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In den weichen Kissen des Sarges lag ein leichenfahles Antlitz. Die Augen blinzelten geblendet in das trübe Laternenlicht, das sich mit dem weißen Mondschein rötlich mischte. Die Lippen öffneten sich, die Brust hob sich zu einem langen, langen Atemholen. Dann öffnete Karl Friedrich die eingefallenen Augen jäh, wie in plötzlichem Erinnern, hob mit äußerster Anstrengung den Kopf so weit, daß er über den Rand des Sarges hinaussehen konnte, und sah umher; sein Blick glitt über die Gestalt seines Weibes wie abwesend, und irrte sehnsüchtig suchend umher. Dann sank der Kopf zurück und die Augen schlossen sich; über das Gesicht glitt es wie Erschöpfung und Enttäuschung.
Griseldis hatte alles gesehen und alles verstanden. Mit steinerner Ruhe wies sie die Männer an, den Fürsten herauszuheben und auf das Tragbett zu legen. Sie selbst deckte alles, was an Kissen und Decken vorhanden war, über ihn. Während dieser Verrichtungen lag er wie ein Toter, mit schlaffen Gliedern und ohne die Augen zu öffnen.
»Geht voraus!« befahl sie den Männern. Sie gehorchten. Griseldis wandte sich in die Gruft zurück, dahin, wo Anna auf dem feuchten Steinfliesboden lag. Sie bückte sich, rüttelte die Besinnungslose und richtete ihren Oberkörper auf. Anna seufzte, versuchte die Augen zu öffnen und schloß sie wieder. Ein müdes Lächeln zog über ihr Gesicht wie ein Traum. Griseldis sah es mit schneidendem Grimm.
»Anna,« rief sie hart, »komm zu dir und raffe dich auf. Ich habe nicht Zeit, hier länger bei dir zu sitzen.«
Das brachte Anna zur Besinnung. Sie schlug die Augen auf und besann sich; mit eisernem Willen überwand sie die Schwäche und richtete sich empor. Kaum stand sie auf den Füßen, als Griseldis ihr die stützende Hand mit gehässiger Hast entzog.
»Du gehst wohl nun nach Hause?« fragte sie; es klang wie ein Befehl. Anna sah sie mit leeren Augen an; erst allmählich kam ihr das Verständnis. »Ja,« sagte sie.
»Nun, dann schnell,« Griseldis schob sie vor sich her zur Tür hinaus, schloß ab, steckte den Schlüssel ein und begann hastig den Weg nach dem Schlosse hinanzueilen.
Anna Steinhofer starrte ihr nach, bis die schwarze Gestalt in dem unsicheren Licht von Schnee und Mondglanz verschwamm. Dann brach sie in ihren zitternden Knien zusammen und stöhnte laut und jammervoll.
»Ach, wenn sie mich doch eingesargt hätten an seiner Stelle – ich hätte es fröhlich geschehen lassen – es wäre besser gewesen, als so ins Leben zurückgestoßen zu werden!«
Sie jammerte still vor sich hin in dem großen mitleidigen Schweigen der Winternacht, bis sie nicht mehr konnte und nicht mehr wußte, warum.
Es war ja alles ganz in der Ordnung so. Sie hatte durch einen Zufall den gräßlichen Irrtum entdeckt und Karl Friedrich gerettet, wie sie jeden anderen in gleicher Lage gerettet haben würde. Sie hatte ihn für Griseldis gerettet, und Griseldis hatte ihn als ihr rechtmäßiges Eigentum in Besitz genommen. Was wollte sie noch? Sie konnte nun gehen. – Und als sie sich das klar gemacht hatte, nahm sie zusammen, was ihr noch an Kräften geblieben war, und ging nach Hause. Ungesehen, wie sie vor einigen Stunden zur Stadt hinausgekommen war, kam sie wieder herein. Auf dem heimatlichen Hof krähten die Hähne.
