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VIII.

Es kam ein Brief an Maria, von einer unbekannten, unbeholfenen Handschrift überschrieben, mit dem Poststempel, den sonst Antjes Briefe trugen.

Fräulein Dorette schrieb, daß Antje schwer an Typhus erkrankt sei und immerfort, im bewußten wie im bewußtlosen Zustande den Wunsch äußere, daß Maria zu ihr kommen möchte.

Als Maria diesen Brief las, dachte sie: nein, das kann niemand von mir verlangen – dies eine nicht!

Warum mußte es gerade Antje sein, die nach ihr rief! Sie hatten sich lange nicht gesehen; zu Weihnachten wurde es ein Jahr. Antje schrieb nicht oft – es gab wenig zu berichten aus ihrem gleichförmigen Arbeitsleben. Ihre Briefe klangen immer so heiter, so zufrieden; es tat ordentlich gut, solche Briefe zu lesen. Sie fühlte sich glücklich in ihrem Beruf, heimisch in ihrer Umgebung.

Und doch hatte Maria diese Briefe immer mit einer gewissen Scheu angefaßt und mit innerem Widerstreben gelesen. Jedesmal klopfte dabei etwas an ihr Herz, das sie da nicht einlassen durfte.

Im Hochsommer war Antje ein paar Wochen in einem kleinen Seebade gewesen, ganz allein, und hatte da wundervoll gefaulenzt. Ja, glückliche Menschen können es wagen, eine Zeitlang faul zu sein; für sie ist es ein Genuß und eine Stärkung. Rütjer Thoren hatte diese Erholung gewünscht für sie, ihr den Urlaub geradezu aufgezwungen, wie im ersten Jahr. Das war so seine Art, für jeden zu sorgen, der in seiner Arbeit stand, und dabei immer für den einzelnen das rechte zu treffen.

Nun war Antje, die zufriedene, glückliche, immer so gesunde Antje krank. Und Maria sollte kommen und sie pflegen. –

»Reise doch hin,« sagte Arne. »Du bist doch ebenso abkömmlich wie damals, als du Hilles wegen fort mußtest.«

Seiner Ansicht nach war sie immer abkömmlich, obgleich er es jedesmal übelnahm, wenn sie fortging. Darum war sie seit Jahren, seit dem Tode der Eltern, nie mehr verreist, außer zu Weihnachtsbesorgungen in die Hauptstadt.

Maria blieb zerstreut und einsilbig und konnte sich nicht entschließen.

Endlich schickte sie ein Telegramm an Fräulein Dorette.

Ob es wirklich so schlecht stehe mit Antje, daß ihr Kommen nötig sei?

Wenige Stunden später kam die Antwort:

Ja, es stand schlecht, und es sei sehr nötig, daß irgend jemand käme.

Irgend jemand. Warum also gerade sie?

Antje wünschte es. Aber Antje war ja wohl meist bewußtlos.

Maren erwartete in Kürze ein Kind. Hille saß mit Axel weit fort in einer ostdeutschen Garnison.

Nein, es blieb auf ihr sitzen. Es gab keinen andern, der zu Antje gehen konnte. Es war einfach ihre Pflicht.

Die Pflicht gegen sich selbst kann fordernder sein, als die Pflicht gegen andre, dachte Maria. Aber die Gegenwart hat stärkere Rechte als die Vergangenheit.

Maria rang mit ihrem Herzen, ihrem Pflichtgefühl die ganze Nacht.

Am andern Morgen reiste sie ab.

Durch endloses Flachland, darüber der Spätherbst seine melancholische Nebelfahne gehißt hatte. Nebelschleppen schleiften über die nassen Wiesen, über deren von den ersten Nachtfrösten bräunlich getöntes Grün die kleine Spinne ihre zahllosen Gewebe spannte; Nebelfetzen hingen um die Kronen der mächtigen Eichen. Nebel tropfte von dem herbstharten, graugrünen Blattwerk. Nebel senkte sich bis in die Gehöfte hinein, aus denen der taktmäßige Schlag des Dreschflegels schallte, und dämpfte das laute Krähen der Hähne, die auf dem dampfenden Dunghaufen unermüdlich das sonnige Wetter prophezeiten, das nicht eintreten wollte. Nebel vermischte sich mit den trägen Fluten breiter Stromläufe, daß man nicht wußte, stiegen sie daraus auf oder senkten sie sich hinein, um das flache Bett zum Ueberquellen zu füllen. Nebel tränkte die Nähe mit schwerem Naß, umhüllte die Ferne mit grauer Trostlosigkeit. Nebel dämpfte den Schall und die Farbe, drückte auf die ankämpfende Luft, lastete auf dem Gemüt. Fruchtbare Ackerlande flogen vorbei und große Städte; öde torfige Moore mit raschelnden Binsen und ärmlichen Ansiedelungen. Und dann wieder Acker und Moor – Moor und Acker, in gleichförmiger ermüdender Reihenfolge. Und immer über allem der zähe, dicke, graue, langsam wallende, drohend sich ballende Nebel.

