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Der Abendwind rauschte über dem australischen Buschwald, in den Kronen der Eukalypten und Akazien, die den langgestreckten Abfall des Berges bestanden. Ueber den Gebäuden der Farm wiegten die Kasuarien ihr gigantisches Geäst mit dem spärlichen Laub, und die buckligen Stämme des Flaschenbaumes standen in starrer Unbeweglichkeit, schwarz und scharf gezeichnet im weißlichen Mondlicht. Hinter der Farm dehnte sich endloses Hochland, mit raschelndem Steppengras, knisterndem Buschwerk – eine unabsehbare Fläche, von niedrigen Kuppen durchwellt, aus denen hie und da, hart und dürr, ein kahler Fels seinen scharfzackigen Schädel hervorstreckte. Tief unten rauschte der Strom, vom Winterregen getränkt, bespülte die Wurzeln der Bäume und netzte die Fächer der mannshohen Farren, die sich schwer und still über die geschwollenen Fluten neigten.
Weit und still und einsam war die Welt umher. In der unendlichen Größe der Formen, in der Stille eines menschenlosen Urzustandes, in der Einsamkeit einer fast unwirklichen Abgeschiedenheit von Kultur und Zivilisation und all ihrem brausenden, lärmenden Beiwerk, hallten die Stimmen der Natur wie Töne unbekannter Ewigkeiten an das erschauernde Menschenherz. Das Rauschen des Windes kam aus weiteren Fernen, das Brausen des Stromes aus größeren Tiefen; das klagende Heulen des Dingohundes, der oben in der Steppe den flüchtigen Emu jagte, war nicht wie der Schrei eines hungrigen Raubtiers, sondern wie die Stimme der Oede, die ihren Rachen auftut, um den Furchtsamen zu verschlingen.
Auch die Bäume redeten die Sprache der Einsamkeit. Nicht in geschlossenen Reihen, Leib an Leib gedrängt in Zusammengehörigkeit und Schutzbedürfnis, wie im heimischen Walde; einzeln, ein jeder für sich, reckten sie ihre Riesenleiber in trotziger Sehnsucht gen Himmel, unbekümmert um den andern, ungestützt durch den andern; und die Kraft wuchs ins Unermeßliche mit dem ungemessenen Raum.
Der Mond goß sein kaltes, weißglänzendes Licht durch die endlose Weite, in die lautlose Stille; und sein Glanz war reiner als anderswo, denn die unentweihte Natur strahlte ihn zurück in ungebrochenem Empfinden.
In dieser Natur lebte nicht des Menschen Werk, sondern der Mensch selbst. Und wenn er die Wucht der Einsamkeit und die Macht der Stille ertragen lernte, wurde er selbst wuchtig und mächtig. Denn es war viel Raum da für ihn selber, und in solchem Raum entwickelt sich der Charakter bis zu seiner äußersten Kraftmöglichkeit. Mit dem Jauchzen tiefinnerster Lebenslust strömt der Starke seine Kraft in die heilige Oede unbezwungner Naturgewalten hinaus.
Auf der Veranda des Wohnhauses, das aus kantigen Blöcken wetterfest gefügt zwischen den Säulenstämmen der Eukalypten und Kasuarien sich duckte wie verschämtes Menschenwerk, in überlegen schweigender Erd-Urkraft, lag Maria Terhalden. Sie hatte sich in dichte Decken eingehüllt, denn es wehte kühl. Sie lag mit geschlossenen Augen, aber sie schlief nicht. Sie ließ die Stimmen der Einsamkeit an ihrem Ohr vorüberbrausen, und ihre Seele erbebte.
Sie hatte sich noch nicht gewöhnt an das alles. Die Einsamkeit machte ihr Angst, und in der furchtbaren Stille redeten um so lauter die Stimmen der eignen Seele.
Man muß stark sein, um das zu ertragen, hatte Harald gesagt. Sie aber war schwach und zerbrochen hierhergekommen; als eine Kranke, die Genesung sucht; als eine Müde, die Kraft sucht. Würde sie erstarken und gesunden in diesem Lande der unbegrenzten Einsamkeiten, oder würde sie erdrückt werden, zusammenschrumpfen zu einem kläglichen Häuflein menschlicher Schwäche, die vor dem heiligen Antlitz der Natur sich verkriecht in ihr klägliches Nichts?
Maria fühlte, daß sie hier einer furchtbaren Kraft gegenüberstand; daß hier irgend etwas Großes sich an ihr vollziehen würde; etwas Herrliches oder etwas Schreckliches, eine Wiedergeburt oder eine Vernichtung. Sie war nicht ein Mensch, der sich an großen Dingen heimlich vorbeidrücken, sich mächtigen Einflüssen bequem entziehen kann. Sie gab sich solchen Dingen, solchen Einflüssen hin mit ihrer ganzen, vibrierenden Eindrucksfähigkeit – zum Segen oder zum Unheil.
Auf der Reise, auf dem Schiff, hatte sie so hingedämmert in müdem Sichgehenlassen. Sie hatte zuviel gedacht in all der letzten Zeit – sie konnte nicht mehr denken. Sie hatte zuviel gefühlt, war zuviel gequält worden von streitenden Gefühlen – sie konnte auch nicht mehr fühlen. Und es gab nichts, was sie – vor der Hand wenigstens – zum Denken oder Fühlen zwang. Ihr Leben war zu einem Stillstand gekommen, zu einer schweren, stillen Pause zwischen Vergangenheit und Zukunft. Sie hatte sich herausgelöst aus diesem Leben und seinen Pflichten für eine kurze Zeit, in unendlichem Ruhebedürfnis, in gänzlicher Erschöpfung. Die Spannung hörte auf – die Ermattung trat ein. Sie war wie eine Maschine, aus der man den Dampf ausgeschaltet hat.
Sie war nicht fähig, zu genießen, was sie unter andern Verhältnissen wie belebende Wonne genossen hätte – das Meer und die Sonne und die Tatenlosigkeit in ehrfürchtigem Schauen wundervoller Offenbarungen.