Am Morgen wußte das ganze Haus und um Mittag die ganze Stadt von den Ereignissen dieser Nacht auf dem Runkelstein, und was Anna Steinhofer für einen Anteil daran hatte. Des Kaufherrn Magd hatte es auf dem Markt erzählt, und der Bote der Fürstin, der den Arzt zu rufen kam, hatte ihre Erzählung ergänzt und bestätigt. In des Kaufherrn Hause ging es den ganzen Tag wie in einem Taubenschlage, und wenn zehn lästige Frager abgewiesen wurden, so ließ sich der elfte doch nicht abhalten. Auf der Straße war stundenlang ein förmlicher Menschenauflauf. Nur wenige Nahestehende fanden Einlaß. Wenn sie zurückkamen, waren sie ernst und einsilbig und ließen die drängenden Fragen zum Teil unbeantwortet. – Anna Steinhofer bekam niemand zu sehen. – Gerade für sie aber interessierte sich die Menge am meisten. Sie hatte den Fürsten gerettet, hatte mutig dem Tode sein Opfer entwunden. Was aber sie in dunkler Nacht in die schaurige Totengruft getrieben, was sie dort gewollt – das war die brennendste Frage. Jeder wußte die Antwort darauf; aber niemand wagte sie auszusprechen, sondern wollte sie lieber von anderen hören.
Gegen Abend kam der junge Graf Westernburg von Runkelstein herunter in die Stadt geritten. Vor dem Steinhoferschen Haus hielt er sein Pferd an, gab einem Knecht die Zügel und ging hinein. Nach einer halben Stunde kam er wieder heraus, noch um einen Schatten finsterer und mit noch tiefer gesenktem Haupt als vorhin, bestieg schweigend das Pferd und ritt ohne sich umzusehen zum Tore hinaus. – Bald wußte abermals die ganze Stadt, Graf Ehrenreich habe Anna Steinhofer seine Hand angetragen, und sie habe sie ausgeschlagen. Man erfuhr sogar, daß es schon zum zweitenmal geschehen sei. – Zum erstenmal, damals vor fünf Jahren, als Anna Steinhofer die Westernburg verlassen hatte, die ihr ein Jahrzehnt Heimat gewesen war.
Der geschäftige Leumund wob aus all diesen rätselhaften Einzelheiten ein kunstvoll verworrenes Gewebe,
Anna Steinhofer und ihre Anverwandten taten nichts, um die verschiedenen Gerüchte zu berichtigen oder zu entkräften. Sie schwiegen, als ginge das alles sie nichts an, und lebten noch zurückgezogener als sonst schon.
Der Fürst brauchte lange Zeit, um sich von den furchtbaren Geschehnissen zu erholen. Seine Krankheit hatte der Arzt für gebrochen erklärt, und nur Ruhe und kräftige Kost verordnet. Sein totenähnlicher Zustand sei ein Starrkrampf gewesen, wie ein solcher schon oft vorgekommen sei, jedoch selten von so langer Dauer. Der ohnehin schon geschwächte Körper war durch denselben und durch das Entsetzen des Erwachens unter den Toten vollends geschwächt worden. Aus des Fürsten wortkargen Äußerungen ging hervor, daß ihm erst seit wenigen Minuten die Besinnung zurückgekehrt war, als er Annas rettende Gegenwart entdeckte. Aber diese wenigen Minuten hätten genügen können, einen gesunden Verstand zu zerrütten, eine feste Gesundheit zu erschüttern – einen von Krankheit Geschwächten vollends zu töten. Sie hätten genügen können, um aus einem leichtsinnigen, gedankenlosen Weltkinde einen ernsten Mann zu machen.
Karl Friedrich sprach über seine Erlebnisse und über seinen Zustand nicht mehr, wie unbedingt notwendig war. – Über seine Empfindungen sprach er gar nicht.
Anfangs lag er tagelang still mit geschlossenen Augen. Die gute Kost, die man ihm brachte, nahm er widerstandslos, aber er verlangte nie von selbst danach. Er lag stundenlang, ohne sich zu rühren. Man wußte nicht, schlief er oder wachte er.
Griseldis war fast ebenso schweigsam. Sie tat ihm jede Handreichung selber, sie verließ nur selten das Zimmer, wo er lag. Sie sprach aber nicht mit ihm und liebkoste ihn nicht. Es lag eine scheue Hast in ihrem Gebaren, und manchmal etwas widerwillig Zögerndes.