Marias Augen versuchten, den Nebel zu durchdringen, bis sie schmerzten und sich müde schlossen. Marias Seele versuchte, das Kommende zu erschauen, bis sie ermattet abließ und sich dem Vergangenen zuwandte.

Dem Vergangenen, das tot ist, und doch allezeit lebendig: begraben ist, und doch allzeit gewärtig der Stimme, die es wieder ins Dasein ruft – zum Heil oder Unheil. – –

Wer will es sagen. – – –

Rütjer Thoren saß in dem stillen Gelehrtenzimmer ihres Vaters und stritt mit ihm über eine wissenschaftliche Frage. Sie kam herein und brachte Wein und Gläser auf einem silbernen Tablett. Sie ging wieder hinaus und erfuhr gar nicht, wie der fremde Gast hieß. –

Fragte auch nicht danach. Es kamen so oft fremde Gäste zu ihrem Vater.

Rütjer Thoren ritt mit seiner Schwadron unter ihrem Fenster vorbei. Sie stand auf dem Balkon und begoß die Blumen. Er sah hinauf – sie sah hinunter. Sie erkannte ihn wieder und wußte immer noch nicht, wer er war.

Sie stand alle Tage da auf dem Balkon und goß die Blumen. Und Rütjer Thoren ritt fast alle Tage da vorbei. Aber er sah nicht mehr hinauf. Und sie wunderte sich darüber.

Rütjer Thoren kam eines Tages die Straße heruntergesprengt, ganz allein, auf wildem, durchgehendem Pferde. Die ledernen Enden der zerrissenen Zügel peitschten seinen Hals und spornten es an zu rasendem Lauf.

Gerade unter ihrem Balkon machte das Pferd einen scharfen Seitensprung, warf den Reiter ab und raste weiter.

Rütjer Thoren lag bewußtlos auf dem Pflaster.

Sie stieß einen Schrei aus. Eine Minute später stand sie neben ihm, unten auf der Straße. Sie wußte nicht, was sie da wollte. Sie zitterte am ganzen Leibe.

Eine Menschenmenge sammelte sich um den Verunglückten. Man beriet, wie man ihn nach Hause bringen könnte.

Da erfuhr sie seinen Namen, der ihr nichts sagte.

Rütjer Thoren stöhnte, als sie ihn anfaßten. Von seiner Stirn sickerte Blut. Maria nahm ihr kleines, feines Taschentuch und legte es behutsam über die spaltige Wunde.

Und dabei zitterten ihre Finger nicht.

Rütjer Thoren schlug die Augen auf und sah Maria an. Der halbbewußtlose Blick offenbarte eine tiefe Qual. Maria erbebte, als ströme diese Qual aus seinen Augen in ihre Seele hinein.

Dann trugen sie ihn fort, und Maria ging ins Haus zurück und bekam Schelte wegen ihres unpassenden Benehmens und hörte es kaum. Denn in diesem Augenblick hatte sich an ihr ein Schicksal vollzogen.

Rütjer Thoren lag viele Wochen krank. Jeden Tag glaubte man, seine Sterbeglocke zu hören. Man hatte ihn in die Klinik eines berühmten Professors gebracht, der seinen verletzten Schädel zu heilen versprach, aber für seinen Verstand fürchtete. Er redete unaufhörlich in der Bewußtlosigkeit Dinge, die kein Mensch verstand. Und in klaren Stunden sprach er erst recht, was kein Mensch begriff. Niemand wurde zu ihm hineingelassen. Aber die Aerzte erzählten es.

Maria hörte geistesabwesend zu, wenn davon gesprochen wurde.

Eines Tages war ein Gartenfest zu einem wohltätigen Zweck. Maria war auch dabei. In einem kokett aufgeputzten Blumenstand verkaufte eine junge, fröhliche, bildhübsche Frau Frühlingsblumen.