Sie dämmerte so hin. Sie lag stundenlang auf Deck, in ihrem lang ausgezogenen Klappstuhl, ließ sich von der Sonne bescheinen, ohne sie zu fühlen, ließ das Brausen der ewigen Wasser an ihrem Ohr vorüberklingen, ohne die Sprache der Ewigkeit zu verstehen, die mit breitem, glänzendem Mantel über den blaugrünen, perlenden Fluten schwebte.
Sie fühlte sich erbärmlich schlecht; und es wollte gar nicht besser werden; all die Tage und Wochen nicht, die in träger Sonnenruhe aus ihrem Leben glitten. Anfangs fand sie das ganz begreiflich. Sie freute sich, daß sie damit allein war, daß sie sich nicht zusammennehmen brauchte, daß sie sich gehen lassen konnte. Das ist oft die beste Kur nach andauernden Ueberanstrengungen.
Dann erschreckte es sie, daß das alles nichts nützte. War ihre Kraft so verbraucht, daß sie sich nicht mehr aufrichten konnte? Ging sie einer Auflösung entgegen, statt einer Sammlung?
Die erste Regung ihres innern Menschen war eine Angst; eine Angst des durch das Leben zu unerbittlicher Strenge in ihr erhärteten Pflichtgefühls.
Ich muß gesund werden, ich muß stark werden, ich muß leben, denn ich habe Pflichten, die keiner mir abnehmen kann. Ich kann es nicht verantworten, wenn ich mich jetzt feige aus dem Leben stehle. Ich bin nicht aus dem Allem hinausgegangen, um zu fliehen, sondern um neue Kraft zu sammeln zu neuem Leben.
Dann, in langen blendenden Tagen und langen sternenhellen Nächten kam ihr die Erkenntnis ihres Zustandes. Da nahm ihr Bewußtsein eine Hinterlassenschaft in Empfang, von deren Vorhandensein sie nichts geahnt, mit deren Möglichkeit sie nicht gerechnet hatte.
Maria Terhalden erkannte, daß sie noch einmal Mutter werden sollte.
Und wieder schloß sie die Augen ihrer Seele, als habe sie keine Kraft mehr, zu schauen und das Geschaute in sich aufzunehmen.
In ihre Träume trat Arne, mit seinem strengen Gesicht, mit seinem unerbittlichen Fordern: »nimm dies Kind auf und hüte es mir; es ist die letzte Forderung, die ich an dich stelle; die letzte Pflicht, die ich dir auferlege.«
In ihre Träume trat der kleine Alf, von himmlischem Glanz umstrahlt, und streichelte ihre Hände und schmeichelte mit ihrem Herzen: »freue dich auf das Kind und habe es lieb; denn ich habe es dir vom lieben Gott erbeten, als Ersatz für mich.«
Ja, sie hatte ja immer so gern ein Kind für sich allein haben wollen. So war es beim kleinen Alf gewesen – und den hatte sie abgeben müssen. So würde es nun wieder sein – und wer weiß, was dann kommen würde.
Maria hatte sich inbrünstig gefreut auf alle ihre Kinder. Dies Kind wälzte Steine auf ihre Seele.
Wie sollte sie das Werden dieses Kindes unterstützen mit ihrem erschöpften Körper? Wie sollte sie dieses Kindes Wachsen beschützen und segnen mit dieser ermatteten Seele?
Und wenn es ein Knabe war – dann wurde der Erbe geboren für eine Erbschaft, um die er von seinen Eltern betrogen worden war.
Dieser letzte Gedanke war der schwerste, trostloseste.
Wenn sie das alles gewußt, geahnt hätte – sie hätte den Köbinghof behalten; sie hätte gedarbt und sich gequält, um ihn zu retten; wenigstens noch ein Jahr – bis sie wußte, ob es ein Knabe war. Es hätte gehen müssen, irgendwie. Sie hätte sogar zu Rütjer Thoren um Hilfe geschrieben, um dieses Kindes willen; ja, sie hätte es fertig gebracht; denn nicht eignes Verlangen hätte dann seine Stimme erhoben, sondern heiliges Pflichtengesetz; die heiligste Pflicht von allen – die Mutterpflicht.
Lieber Gott, dachte Maria, ich verstehe dich nicht mehr. Ich lehne mich nicht auf gegen dich – ich habe gar keine Kraft dazu und es nützt ja auch nichts. Du mußt ja wissen, was du mit dem allen für Absichten hast. Freuen kann ich mich nicht, und Mut habe ich auch nicht. Aber ich ergebe mich. Es ist das einzige, dazu ich jetzt fähig bin. Ich will mich schieben lassen. Vielleicht lerne ich mit der Zeit wieder gehen auf dem Wege, den du mir geheimnisvoll vorgezeichnet hast.
In dieser Stimmung und mit diesem schweren Wissen landete sie im Hafen von Perth. Harald empfing sie. Da wurde es schon besser mit ihr. So, als wenn man einem Lahmen einen Stab in die Hand gibt. Seine Liebe stützte sie, seine Freude wärmte sie, seine Sicherheit trug sie.
Jetzt konnte sie sich all den äußern Eindrücken nicht mehr entziehen, die auf sie einstürmten. Harald machte sie auf alles aufmerksam, zeigte, erklärte, erwartete ihr Interesse, ihre Freude. Er hob sie aus sich selbst heraus mit seiner unverwüstlichen Stimmung. Er nahm gar keine Rücksicht auf ihre seelische Mattigkeit; es war, als merke er gar nichts davon. In Wahrheit merkte er es doch; so sehr, daß es ihn erschreckte und traurig machte. Aber er machte sich hart gegen sich und sie. Erst wollte er sie zu Hause haben, bei sich, bei Antje; vorher durfte das alles nicht angerührt werden. Er mußte sie künstlich aufrechthalten, sonst klappte sie womöglich noch vor dem Ziel zusammen. So hält man einen Kranken auf dem Wege in die Klinik aufrecht durch anregende Mittel. Erst an Ort und Stelle kann die Kur einsetzen, kann man den Kranken zusammenklappen lassen, um ihm in der richtigen Weise wieder aufzuhelfen.