Das machte, sie pflegte ihn nicht aus Liebe, sondern aus Eifersucht. Weil sie erfahren wollte, ob er wisse, daß Anna Steinhofer ihn gerettet, und was für einen Eindruck ihm das gemacht habe, darum bewachte sie ihn Tag und Nacht, darum ließ sie keinen anderen ihre Stelle einnehmen. Aber sie erfuhr nichts. Karl Friedrich schwieg, und sie wagte nicht zu fragen. Eine gewitterschwere Stille herrschte im Krankenzimmer.
Endlich eines Morgens, als Griseldis mit dem Frühtrunk eintrat, lag er mit weitoffenen Augen. Als sie an sein Bett kam, sagte er, daß er aufstehen wolle. Sie machte keinerlei Einwendungen und schickte ihm den Diener, daß er ihm sich ankleiden hülfe. Als sie wiederkam, saß er im Lehnstuhl am offenen Fenster und atmete in langen Zügen die frische Schneeluft. Sie rötete ihm die verblaßten Wangen, und in seinen großer gewordenen Augen spiegelte sich die Sonne. Ein weicher Ausdruck lag auf seinem Gesicht. Er sah schön und gut aus.
Griseldis betrachtete ihn erstaunt. Er war doch liebenswert. Sie kam näher, er beachtete es nicht, änderte nicht einmal die Richtung seines Blickes. Sie folgte diesem Blick; er ging über den bewaldeten Berg nach der Stadt hinunter. Da sah sie hart und böse aus, griff unsanft an ihm vorbei und wollte das Fenster schließen.
Aber Karl Friedrich streckte die Hand aus und hielt ihren Arm fest.
»Wozu das? Was willst du?«
Sie kannte diesen festen, stählernen Griff; sie hatte sich oft genug darunter gewunden; sie versuchte ihn abzuschütteln.
»Das Fenster schließen!« sagte sie trotzig; »die Winterluft ist dir nicht gut.« Er sah sie hohnvoll an.
»Wann hättest du je gewußt, was mir gut tut – jemals auch nur danach gefragt!« sagte er bitter. Es stachelte sie noch mehr, sie versuchte nun erst recht, ihren Willen durchzusetzen. Die Röte stieg ihm in die Stirn, seine Finger schlossen sich fester um ihren Arm.
»Weib – reize mich nicht! Das Fenster bleibt offen!« Es klang wie grollender Donner – sie kannte auch diesen Ton und wußte, daß sie ihm zuletzt weichen mußte. Heftig trat sie von ihm zurück und sah ihn feindselig an.
»Meinetwegen,« sagte sie achselzuckend, verließ das Zimmer und kam viele Stunden lang nicht wieder.
Von diesem Tage an machte seine Genesung schnelle Fortschritte. Er bekam eine gesundere Farbe, wurde voller und kräftiger.
Er begann im Hause herumzugehen und seine Geschäfte wieder aufzunehmen. Aber er blieb schweigsam und sprach mit allen nur das Nötigste. Er war abweisend und zerstreut und niemand seiner Umgebung wagte, ihm die allgemeine Freude über seine wunderbare Errettung und Genesung zu zeigen. Es schien, als habe er selber nicht die rechte Freude daran.
Dann kam der Tag, wo er den ersten Gang in den Wald machte. Er hatte Griseldis nichts davon gesagt, sie nicht aufgefordert, ihn zu begleiten. Aber sie, die jeden seiner Schritte bewachte, hatte ihn gehen sehen, und von einer quälenden Unruhe befallen, war sie ihm nachgeschlichen. Sie mußte hinter den Unebenheiten des Bodens, hinter Hügeln und jeweiligem Tannendickicht Deckung suchen, denn die Buchen waren noch kahl; sie verlor ihn oft aus den Augen dabei und mußte seine Spur auf den weichen Waldwegen wiedersuchen. – Karl Friedrich war erst ziellos hin und her gegangen – dann schlug er die Richtung nach der Grabkapelle ein. Den Schlüssel hatte er zu sich gesteckt.
Auf der jetzt leeren Stelle, wo sein Sarg gestanden hatte, stand er lange mit entblößtem Haupt, die Hände über dem Krückstock gefaltet.