Wenn man all diese Veilchen, Maiglöckchen und Ranunkeln sah und das sorglose, lachende, schöne junge Gesicht dazwischen, dann vergaß man, daß der Frühling schon lange, lange vorbei war. Maria war wie gefesselt von all dem Duft, dem Blühen, der Frühlings- und Lebenslust. Sie stand da immerfort herum und hätte gar zu gern ein Sträußchen von diesen kleinen, tiefdunklen Veilchen gekauft und dachte, wie sehr solch frischer duftender Veilchenstrauß wohl einen der armen Kranken erfreuen würde, für die sie hier verkauft wurden, traute sich aber nicht heran. Da sagte neben ihr jemand:

»Unglaublich – Rütjer Thoren ringt mit dem Tode und seine Frau verkauft Blumen und läßt sich den Hof machen!«

Da empfand Maria einen Ekel vor den süßen kleinen Veilchen, und die Lust zu kaufen war ihr vergangen.

So erfuhr sie, daß er eine Frau hatte.

Es kam der Assistenzarzt aus der Klinik des Professors zu Marias Vater. Der erzählte, daß der Kranke in seinen Phantasien fortwährend das Kind zu sehen verlange, das ihm die Hand auf die Stirn gelegt und den furchtbaren Schmerz daraus vertrieben habe.

Er rege sich derart auf über die Nichterfüllung dieses Wunsches, daß dies seinen Zustand sichtlich verschlimmere. Die angestellten Erkundigungen hätten ergeben, daß seine Tochter bei dem Unglück zugegen gewesen sei, und daß der Kranke gerade in dem Augenblick, als sie ihm das Taschentuch auf die blutende Wunde gelegt habe, noch einmal zu flüchtigem Bewußtsein erwacht sei. Nur die könne gemeint sein. Marias Vater wurde dringend gebeten, zu erlauben, daß seine Tochter den Kranken besuche.

Der Vater sagte, daß er seine Tochter zu dieser Komödie nicht hergeben werde. Der Arzt stellte ihm vor, daß von dieser Komödie das Leben des Kranken abhängen könne. Solche Kranken haben öfter in ihren Phantasien eine fixe Idee, einen Wahn, dessen Befriedigung ihnen endgültige Ruhe verschafft.

Der Vater erklärte sich einverstanden unter der Bedingung, daß seine Tochter wolle.

Maria wurde gefragt. Ja, sie wollte.

Rütjer Thoren lag mit verbundenem Kopf und wachsbleichem Gesicht, in dem die eingesunkenen Augen dunkel durch die gesenkten Lider schimmerten. Maria wurde von dem Arzt an sein Lager geführt; der Vater wartete draußen. Sie hatte dasselbe Kleid anziehen müssen, das sie an jenem Morgen trug – ein hellblaues Leinenkleid mit weißen Bändchen besetzt.

Sie zitterte am ganzen Leibe, als sie da neben ihn hingestellt wurde. Der Arzt rief den Kranken an.

Rütjer Thoren öffnete mit einem schmerzlichen Stöhnen die Augen, deren leerer, suchender Blick unruhig umherging.

»Legen Sie ihm die Hand auf die Stirn,« flüsterte der Arzt.

Maria tat es. Die Hand war eiskalt und kühlte durch die Binde hindurch. Rütjer Thoren machte eine heftige Bewegung. In seinen leeren Augen sammelte sich die zerflatterte Seele. Jetzt sah er Maria und erkannte sie.

Mit übermenschlicher Selbstbeherrschung hielt sie Stand.

Rütjer Thoren seufzte tief auf.

»Ach – das ist gut, daß Ihr das Kind geholt habt,« sagte er.

Seine Augen blieben an ihr hängen. Seine Seele strengte sich an. Dann kam eine schnelle Ermattung über ihn. Die Augen blickten wieder ins Leere. Dann schlossen sie sich.

»Das ist gut –« murmelten seine Lippen. »Das ist gut.«

Maria stand noch immer mit der Hand auf seiner Stirn. Sie sah aschig blaß aus.

»Sie können gehen,« flüsterte der Arzt. »Ich danke Ihnen.« –

Rütjer Thoren wurde gesund. Nach dem »Kinde« fragte er nicht mehr.

Sie schickten ihn für mehrere Monate nach dem Süden. Seine Frau begleitete ihn.

Marias Vater verkehrte in den ersten Kreisen der Stadt. Er führte auch seine Tochter in diese Kreise ein. Da sah sie ihn wieder.

Rütjer Thoren behandelte sie wie eine Fremde. Er schenkte ihr keinerlei Aufmerksamkeit, sprach nicht mit ihr.

Gott sei Dank, dachte Maria. Seine Erinnerung ist ausgelöscht mit seiner Genesung. Er weiß nicht, welchen Anteil ich daran habe.

Er sah noch immer blaß aus, und in seinen Augen war oft ein fiebrisches Brennen. Sie sagten von ihm, er könne nicht ganz gesund werden, denn er habe Kummer. Maria dachte an die kleinen Veilchensträuße und an die Frau, die sie mit lachendem Gesicht ausbot.