Die Eisenbahn führte sie hinaus aus der menschenbesiedelten Küste, aus dem Leuchtkreis des schiffebevölkerten Meeres; hinauf über felsige, von tiefen Schluchten wild zerrissene Höhen; hinein in die Einsamkeit der Steppe. Dort erwartete sie Haralds Gefährt; ein leichter, zweirädriger Wagen, vorn zwei Sitze, hinten eine Pritsche für den Pferdejungen. Davor zwei kleine, stramme Steppenpferde, die lustig wiehernd, die kurzgehaltene Mähne sträubend, mit flinken Hufen weit ausholend, dahin rasten auf dem schmalen, harten, steinigen Wege. Immer am Rande der Steppe entlang, nordwärts, dem Ende aller Kultur entgegen. Links die starren, steilen Abstürze, die bewaldeten Schluchten, unten in der Ferne die Wohnungen der Menschen und manchmal wie ein aufblitzender Funke oder wie ein blendendes Prisma der Gürtel des Meeres. Zur Rechten die Steppe; Gras und Busch – Busch und Gras; unendlicher Himmel, unendliche Erde; wimmelndes Vieh in weit zerstreuten Herden; der jagende Dingo und der flüchtige Strauß; das hüpfende, pfeifende Känguruh und das flüchtig verhuschende Kaninchen. Und ab und zu der gekräuselte Rauch eines Hirtenfeuers, die niedrigen Dächer der Schutzställe. Ueber allem der Himmel wie ein leuchtender Königsmantel, über dem Verstummen heiliger Ehrfurcht, ehrfürchtiger Größe dieses freien, starken Untertanen – der Natur.
Maria mußte manchmal tief aufatmen, als lege diese Erhabenheit unirdischer Einsamkeit und Stille sich ihr schwer auf die Brust.
Harald pfiff eins seiner wilden übermütigen Steppenlieder. Maria fröstelte, obwohl die Sonne warm vom Himmel brannte.
»Wie kann man das hier aushalten – und fröhlich dabei bleiben!«
Er sah sie an mit einem Blick zärtlicher, mitleidiger Liebe.
»Fürchtest du dich? – das geht im Anfang allen so. Du wirst es lieben lernen.«
Sie schwieg. Sie glaubte ihm nicht.
Dann fuhren sie eine Zeitlang bergab, im Halbschatten der Eukalypten. Wie auf einer Theaterkulisse standen sie da, diese merkwürdigen, steifen Bäume. Hartes, spärliches Gras bedeckte den Boden. Kein saftiges Grün, keine weichen bunten Waldblumenaugen. Die Natur vermied alles Liebliche, um nicht den Eindruck gigantischer, ernster Größe abzuschwächen.
Sogar die Häuser der Farm standen da so karg, so schmucklos, so nackt hingestellt zwischen den starrenden Baumstämmen, als habe ein Kind mit unbeholfener Hand die Häuser und Bäume aus seiner Spielzeugschachtel auf die kahle Stubendiele aufgebaut. Auch hier nur Größe, Einsamkeit und Ernst.
Aber etwas liebliches war doch da. Vor der Tür des Wohnhauses stand Antje in einem weißen Kleid; neben ihr auf der hölzernen Schwelle saß ein rosiges, blondhaariges Kind. Das war wie Heimatzauber, der hier draußen in der Fremde den Flüchtling grüßte.
»Da ist sie,« sagte Harald, und hob mit seinen Hünenkräften das federleichte Gewicht der Schwester von dem hohen Wagensitz. Im Uebermut der Freude trug er sie gleich über die Schwelle, und ließ sie unter dem Dach seines Hauses vorsichtig niedergleiten. – –
Und da war sie nun seit acht Tagen. Und sie wäre wunschlos glücklich gewesen – wenn das eine nicht wäre, das sie an eine traurige Vergangenheit band und mit einer ungewissen Zukunft schreckte.
Das Kind. – –
Ueber alles hatten sie gesprochen, alles hatten sie sich vom Herzen geredet, mit der schrankenlosen Offenheit und Vertraulichkeit, die solche Menschen aneinander bindet, die allein sind in der weiten Oede leeren Raumes. Ueber das Kind konnte Maria sich nicht entschließen zu sprechen.
Manchmal dachte sie, Antje wüßte es. Dann, wieder kam es ihr vor, als wisse sie gar nichts. Man kommt nicht leicht auf Dinge, die allen Erwartungen fern liegen.
Maria war noch nicht zu bewegen, das Haus zu weiteren Ausflügen zu verlassen. Sie sei zu müde, sagte sie. In Wahrheit fürchtete sie sich; fürchtete sie die erdrückende Größe der Natur, der ihre Seele kein Gegengewicht zu setzen hatte. Sie wollte sich erst stärken und erquicken an dem, was es im Hause zu sehen und zu erleben gab.
Da war Haralds und Antjes Liebesglück; so frisch wie der erste Tag, so heiß über ihrem Dasein, wie die Sonne über der schweigenden Steppe; so kräftig und unerschöpflich, wie der Quell aus dem Berge; so tief, um darin unterzutauchen in aller Not und Gefahr, mit allen heimlichsten und innigsten Dingen der Liebe – so tief wie das weiteste, tiefste Meer.
Ich habe nicht geglaubt, dachte Maria, daß auf dieser Erde zwei Menschen so vollkommen glücklich miteinander sein können. Das macht eben, weil sie vollkommne Menschen, volle Menschen, kräftige und reine Menschen sind; und weil sie ganz allein miteinander sind.
Da waren die Kinder; der Junge, der eben laufen konnte; das Mädel, das vor einem Vierteljahr dazu gekommen war; beide schön durch Kraft und Gesundheit, durch reine Haut und runde, pralle Glieder.
»Wie hast du das nur überstanden, so allein, in dieser Einsamkeit –« sagte Maria. Antje lachte übermütig.
