuchtetsein von dem Feuer starker Empfindungen, dies Aufgehen ihrer ganzen Persönlichkeit in den großen Werten des Lebens. Und diese Beweglichkeit des Geistes, diese Hellsichtigkeit der Liebe. Ihre Seele folgte seiner Seele auf ihren verschlungensten Pfaden, in ihren verborgensten Schwingungen. Bei alledem war sie nicht sein willenloses Geschöpf – das hätte ihn sehr bald gelangweilt, ihm nicht genügt, seinem schöpfenden Willen versagt. Sie war selbst in den Augenblicken vollkommenster Hingabe eine selbständige Persönlichkeit; sie gab sich ihm hin mit all ihrem Reichtum, aber sie gab sich niemals aus, gab sich niemals auf. Sie regte ihn auch nicht auf; es war Ruhe in ihrer Liebe, und Frieden in ihrer Leidenschaftlichkeit; die schöne, stolze Ruhe heiligen Liebesgewährens; der leuchtende Friede unbedingten Vertrauens und ernster Glückszuversicht. Seine Seele zitterte unter ihrer reifen, heißen Frauenliebe, und kniete vor ihrer reinen, keuschen Weiblichkeit.

»Kind –« sagte er andächtig, und küßte ihre Hände, und dachte an den Tag, wo sie ihm in seiner Bewußtlosigkeit erschienen war wie ein Himmelsbote.

»Weib! Mein Weib!« flüsterte er mit heißen Lippen, und küßte ihre Augen, und dachte an den Tag, wo sie ihm endlich ganz gehören würde, als Trägerin höchsten Erdenglücks.

Sie hielt still zu allem. Und wunderte sich, daß plötzlich alles von ihr genommen war – Angst und Zagen und Unsicherheit, Gewissensbedenken und Schuldgefühl; daß all die dunklen Schatten ihres Lebens und ihrer Seele hinweggeleuchtet waren von dem Feuer, das sich allem Wollen und Sträuben zum Trotz den Durchbruch erzwungen hatte und einen neuen Menschen aus ihr machte.

Der Glaube wirkt Wunder zum ewigen Leben. Aber die Liebe wirkt Wunder zum irdischen Leben. Die Beschaffenheit des Wunders ist aber die, daß man es gar nicht zu erklären versucht, sondern daß man es hinnimmt als eine Tatsache, die vom Himmel ist, und allem menschlichen Denken erlösende Ruhe bringt.


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