Rütjer Thoren kam eines Abends auf sie zu, mitten in einer großen Gesellschaft, quer durch den hellerleuchteten Saal.

»Mein Gott, nur nicht mit ihm tanzen!« dachte Maria in hilfloser Angst.

Er forderte sie nicht zum Tanzen auf. Er blieb dicht vor ihr stehen, wie jemand, der etwas gewollt hat, und es nun lieber nicht mehr will. Er sah sie sekundenlang an mit den fiebrig brennenden Augen.

»Kind –« flüsterte er. Kaum, daß sich seine Lippen öffneten, aber mit einem Ton, der wie eine tötende Kugel einschlug.

Dann ging er weiter.

Sie aber wußte, daß er nichts vergessen hatte.

Maria war blaß und elend. Der Arzt stellte Bleichsucht fest und verbot ihr das Ausgehen. Sie war ihm dankbar dafür.

Dann kam der große Skandal, der tagelang alle Gemüter erregte. Rütjer Thorens Frau war auf und davon mit einem seiner jungen Offiziere. Er aber war in einer Stimmung, daß jeder sich fürchtete, mit ihm zusammenzukommen.

Marias Seele war wie gepeitscht von einer gräßlichen Angst. Niemand ahnte davon.

Rütjer Thoren begegnete ihr vor der Stadt, in den Anlagen. Es war ein lauer Spätsommerabend. Weit und breit niemand zu sehen.

Maria hätte sich in die Erde verkriechen mögen. Aber es war nicht einmal ein Seitenweg da, den sie hätte harmlos einschlagen können.

»Guten Abend,« sagte er und blieb vor ihr stehen. Sie war wie gelähmt vor Furcht.

»Warum sehen Sie mich so fremd an?« fragte er. »Sie haben mir doch das Leben gerettet!«

Sie war unter einem Bann; sie rührte sich nicht.

»Sie hätten mich lieber sterben lassen sollen,« sagte er heiser. Er sah sehr bleich aus. Nur auf der Stirne bis herunter auf das rechte Auge brannte rot und scharf gegrenzt eine schmale Narbe.

Rütjer Thoren nahm ihre Hand und drückte sie schmerzhaft. Sein Atem ging schnell und laut, seine Augen wurden heiß und wild.

Ein Augenblick noch –.

Maria wartete den Augenblick nicht ab. Sie riß sich los, sie stieß einen unterdrückten Schrei wahnsinniger Herzensangst aus; sie stürzte an ihm vorbei – fort, fort. –

Erst als die Füße sie nicht mehr trugen, als der Atem ihr nicht mehr gehorchte, und das Blut ihr in den Ohren rauschte, daß sie glaubte, der Schlag müsse sie rühren, verlangsamte sie ihre jagende Gangart.

Alles war leer und still umher. Da lehnte sie sich gegen den Zaun am Wege in einer halben Ohnmacht.

Rütjer Thoren hatte die Stadt verlassen. Man sah und hörte nichts mehr von ihm. Man vergaß ihn.

Maria wurde Arne Terhaldens Braut. –

Die Nebel stiegen und gaben die Ferne dem Blicke frei. Sie zerflatterten in Fetzen, und hier und da erschienen kleine Stücke Himmelsblau.

Der Wind machte sich auf von Norden, und vor seinem kräftigen Hauch flohen die grauen Massen. Ein Sonnenblitz flog über die Landschaft.

Maria öffnete die Augen, als erwache sie aus schwerem Traum.

Sie war müde, und auf ihrer Seele lastete das Dunkel eines unverstandenen Schicksals, die süße Schwere einer sehnsüchtigen Melancholie. -

Ach Gott – das war nicht die Stimmung, um tröstend und erheiternd an ein Krankenbett zu treten; nicht die Stimmung, einer Gefahr tapfer ins Auge zu schauen.

Ein elegantes Gefährt erwartete sie auf der Station; so, wie man es nicht zu schicken pflegt zur Abholung von Angehörigen der Beamten. –

Die Sonne siegte. Schöne, rote, flammende Abendsonne beschien ihren Weg. Maria merkte es nicht; sie sah nichts von der Gegend, durch die sie fuhr. Sie wagte überhaupt kaum, sich umzusehen.

Als sie über den Hof fuhr, starrte sie nur noch auf die blinkenden Knäufe der Wagenlaternen, in denen das letzte Sonnenlicht aufblitzte. Die gräßliche Angst kroch wieder durch ihren Körper und prickelte wie Eisnadeln in ihren Fingerspitzen.

»Ach, welch ein Glück für Fräulein Antje!« sagte jemand, und öffnete den Wagenschlag. Das brachte sie zur Besinnung.