»Ach – – wenn man so gesund ist wie ich! Bis zum letzten Tage munter auf den Beinen – dann frisch und fröhlich hinein in die kurze Not – sie ist kurz, wirklich, wenn sie auch noch so lang ist. Wir haben eine Hirtenfrau, die versteht ein wenig davon. Die hat mir geholfen und mich acht Tage lang mit dem Nötigsten versehen. Dann brauchte ich eigentlich schon niemanden mehr.«
»Wenn es aber nun nicht so gut gegangen wäre –«
»Ja. das wäre schlimm gewesen. Bis man hierher einen Arzt holen kann, vergehen zwei Tage. Pflegerinnen sind erst recht nicht zu haben.«
»Ihr seid doch schrecklich leichtsinnig,« sagte Maria, und konnte sich nicht genug wundern über Antje.
»Wenn man in solche Einsamkeit geht,« sagte Antje, »muß man Mut und Gottvertrauen haben. Sonst soll man es lieber lassen.« Und leise, fast andächtig setzte sie hinzu: »Wenn man sich so liebt, wie wir uns lieben, dann hat man beides. Es ist gar nicht anders möglich. Angesichts und im Besitz solchen Glückes wäre Mangel an beidem einfach Undankbarkeit.«
Die Atmosphäre dieses Glücks, in der Maria nun lebte, wirkte allmählich beruhigend auf sie. Die tiefe, arbeitsame Lebensfreude, in der diese beiden Menschen standen, tat ihr gut. Wenn sie aus ihrer Lethargie jeweilig erwachte, so war es nicht, um Schmerz zu empfinden – sondern um sich in unendlichem, traumhaftem Wohlgefühl dem heilenden Einfluß dieser erdentrückten, glücklichen Umgebung hinzugeben.
Es war etwas Schwaches, Hilfsbedürftiges über sie gekommen. Sie war wie ein Kind, das nach schwerer Krankheit wieder gehen lernen muß. Sie klammerte sich an die Nähe der Menschen; aber sie fürchtete die Einsamkeit; die Einsamkeit der Natur und die Einsamkeit der stillen Stunden, in denen Harald und Antje durch ihre Arbeit in Anspruch genommen waren. Sie war noch nicht aus dem nächsten Umkreis der Farm herausgekommen. Sie sei zu müde, sagte sie. Aber Harald und Antje wußten es besser und ließen sie gewähren. Sie ließen ihr Zeit, und sie ließen ihr Ruhe. Aber sie ließen sie auch allein.
»Wir können ihr das nicht ersparen, dies Alleinsein mit sich selber,« sagte Harald. »Es ist heilsam und gut für sie. Es gibt Dinge, die müssen allein durchgekämpft werden, dabei kann niemand helfen. Wir wollen ihr alle mögliche Liebe erweisen, aber wir wollen sie in Frieden lassen.«
Heut war Maria den ganzen Nachmittag allein gewesen. Harald und Antje waren fortgeritten, hinaus in die Steppe, um die Herden und die Hirten zu besuchen, und neue Weidegelegenheiten auszukundschaften. Harald liebte diese wilden Ritte durch das unabsehbare Hochland. Antje mußte ihn begleiten, so oft sie konnte. Wunderbar schnell hatte sie reiten gelernt, und fand eine hochgemute Wonne darin, mit diesem liebsten Menschen dahinzufliegen durch Sonne und Wind, durch Höhe und Einsamkeit. Sie saß auf ihrem kleinen, munteren Pferde, in dem kurzen knappen Kleid von derbem, grauem Leinen, die kleine Mütze fest an den Kopf gedrückt, mit ihrer gebräunten Haut, ihren von Glück und Gesundheit leuchtenden Augen – und neben ihr Harald, förmlich verklärt von dem Stolz über den Besitz dieser Frau, die einzig für ihn geschaffen schien, und die er mit sichrer Hand herausgehoben hatte aus ihrem Leben, in das seine hinein, als sei dieser Platz von Uranfang an für sie bestimmt und vorbehalten worden.
Immerfort sah Maria sie so vor Augen und sehnte sich nach ihnen. Sie sehnte sich danach, hineinzuwachsen in die Stimmung, die diese beiden durch ihr selbstständiges Leben trug.
Die langen harten Eukalyptusblätter raschelten im Windhauch gegeneinander; helle Mondlichtkringel huschten und zitterten über den Erdboden, über die Dächer der Häuser, über Marias regungslose Gestalt. – Und dann hörte sie das muntere Trapp-trapp der kleinen derben Steppenpferde. Von weither klang es und näherte sich langsam durch die stille Ferne. Maria freute sich. Mit geschlossenen Augen lauschte sie ihrem Herankommen.
Jetzt waren sie hinter den Häusern – nun im Hof. Jetzt stiegen sie ab. Maria hörte ihre fröhlichen Stimmen, hörte, wie die Pferde auf die harte Stallgasse traten, wie die Ketten festgemacht wurden. Sie hörte Schritte über den Hof kommen, hörte Antje lachen, so süß und leise.
Dann stand Antje auf der Veranda. Aber Maria öffnete erst die Augen, als Antje sich über sie neigte, als ein feiner, unbeschreiblicher Duft von Pferden und Steppengras und Menschenwärme sie umschwebte.
Antje war windumweht und heiß. Ihr Atem ging schnell. Ihr Gesicht strahlte von verschwiegenem und doch so beredtem Glück.
»Schläfst du, Maria?« fragte sie und strich mit der warmen Hand über Marias kühle Stirn, über ihr massiges, lockres, rotgoldnes Haar.
»Nein, ich habe auf euer Kommen gelauscht.« Maria breitete die Arme aus und zog Antje zu sich hernieder. Die große Frau mußte sich auf die Knie niederlassen, um der Umarmung nachzugeben.
»Es tut so gut, bei dir zu sein,« flüsterte Maria.
Antje drückte ihre warmen Lippen auf Marias Gesicht.
»Weißt du noch, wie du bei mir warst,« sagte sie, »als ich krank war – damals in der Thorenburg –« Maria nickte stumm und heftig.
»Nun kann ich dir ein wenig vergelten, was du damals an mir getan hast,« sprach Antje leise weiter.