Fräulein Dorette führte sie in Antjes Wohnzimmer, in dem ein Bett für sie aufgestellt war. Die Tür zum verdunkelten Nebengemach stand offen.

Maria warf Hut und Mantel ab und hörte einen unzusammenhängenden Krankheitsbericht. Dann trat sie mit ihren leichten, leisen Schritten an Antjes Lager.

Ein schmalgewordenes Gesicht lag da in den Kissen, mit Fieberrosen auf den Wangen, mit Fieberbrand auf den Lippen;, die weit geöffneten Augen starr nach oben gerichtet.

»Seit drei Tagen kennt sie niemanden,« flüsterte die alte Dorette, und wischte mit dem Schürzenzipfel die überwachten Augen. Sie war drei Nächte hindurch nicht aus den Kleidern gekommen.

Maria beugte sich über die Bewußtlose und nahm ihre unruhig zuckende Hand.

»Antje,« sagte sie im Ton zärtlichster, beruhigender Liebe. »Antje! kennst du mich?«

Antje hörte sie nicht; Antje erkannte sie nicht.

Maria wandte sich um. Auf ihrem Gesicht stand ernste Sorge.

Sie ließ sich genau sagen, was der Arzt angeordnet hatte; was für die Pflege nötig sei. Fräulein Dorette erklärte ihr die Arzneien, zeigte ihr alles, was für Antjes Behandlung, Stärkung und Erleichterung herangeschafft worden war.

Es ist gut für sie gesorgt, nichts versäumt und unterlassen worden, dachte Maria. Sie war gerührt über die mütterliche Besorgtheit der alten Wirtschafterin.

»O,« sagte sie, »der Herr Graf läßt es an nichts fehlen. Er kommt alle Tage ein paarmal selber nachsehen, wie es steht. Er war erst vor einer halben Stunde hier. Er hat es selber so gewünscht, daß Sie kämen, – sonst hätte er morgen um eine Diakonissin geschickt. Aber so ist es viel besser, dann sieht Fräulein Antje doch was liebes, wenn sie mal wieder zur Besinnung kommt.«

Maria übernahm die Nachtwache trotz Dorettes Sträuben, die ihr den Pflegedienst in der fremden Umgebung nicht gleich allein überlassen wollte. Erst als Maria einwilligte, daß eine Magd draußen auf dem Flur schlafe, damit sie jemanden in der Nähe habe und versprach, Dorette zu wecken, sowie sie irgend eine Hilfe brauchte, gab sie nach und ging, schwankend vor Müdigkeit. Aber dreimal noch fiel ihr irgend etwas zu sagen, zu erinnern ein, ehe sie endlich hinaus war.

Antje hat sich viel Liebe erworben, dachte Maria. Nun begreife ich, daß sie so gern hier ist.

Dann saß sie an Antjes Bett, die ganze lange Nacht. Viel zu tun gab es nicht – nur stündlich die Arznei einflößen, die Eisumschläge zu erneuern; immer wieder die fortgezogene Decke hochziehen, die zuckenden Hände halten, die wirren Reden mit beschwichtigenden Worten erwidern.

Draußen heulte der Wind in den Parkbäumen, und die beunruhigten Eulen flogen schreiend am Fenster vorüber. Drinnen flackerte das Oellämpchen hinter grünem Schirm; nur Antjes seufzendes Stöhnen, die stammelnden Worte ihrer seelenlosen Stimme unterbrachen das bange Schweigen.

Es ist etwas Schweres und Heiliges um solche einsamen Nächte an Krankenbetten, an denen der Tod mit dem Leben ringt, einen lautlosen, unsichtbaren Kampf. Man fühlt den Pulsschlag der Zeit und die Schauer der Ewigkeit.

Marias Gedanken waren in dieser Nacht nur bei Antje.

Als es Tag wurde, steckte Fräulein Dorette leise und vorsichtig den Kopf durch die Tür.

»Kommen Sie nur herein,« sagte Maria. »Sie ist jetzt ruhiger.«

»Ja – das ist immer so des Morgens. Um Mittag fängt es wieder an.«

»Ich bringe Ihnen jetzt einen ordentlichen Kaffee,« meinte sie, nachdem sie allerhand geordnet und beiseite geräumt hatte. »Frisches Eis ist auch nötig. Und dann vor allem – die Fenster auf. Viel Luft, frische Luft, sagt der Doktor. Der Wind hat sich gelegt. Nun bekommen wir klares Wetter und Frost.« –

Die Magd brachte einen Eimer Eis. Dorette brachte das Frühstück.