Maria dachte: sie hat ja keine Ahnung, aber ich will ihr alles sagen – alles, auch das letzte und traurigste.
»Morgen möchte ich mit dir wandern, Antje. Irgendwohin, wo es am einsamsten ist. In die Steppe.«
Antje bejahte erfreut. – Harald kam dazu und lächelte befriedigt über die Zärtlichkeit der beiden. Ja, dachte er, Antje und Maria, das sind so die besten der guten. – Er hörte die Verabredung der beiden.
»Darf ich mit dabei sein? Ich muß doch den Führer machen in meinem Reiche.«
Maria hatte sich aufgerichtet. Ihr Gesicht schimmerte hell durch das weiße Zwielicht, in ihrem goldnen Haar irrte der zitternde Mondflimmer. Ihre grauen Augen waren fast schwarz.
Auf diesem Gange sagte sie es ihnen. Das von dem Kinde. Was sie aber von Rütjer Thoren hatte sagen wollen, fand dann doch nicht mehr den Weg über ihre Lippen.
Die Sonne stach, und der Steppenwind wehte. Er fegte schwarze Wolken zusammen und ballte sie zu drohendem Unwetter über dem kahlen Gefilde. In einer Hirtenhütte fanden sie Schutz vor dem stürzenden Regen. Der Donner krachte. Seine Stimme brüllte über der einsamen Leere. Die Blitze zuckten durch die graue Finsternis. Die Natur stand starr und stumm unter dem Sturm, der aus der Unendlichkeit hereinbrach und ungehindert darüber hinfegte, bis zum Absturz ins Tal, wo er die ächzenden Baumriesen niederbog. Ein paar der wuchtigsten Kronen knickte er ab. Splitternd reckten sich die gewaltigen Stümpfe gegen den tobenden Himmel.
Schweigend saßen die drei in der dunstigen Hütte. Harald und Antje kannten solch Wetter. Sie hatten es oft erlebt – sie liebten es. Nicht nur weil es die durstige Steppe tränkte und das hungrige Vieh nährte. Sondern weil es in diese Natur gehörte wie der Zornesausbruch zu einem leidenschaftlichen Menschen. Es reinigte, es erlöste, es war etwas Hohes und Erhabenes – die Stimme eines gewaltigen Predigers in einer gewaltigen Wüste. Und wenn der Blitz sie zerschmettert und der Sturm sie hinweggefegt hätte – es wäre eine großartige Himmelfahrt gewesen, aus der Seligkeit der Zeit in die Seligkeit der Ewigkeit.
Maria stand an dem engen Fensterloch der windgeschützten Seite und sah hinaus. Ihre Brust sog die kräftige, reine, kühle Luft ein, die durch alle Ritzen in das dumpfe Innere quoll. – Auch in das dumpfe Innere ihrer Seele quoll so eine reine kühle Luft. Die beiden andern waren still geworden bei dem, was sie erzählt hatte. Nicht ein einziges Wort hatten sie gesagt. Dann war das Unwetter gekommen und hatte alles Reden unmöglich gemacht. Sie waren gelaufen, um den Schutz der Hütte zu erreichen. Nun blieben sie stumm. Was bedeutet die Stimme kleiner Menschenschicksale, wenn erhabene Naturgewalten sprechen!
Naturgewalten! – – die gibt es nicht nur in der Schöpfung, die wir so schlechthin »Natur« benennen. Die gibt es auch im Menschenherzen, das aller Schöpfung Spiegel und Vollendung ist.
Was das Schicksal niedergetreten, was das Leben betäubt und geknebelt hatte in Marias Herzen, das wurde jetzt, hier oben in der ärmlichen, weltentlegenen Hirtenhütte geweckt durch den knatternden Donner und den heulenden Sturm. Ueberlaut und rücksichtslos schrie plötzlich in diesem Herzen die Sehnsucht und die Liebe auf. – Rütjer Thoren – – –!
Harald kam, legte den Arm um die Schwester und sah ihr ins Gesicht.
Fürchtest du dich? hatte er fragen wollen. Und fragte es nicht. Ihre Augen leuchteten so sonderbar – so, wie er sie nur einmal hatte leuchten sehen – damals, als sie noch das scheue, wilde Kind, seine kleine Mia gewesen war – damals, als er die Nachricht mit nach Hause brachte, daß Rütjer Thoren von seiner Wunde, seinem Fieber genesen werde. Damals, als er hinter ein Geheimnis kam, das seitdem das seine geblieben war.
Fürchtest du dich? hatte er fragen wollen.
»Woran denkst du?« fragte er. Sie sah ihn an. Sie hätte gern ehrlich geantwortet. Sie konnte es nicht. Er küßte ihr blasses Gesicht.
»Arme kleine Mia,« sagte er. »Sei noch eine kleine Weile tapfer. Und dann geh und hole dir deinen Lohn.«
»Ich denke nicht an irgend welchen Lohn. Du mußt nicht so reden. Denn du bist der einzige Mensch, der alles von mir weiß –«
»Eben darum rede ich so.« Seine Finger verwühlten sich in ihrem dicken, lockren Haar. Er hätte so gern ihr Schicksal in seine tätigen Hände genommen.
Aber sie schüttelte langsam den Kopf und sah wieder hinaus in das abziehende Wetter.
Antje saß hinter ihnen auf der rohen Hirtenbank und sah ihnen zu. Sie hörte nicht, was sie sprachen; und wenn sie es gehört hätte, so hätte sie es nicht verstanden. Denn dies Eine hatte Harald sogar vor ihr verschwiegen.
Sie gingen nach Hause über das nasse, niedergepeitschte Gras. Es war kalt und still in der klargefegten Luft. Und es war ein Duft in dieser Luft und eine Stärke und eine Ruhe. –
Die Erde war wüst und leer, und der Geist Gottes schwebte über der Steppe.
Von diesem Tage an ging es aufwärts mit Maria. Die alte, tapfre Kraft regte sich in ihr. Sie sah mit mutigen Augen hinein in ihre Zukunft.