»Der Herr Graf ist draußen und fragt, ob er herein kommen darf.«

Maria ließ ihn bitten. Einmal mußte es ja doch sein.

Rütjer Thoren trat in die Tür und brachte eine Welle starker, kühler Luft ins Zimmer. Er verbeugte sich – fast schien es, als ob er sich vorstellen wolle.

Maria stand mitten in der Stube. Sie sah nur die feine, schmale Narbe über seiner Stirn bis zum rechten Auge hinunter.

»Wer hätte das gedacht, daß wir uns so wiedersehen würden,« sagte Rütjer Thoren. Seine Augen gingen suchend über sie hin.

Es war eine gedankenlose Verlegenheitsphrase. Maria antwortete nicht. Es fiel ihr nicht das dümmste Wort ein.

»Wie geht es?« fragte Rütjer Thoren, schüttelte eine jähe Herzbeklemmung ab und richtete sich straff auf.

Maria gab ausführlichen und sachlichen Bescheid. Wie eine barmherzige Schwester, dachte Rütjer Thoren. Die haben auch so etwas Unpersönliches an sich.

»Heute nachmittag kommt der Arzt,« sagte er. »Wenn Sie inzwischen etwas brauchen, so lassen Sie es mir bitte durch Dorette sagen.«

Maria nickte. Und nun hatte er keinen Grund, noch länger zu bleiben.

Er ging zur Tür mit den leisen Schritten, deren sich jeder in einem Krankenzimmer befleißigt. Die Klinke in der Hand, mit dem Rücken gegen das Zimmer, stand er noch sekundenlang, zögernd, als hielte ihn etwas, als fiele ihm noch etwas ein.

Da stöhnte Antje schmerzlich auf; Maria eilte ins Nebenzimmer. Und er ging.

Im Laufe des Tages wurde es sehr schlimm mit Antje. Fieber und Unruhe stiegen; das Bewußtsein lichtete sich nicht.

Der Arzt äußerte sich wenig und machte ein ernstes Gesicht. Mit der Pflege war er zufrieden; neues anzuordnen gab es nicht.

Gegen Abend holte sich Rütjer Thoren von Dorette Bescheid. Sie weinte dabei. Er war stumm und nachdenklich; ihn quälte das Bewußtsein, nichts nützen, nichts helfen zu können.

In dieser Nacht wachte die alte Dorette, und Maria hatte sich im Wohnzimmer aufs Bett gelegt.

»Gehen Sie haushälterisch um mit ihren Kräften,« hatte der Arzt gesagt. »Wenn wir Glück haben, werden wir sie noch lange benötigen.«

Der folgende Tag war nicht besser. Alles dasselbe, nur die Kräfte nahmen ab. Der Puls wurde matter.

»Ich glaube nicht, daß sie den nächsten Tag noch erlebt,« sagte der Arzt, den Rütjer Thoren täglich holen ließ. »Jedenfalls ist in dieser Nacht die Krisis zu erwarten.«

Maria saß allein in dem dämmernden Zimmer. Antje hatte ein Beruhigungsmittel bekommen und lag in leichtem Betäubungsschlaf.

Es war Sonntag abend, alles totenstill.

Morgen würde es vielleicht noch stiller sein.

Maria legte die Arme vor sich auf den Tisch, legte den Kopf darauf und weinte leise in sich hinein.

Es klopfte. Sie fuhr auf. Rütjer Thoren trat ein.

»Ich habe gehört, wie es steht,« sagte er, und diesmal klang seine Stimme fest und ruhig. »Ich wollte Sie bitten, mir zu erlauben, daß ich diese Nacht mit Ihnen wache.«

»Es ist nicht nötig. Ich habe Dorette.« Sie sagte es matt und eintönig, und ihr Gesicht war schmerzlich und abweisend.

»Dorette muß schlafen. Ich habe es ihr befohlen. Sie ist alt und kann die Tagesarbeit ohne Nachtruhe nicht aushalten.«

»So kann ich allein bleiben. Ich fürchte mich nicht. Es ist nicht der erste Mensch, den ich – sterben sehe.«

»Ich werde Sie trotzdem nicht allein lassen. Sie können nicht wissen, was Sie vielleicht für Hilfe brauchen. Das Leben hängt mitunter von Kleinigkeiten ab. – Ich werde draußen auf dem Flur bleiben, damit ich Sie nicht störe, und doch jede Minute zur Hand bin.« Das letzte klang bitter.

Warum tut er das, dachte Maria. Würde er auch hier bleiben, wenn die Kranke nicht Antje wäre?