Sie machte weite, einsame Gänge. Sie fürchtete die Einsamkeit nicht mehr – – sie suchte sie. Sie suchte in dieser Einsamkeit sich selber.
Und wenn sie unter den Kronen der Riesenbäume dahinschlenderte, oder durch kurzes Gestrüpp und mannshohe Farren sich mühsam den Weg bahnte, oder auf kahler Steppe lang ausschritt in blauende Unendlichkeit hinein, sahen ihre Augen mit ehrfürchtigem Entzücken in die furchtbare Einsamkeit, und die Augen ihrer Seele sahen mutig auf ihr Leben, aus der Höhe herunter, auf die der Sturm dieses Lebens sie hinaufgetragen hatte.
Ich habe mich nicht zu beklagen, dachte Maria in solchen Stunden himmlischen Alleinseins und tapfrer Aufrichtigkeit. Ich habe Arne genommen ohne Liebe, und die Leiden, die das mir brachte, waren meine Schuld. Ich habe eine große Schuld gegen ihn auf mich genommen. Denn hätte ich ihn geliebt, so hätte ich auch den Weg zu ihm gefunden. Liebe findet immer den Weg. Ich weiß nicht, ob und wie weit er durch diese meine Schuld gelitten hat. Schuld bleibt es doch.
Ich habe mich nicht zu beklagen, aber ich habe auch keinen Grund, zu verzweifeln. Denn ich habe bereut, und ich habe gebüßt. Ich habe mich unter das Urteil meines Gewissens gebeugt, und habe die Buße und alle Forderungen, die sie an mich stellte, erfüllt. Ich habe mich selbst geopfert, samt allen meinen Wünschen und Begierden. Ich habe den kleinen Alf geopfert.
Ich habe die Rechnung beglichen. Ich will ein neues Konto anfangen.
Aber die leeren Seiten dieses neuen Kontos waren bereits überschrieben von allmächtiger Hand. Zwei Faktoren gab es da, gleichsam als Schlußsummen ihres ganzen bisherigen Lebens.
Die eine war die stumme, felsenfeste Leidenschaft für Rütjer Thoren; die heiße Sehnsucht, die wie ein unterirdisches Feuer das Leben ihrer Seele befruchtete.
Die andre war das Schuldgefühl gegen Arne.
Was ihm zukäm und worauf er ein Recht hatte, und was sie ihm nicht gegeben hatte, den ganzen Schatz an Liebe und Zärtlichkeit, – der blieb da stehen auf diesem Konto, und es wäre ein Verrat, eine falsche Rechnung, wenn sie diesen Posten jemals einem andern abtreten würde. –
Während Maria auf einer ihrer einsamen Wanderungen begriffen war, traf auf der Farm ein Brief von Maren ein, der in erregten Worten, in der ersten Bestürzung über unerklärliche Vorgänge meldete, daß Rütjer Thoren der rechtmäßige Besitzer des Köbinghofes sei.
Antje stürzte ins Nebenzimmer, den Brief hoch in der Luft schwenkend.
»Harald!« jubelte sie. »Harald, höre doch, denke doch: Rütjer Thoren hat den Köbinghof! unsern Hof!«
Und während Harald ihr das Blatt aus der Hand nahm, um sich Aufklärung daraus zu verschaffen über das, was er vor der Hand nicht verstehen konnte, tanzte und sprang sie in der Stube herum wie ein ausgelassenes Kind, das sich vor Freude nicht zu fassen weiß; und während ihr die hellen Tränen aus den Augen liefen, wiederholte sie jubelnd immerfort:
»Rütjer Thoren hat den Hof! Rütjer Thoren hat den Köbinghof!«
Harald kam endlich auf sie zu und hielt sie mit beiden Armen fest.
»Aber Antje! bist du denn verdreht! Antje!«
»Ich freu mich so – ach, ich freu mich ja so!« und dabei legte sie den Kopf auf seine Schulter, und nun weinte sie ganz richtig.
»Warum freust du dich denn so ganz unsinnig?« fragte der Mann mit einem Gemisch von Rührung und Staunen, und sah zärtlich auf sie nieder.
»Ach – siehst du – es ist mir ja so gräßlich schwer geworden, daß die liebe Heimat an so einen Wildfremden übergehen sollte, von dem man nicht weiß, wie er ist und wie er sie behandeln wird. Ich hab es nur nicht so aufkommen lassen in mir, wegen Maria, weil man sie doch deswegen nicht verurteilen konnte, weil ich nicht bittre Gedanken gegen sie nähren wollte. Und nun kommt es so – es ist mir ja ganz gleichgültig, warum und vor wem er diese Komödie aufgeführt hat – nun hat er den Hof – in keines andern Menschen Hände hätte ich die alte liebe Heimat so gern gelegt! Du kennst ihn doch, Harald, du weißt doch, wie er ist, wie er zu mir gewesen ist – du mußt das doch begreifen!«
»Ja,« sagte Harald sehr ernst. »Aber ich kann mich nicht so freuen, weil diese Tatsache mir zu viel traurige Gedanken wiedererweckt. Denke dir, wenn Marias Kind ein Knabe wird! dann ist der Erbe da, und das Erbe ist weg.«
Antje sah ihren lieben großen Jungen verdutzt an.
»Aber Harald – weg war der Hof doch so wie so!«
»Du hast recht – ich bin unlogisch.« Er strich mit der Hand über die Stirn, als striche er schwere Gedanken weg. »Im übrigen ist es mir auch so am liebsten.«
»Was wird Maria sagen!« rief Antje plötzlich.
Ja – was wird Maria sagen, dachte Harald, und sein Herz wurde schwer und unruhig. Vielleicht, dachte er weiter, freut sie sich auch; sie muß doch begreifen, warum er das getan hat; und sie muß doch einsehen, wieviel Gutes und Glückliches daraus für sie kommen kann. Aber er war ihrer nicht sicher. Sie kam ihm vor, wie ein Mensch, der die Vergangenheit nicht abstreifen kann.
Antje war noch ganz im ersten Rausch ihrer Freude, als Maria hereinkam. Sie jubelte es ihr gleich entgegen.
Harald blieb wortlos und regungslos am Fenster stehen. Er wartete ab, wie diese Mitteilung wirken würde. Er bekam Herzklopfen. – –
Maria war frisch und mit kräftigen Bewegungen hereingetreten. Auf ihrem blassen, wehmütigen Gesicht lag ein schüchterner Glanz, der rührend wirkte. Sie wollte so gern wieder froh und freudig werden.
Nun kam diese Nachricht.
Maria sanken die Hände am Leibe herab. Ihre Augen wurden starr und weit; ihr Gesicht verzerrte sich.
»Das ist nicht wahr!« schrie sie heraus in jammervollem Schreck.
»Doch – es ist wahr –« sagte Antje, ein wenig stockend.
»Nein – nein – sag, daß es nicht wahr ist!« Maria griff nach dem Brief, den Antje ihr unwillkürlich hinhielt. Während sie ihn las, war es totenstill im Zimmer. Harald hörte sein eignes Herz klopfen, vor Angst um die Schwester.
Das Briefblatt sank raschelnd zu Boden. Maria taumelte zu irgendeinem Stuhl, da fiel sie nieder; sie gab keinen Ton von sich; sie legte die Arme auf den Tisch und den Kopf auf die Hände. Dann schüttelte es ihren ganzen Körper; ein qualvolles Weinen, ein ächzendes Schluchzen füllte den Raum, griff an die Seelen derer, die es hörten.
Antje stand wie vom Donner gerührt. Ihre Augen umfaßten mit einem Blick verständnisloser Angst die zusammengebrochene Gestalt der Schwägerin und wanderten hilflos zu Harald hinüber. Der atmete tief und schwer und sein Gesicht war furchtbar ernst.
»Laß mich einen Augenblick allein mit ihr,« sagte er leise zu Antje und schob sie mit einem Kuß zur Tür hinaus. Dann trat er zu Maria. Sie schluchzte noch immer; es war gar nicht anzuhören.
»Maria!« sagte er und legte seine große warme Hand auf ihren Kopf. Sie schluchzte nur lauter. Da kniete er neben ihr nieder und legte seinen Arm um ihren Leib.
Es ist doch eine heillose Geschichte, dachte er; die eine ist unsinnig vor Freude, und die andre ist unsinnig vor Schmerz, und beides über dieselbe Tatsache.
»Warum weinst du denn eigentlich, Maria?« Sie antwortete nicht.
Eine Weile zögerte er noch, überlegte. Ach was – wozu das vorsichtige Ueberlegen. Wir kennen uns ja. Nun einfach drauf los. –
»Dabei ist doch nichts zu weinen, Maria. Er hat es doch nur getan, weil er dich liebt. Weil er hofft, über kurz oder lang dich zu besitzen. Und dann hast du den Köbinghof wieder. Und wenn dein Kind ein Knabe wird, dann wird er dir für diesen Knaben den Köbinghof schenken!«
Da fuhr Maria auf – so jäh, daß er erschrocken zurückwich. Ihre Augen blitzten vor Qual und vor Zorn.
»Sei still, du! Wenn du noch ein einziges Mal davon sprichst, dann muß ich abreisen.«
»Aber – Maria –«
Sie schob ihn fort. Sie stand auf und ging zur Tür. Sie tastete sich an allen Möbeln entlang, als sei sie ihrer Füße nicht sicher. Dann glitt sie hinaus und machte schwerfällig hinter sich zu.
Harald war sich noch nie im Leben so dumm vorgekommen. Da werde ein andrer draus klug, dachte er. Sie liebt ihn doch. Wenn ich es nicht schon immer gewußt hätte, so wüßte ich es jetzt.
Dann rief er nach Antje. Die kam herein, ganz verstört.
»Was ist denn eigentlich los?« fragte sie ganz verwirrt.
»Das ist los,« polterte Harald in höchster Erregung heraus, »daß sie diesen Rütjer Thoren liebt – leidenschaftlich liebt – seit Jahren liebt.«
Er hielt inne, als bereue er schon, was er gesagt hatte.
»Also doch –« sagte Antje.
Er fuhr herum.
»Was weißt du davon?«
»Nichts weiß ich. Nur manches kam mir so merkwürdig vor; als ich zu Rütjer Thoren ging – als sie dort bei mir war während meiner Krankheit. Aber das waren nur so Gedanken. Man schämt sich ihrer – man vergißt sie wieder, wenn sie so ohne Nahrung bleiben. – Aber du,« fuhr sie nach einer Pause fort, »seit wann weißt du es denn?«
»Von Anfang an.«
»Und hast es mir nie gesagt?«
»Es war nicht mein Geheimnis. Ich hielt Maria zu hoch, um sie preiszugeben – selbst vor dir.«
»Aber nun kannst du es mir doch erzählen?!«
Er war gerade in der Stimmung dafür. Er sagte ihr alles.
Erst tat sie lebhafte Zwischenfragen; dann wurde sie immer stiller; ganz still. Jetzt erst verstand sie, was ihr bisher immer verborgen geblieben war – die Grundlage von Marias Sein und Wesen.
Als Harald schwieg, hob sie das vergrübelte Gesicht aus der Hand, in die sie es gelegt hatte, wie um besser verstehen, besser begreifen zu können.
»Ja – aber – ich fasse das nicht – wenn sie ihn liebt, dann ist ja alles gut!«
»Nein, es ist nicht gut,« erregte sich Harald von neuem. »Denn mir scheint, sie hält es für ihre Pflicht, Arne auch nach seinem Tode die eheliche Treue zu halten – als müsse sie ihm dadurch eine Entschädigung zahlen für das, was sie ihm im Leben schuldig geblieben ist.«
Antje verfiel von neuem in tiefes Grübeln. Es strengte sie an, weil sie solch Grübeln über sittliche Probleme nicht gewöhnt war. In ihrem Leben war alles so klar und einfach zugegangen; der Kampf der Pflichten und der Leidenschaften war ihr erspart geblieben;
Harald raste im engen Raum auf und ab.