»Also von zehn Uhr ab bin ich hier,« sagte er nochmals. »Solange bleibt Dorette auf. Ich werde ihr Bescheid sagen.«

»Ja, so ist er immer, unser Graf,« sagte Dorette zu Maria. »Voller Liebe und Güte gegen Hoch und Niedrig. Vorigen Frühling hat er mal die ganze Nacht beim Kutscher gesessen, der Gehirnentzündung hatte, weil kein anderer ihn im Bett halten konnte und jeder sich fürchtete. Daß der wieder gesund geworden ist, hat er nur dem Grafen zu verdanken.«

Maria beruhigte sich.

»Am nächsten Morgen,« fuhr Fräulein Dorette fort, »hat er den Stalljungen so durchgeprügelt, daß er davongelaufen und nie wieder zum Vorschein gekommen ist. Und bloß, weil der beim Putzen das Pferd mit der Faust aufs Maul schlug. Ja, man sollt's nicht glauben. Aber so was kommt jetzt viel seltener vor. Er ist viel ruhiger geworden, seit er hier ist.«

Maria konnte sich schon denken, daß er so etwas tat.

Pünktlich um zehn Uhr hörte sie ihn leise den Gang entlang kommen. Sie ging zur Tür und öffnete.

»Bitte, kommen Sie doch herein. Ich kann Sie doch nicht da auf dem Flur sitzen lassen!«

Er sah sie freundlich an. Sie glaubte, er habe nicht verstanden.

»Ist es Ihnen aber auch recht?« fragte er. »Ich sitze wirklich sehr gern hier draußen.«

»Ich wünsche es,« sagte sie. Dann wurde sie rot vor Schreck über ihre eigenen Worte, wie durfte sie so zu ihm sprechen – sie, die Schwägerin seiner Untergebenen! Es fiel ihr ein, was sie einmal zu Antje gesagt hatte: Du bringst mich in ein schiefes Verhältnis.

»Ich habe Ihnen hier vorne einen Lehnstuhl zurechtgestellt,« sagte sie, als er eingetreten war. »Ich selbst sitze ja doch drin bei Antje.«

Sie ging hin und her, alles für die Nacht ordnend. Seine Augen gingen ihr nach. Es erregte ihn tief, er wurde traurig und schwermütig. Sie war noch so zart und lieblich wie einst. Er fühlte wieder, wie damals, ihre Hand auf seiner Stirn.

Ob sie wohl noch daran dachte?

Er war einst im Begriff gewesen, eine Rohheit an ihrer knospenhaften Mädchenhaftigkeit zu begehen. Er dankte Gott, daß es nicht so weit gekommen war. Sonst hätte er jetzt hier nicht sitzen können. –

Maria glitt leise, wie ein Schatten, ins Nebenzimmer, die Tür einen kleinen Spalt hinter sich auflassend.

Jeder war allein mit seinem Herzen.

Antje Terhalden kämpfte in dieser Nacht ihren schweren Kampf.

Rütjer Thoren hörte, wie sie sich im Bette warf, wie sie stöhnte und irre sprach. Er hörte Marias Stimme, gewaltsam beherrscht, durchzittert von der Angst der Liebe. Er hörte das Klirren der Arzneigläser, das Rascheln der Eisstücke.

Aber Maria rief ihn nicht.

Nach Mitternacht wurde es plötzlich still.

Rütjer Thoren richtete sich in seinem Stuhle auf und lauschte. Er beugte sich vor und lauschte mit angehaltenem Atem. Er stand auf und schlich zur halboffenen Tür.

Nichts rührte sich dahinter.

Rütjer Thoren hielt es nicht mehr aus. Er stieß die Tür auf und trat ein.

Maria kauerte vor dem Bett, in einer ganz unnatürlichen, nur durch die äußerste Erregung möglichen Haltung. Das trübe Nachtlicht überflackerte ihr Gesicht, aus dem die Augen in tödlicher Angst auf Antje niedersahen. Antje aber lag ganz still, mit geschlossenen Augen, mit gestreckten Zügen und bläulichen Schatten. Der Atem kam ganz kurz, ganz leise, über die vertrockneten Lippen – das einzige, matte Lebenszeichen.

Maria hörte Rütjer Thoren neben sich an das Bett treten. Ihr Körper beugte sich wie ein Schilfhalm unter dem Sturm. Dann hob sie das blasse Gesicht zu ihm auf.

»Sie stirbt,« hauchte sie.

Rütjer Thoren konnte nichts anders tun, als ganz still dabei zu stehen und abwarten, was abgewartet werden mußte.

Als es immer dasselbe blieb – kein Fortschritt zum bessern und schlechtern – holte er leise einen niedrigen Stuhl heran und hob ohne weiteres Maria aus ihrer halb hängenden, halb liegenden Stellung, darauf nieder.