»Man möchte die Menschen manchmal vorwärts stoßen auf dem Wege, der einem für sie der einfachste und beste scheint,« sagte er grimmig. »Aber man vergißt oder unterschätzt dabei meist das wichtigste, nicht aus dem Wege zu schaffende Hindernis – sie selber.« –
Antje ging hinauf zu Maria. Sie kam ja gar nicht wieder zum Vorschein. Man konnte sie nicht so allein lassen mit ihrer Not. – –
Sie ging zögernd, mit widerstrebenden Schritten. Sie fühlte sich so ohnmächtig diesen Dingen gegenüber. –
Maria lag auf ihrem Bett und sah der Eintretenden mit einem ängstlichen Blick entgegen.
Schone mich, bat dieser Blick. Antje verstand ihn.
»Ist dir schlecht, Maria?« fragte sie, setzte sich auf den Bettrand und streichelte die blassen feinen Hände, die da so müde auf der Decke lagen. »Kann ich irgend etwas tun für dich?«
Maria schüttelte unmerklich den Kopf.
»Du mußt dich nicht so darüber aufregen,« fuhr Antje fort. »Es ist ja nichts neues. Weg war der Köbinghof so wie so. Und es ist doch am allerbesten, daß Rütjer Thoren ihn hat. Du kannst dir wohl denken, daß ich das finde – du weißt ja, wie ich ihn verehre. Ich hätte ihn beinahe lieben können – es ist mir nur glücklicherweise zu spät eingefallen. Und du wirst es mit der Zeit ja auch finden. Er wird ihn gut bewirtschaften, wird ihn pietätvoll behandeln, er wird ihn wieder zu Ehren und Ansehen bringen. Es wird alles gut, was er in die Hand nimmt. Auch diese Sache. Verlaß dich drauf.«
»Ja – ja –« sagte Maria. »Es war ja auch dumm von mir. Ich kann eben noch nichts ertragen auf dem Punkt.«
Da wußte Antje, daß Maria nicht mit ihr zu sprechen wünschte über das alles. – –
Es war peinvoll, dies Zusammenleben zu dreien, unter Vermeidung jeder Erörterung dessen, was einen jeden von ihnen jetzt am meisten beschäftigte. Ueber Maria war wieder eine Starrheit gekommen, wie nach dem Tode des kleinen Alf. Nur daß sie sich diesmal bemühte, ihren Seelenzustand zu verbergen. Und dies offensichtliche, rührende, qualvolle Bemühen machte die Sache noch unerträglicher. – Maria wußte, daß Harald und Antje über sie sprachen, oft und lange und erschöpfend; sie wußte, daß Antje alles erfahren hatte; sie fühlte ihr das ab; Antje war ja viel zu ehrlich; was sie nicht sagte, verriet sich in ihrem ganzen Wesen. – Sie fühlte, daß Antje Mitleid mit ihr hatte; daß Harald vorwurfsvoll und ärgerlich gestimmt war. Es bedrückte sie; es störte die ganze schöne Harmonie ihres Zusammenlebens, das so beglückend begonnen hatte.
»Harry,« sagte sie einmal, als sie allein mit ihm war, »sei doch nicht böse auf mich. Verurteile mich doch nicht. Du hast ja nicht durchgemacht, was ich durchgemacht habe!« Er zuckte die Achseln.
»Du hast mir ja verboten, darüber zu sprechen,« sagte er eigensinnig.
»Jetzt fange ich aber doch selbst davon an!«
»Ich glaube, es hat trotzdem keinen Zweck, davon zu sprechen.«
Sie seufzte, halb verzweifelt, halb ungeduldig.
»Ich fühle mich so sehr in Arnes Schuld,« sagte sie. Er fuhr heftig auf.
»Du hast diese Schuld reichlich abgetragen. Du hast dich ja geradezu hingeopfert für ihn.« Sie schüttelte schwer und langsam den Kopf.
»Ich habe nicht das Recht, die Liebe, die ihm gebührt hätte, einem andern zu geben.« Harald wurde immer heftiger.
»Das ist doch aber zu toll, und eine verlogene Narrheit. So reiß dir doch diese Liebe aus dem Herzen, wenn du so denkst. Sonst gib doch ehrlich dem andern, was ihm ohnehin gehört.«
»Das ist dann doch noch ganz anders – dies letzte,« sagte sie unbewegt.
Harald zwang sich zur Ruhe. So richtete er ja nichts aus.
»Faß es doch einmal andersrum auf. Jedes Ding hat zwei Seiten. Es wäre doch anderseits auch deine Pflicht, deines Mannes Erbe seinem Sohne – es könnte doch ein Junge sein – zu erhalten?«
In Marias ernstes, klares Gesicht stieg langsam ein tiefes Rot.
»Das sind alles unbestimmte Hoffnungen, jeder Begründung entbehrende Aussichten. Und selbst wenn alles sich so gestaltet wie du anzunehmen scheinst – wenn ich daraufhin meine Gefühle dressierte und mein Wollen richtete – ich würde nur mich selbst belügen. Wenn ich das alles wollte und erstrebte – ich täte es nur meinetwegen, nicht Arnes und seiner Kinder wegen. Ich habe zu lange unter Lügen und unwahren Zuständen gelitten. Ich muß endlich wahr sein – gegen mich und andre.«
»Dann tu, was du nicht lassen kannst – aber frage mich nicht mehr.«
Nach diesen Worten wagte er nicht, sie anzusehen. Als er es dann doch tat, weil sie so unheimlich still blieb, schnitt ihm ihr Anblick ins Herz. Er konnte sie doch nicht dafür strafen, daß er anders dachte wie sie. –
Er kam plötzlich auf sie zu, nahm sie in seine Arme und küßte sie mit seiner ganzen Wärme und Innigkeit.
»Ich kann dir ja nicht böse sein. Ich liebe dich ja viel zu sehr. Jeder muß tun, was er vor sich selbst verantworten kann. Darin liegt die höchste Wahrheit und der höchste Mut.«