Sie sah ihn dankbar an. Die Macht der Stunde schob alle Schleier stolzer Verstellung beiseite. Es lag mehr in diesem Blick, als Dankbarkeit.

Rütjer Thoren wandte sich ab. Sie durfte nicht wissen, was er gesehen.

»Kann man denn gar nichts tun?« flüsterte sie verzweifelt. »Das ist ja nicht mehr mit anzusehen.« –

Rütjer Thoren faltete die Hände.

Es kam kein Ton über seine Lippen. Aber Maria wußte, daß er das einzige tat, was getan werden konnte. Sie neigte den Kopf, und eine große Ruhe kam über sie.

Ein langer tiefer Seufzer schwebte durch das Zimmer.

Maria fuhr zusammen – jetzt war es geschehen.

Antje lag mit offnen Augen, deren Blick ängstlich suchend umherging.

»Lieber Gott – ist's noch nicht genug der Qual –« sagte Maria.

Ja, es war genug.

Der ängstliche, suchende Blick hatte einen Ruhepunkt gefunden.

»Maria!« sagte Antje, und ein verklärendes Leuchten flog über ihr Gesicht. Sie hob ein wenig die rechte Hand, wie zum Gruß.

Maria nahm die Hand und drückte sie fest.

»Ich bin so müde, Maria. Ich will schlafen!«

Antje schloß die Augen und drehte den Kopf nach der Wand. Die bewußtlose Starrheit ihres Körpers löste sich in hinfällige Mattigkeit.

Die beiden, die es mit angesehen, wagten sich nicht zu rühren.

Endlich legte Rütjer Thoren vorsichtig seine Hand auf Antjes Kopf. Er war heiß, aber er war feucht.

Der Schweiß des Sieges, mit dem das Leben aus diesem Kampf hervorgegangen war.

»Sie ist gerettet,« sagte Rütjer Thoren. –

Als Maria sich überzeugt hatte, daß Antje fest und ruhig schlief, machte sie leise ihre Hand frei und ging ins Vorderzimmer. Und hier brachen die gemarterten Nerven zusammen.

Sie fiel irgendwo auf einen Stuhl und schluchzte krampfhaft. Es war ein Krampf ihres überanstrengten Körpers. Ihre Seele hatte keinen Anteil an diesem Weinen – die jubelte und dankte, wenn auch noch unter Zittern und Zagen.

Rütjer Thoren verstand das alles. Er schenkte von dem starken Wein ein, den er für Antje geschickt hatte, und zwang sie, ihn zu trinken. Er ging mit ihr um, wie man mit einem lieben, matten Kinde umgeht. Dabei sprach er kein Wort. Und das war ihr die größte Wohltat.

Als er sah, daß sie sich beruhigte, sagte er:

»Ich glaube, ich kann jetzt gehen. – Oder soll ich noch bleiben?«

Sie schüttelte den Kopf und nahm sich gewaltsam zusammen.

»Aber ich danke Ihnen, daß Sie hier waren.«

»Ich glaube auch,« begann er nochmals, »Sie können sich jetzt getrost hinlegen – es hat augenblicklich keine Gefahr – und Sie brauchen Ruhe.«

Statt aller Antwort ging sie noch einmal zu Antje hinein.

Nach einigen stillen Minuten kam sie wieder.

»Sie schläft immer noch – und sieht ganz friedlich aus – gar nicht mehr so qualvoll wie vorhin.« –

Es lag soviel glückliches Hoffen auf Marias Gesicht, es verjüngte und verschönte sie, daß sie mädchenhaft lieblich aussah.

»Ja – mit Gottes Hilfe kann nun Ihre Arbeit eine leichte werden.«

Rütjer Thoren verabschiedete sich von ihr. Ihm hatte diese Nacht größere Not gemacht wie ihr.

Diesmal konnte er sich nicht entschließen, so fremd und förmlich von ihr zu gehen. Nachdem wir dieses miteinander geteilt haben, dachte er, kann ich ihr wohl die Hand geben.

Er tat es. Sie nahm seine Hand und drückte sie fest.

Dann setzte sie sich wieder still neben Antjes Bett. Sie konnte sich doch nicht entschließen, ihren Genesungsschlaf unbewacht zu lassen. Das Wunder war zu groß, als daß sie es hätte so schnell begreifen, glauben können.

Aber es wachte noch ein anderer, höherer über Antjes Schlummer. Seine heilige Gegenwart erfüllte den kleinen Raum mit weltabgeschiedenem Frieden. In dem Schweigen dieses Friedens kam eine tiefe, wohltuende, hingebende Mattigkeit über Marias Leib und Seele.

Auch sie schlief ein.


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