»Hier also habe ich gelegen, und wenn sie nicht gekommen wäre, läge ich jetzt noch da, und wäre den gräßlichsten, schaudervollsten Tod gestorben, – Warum kam sie denn zu mir?« – und nach einer Weile seufzend – zitternd vor leidenschaftlicher Sehnsucht: »Anna – Anna – Anna –«
Was an Todes- und Ewigkeitsgedanken in ihm geweckt worden war und eine Zeitlang in ihm gearbeitet hatte, war wieder verblaßt. Der irdische Lebenssinn war ihm mit den körperlichen Kräften in verstärktem Maße zurückgekehrt. Das Verlangen nach Glück, der Widerwille gegen die verhaßte Last war doppelt stark geworden. Die irdische Leidenschaft loderte doppelt hell auf, nun er wußte, daß in Anna Steinhofers Herzen dieselbe Flamme heimlich und mächtig brannte.
Als er endlich wieder heraustrat, prallte er mit Griseldis zusammen. Es hatte den Anschein, als habe sie ihn durch die halboffene Tür belauschen wollen. Sie war furchtbar erschrocken und blieb fassungslos stehen, mit abgewandtem Gesicht. Auch er stand still, aber sein Blick lag auf ihr, als wolle er sie mit der Schwere seiner Verachtung zu Boden drücken.
»Was willst du hier?« fragte er endlich kalt.
»Ich wollte mit dir gehen,« stotterte sie, und war wütend auf sich selber, daß sie nicht mehr Mut hatte ihm gegenüber.
Seine Stirn furchte sich drohend, er trat einen Schritt näher.
»Warum schleichst du mir nach? Warum spürst du nach meinen Wegen – nach meinem Tun – nach meinen Gedanken – wie ein Spion? Oder bin ich dir plötzlich so wichtig geworden?«
»Ich kann nichts Unnatürliches darin sehen,« entgegnete sie möglichst gleichgültig, »daß sich die Frau um den Mann kümmert.«
»Nein,« entgegnete er mit furchtbarer Schärfe, »es wäre sogar das Richtige und Natürliche, wenn es immer geschah. Wenn es aber nie geschah, und plötzlich geschieht es – nicht aus Liebe, sondern aus Eifersucht, weil man dem andern nicht gönnt, was er braucht, und was man ihm selbst nie gegeben hat – dann ist es – gemein!« Er schleuderte ihr das letzte Wort rücksichtslos zu.
Er wandte sich schroff um und ging tiefer in den Wald hinein. Sie ging ins Schloß zurück, mit schleppendem Gang, blaß vor Zorn und Scham. Aber auf diesem Wege verwarf sie, was sie in letzter Zeit oft und viel gedacht und erwogen – die Möglichkeit einer Trennung – eines Endes dieses unerträglichen Lebens. Nein, nun wollte sie bleiben – nun erst recht. Er sollte nicht haben, was er wollte, wenn sie dabei leer ausgehen mußte. Als Karl Friedrich nach mehreren Stunden zurückkam, war sein Zorn verflogen; er war wieder still und einsilbig und schien den Vorfall vergessen zu haben. Griseldis begann sein verändertes Wesen unheimlich zu werden; sie suchte eine verborgene Absicht darin. Sie hatte es dabei eigentlich besser wie früher; sonst hatte er mit ihr gestritten und gescholten, hatte getobt und sie rauh behandelt; jetzt geschah nichts mehr von alledem. Er kümmerte sich gar nicht um sie, ihre Gegenwart schien ihm völlig gleichgültig, er bemerkte sie scheinbar gar nicht. Es war kränkend für sie – aber nicht kränkender als früher sein wildes, rücksichtsloses Wesen. Dennoch regte es sie mehr auf. Früher hatte sie Gleiches mit Gleichem vergolten – Rede mit Gegenrede – Kränkung mit Kränkung – sie hatte es als eine Genugtuung empfunden, ihm darin gewachsen zu sein. Jetzt hatte sie keine Waffen gegen ihn. Wenn sie ihn nicht beachtete, wie er sie nicht, so vermißte er nichts dabei, es war ihm gerade recht, wenn sie ihn in Ruhe ließ. Es gelang ihr auch nicht mehr, ihn nachhaltig aufzuregen; wenn sie ihn ärgerte, fertigte er sie ab wie ein ungezogenes Kind und fiel im nächsten Augenblick in seine unerschütterliche Gleichgültigkeit zurück. Seine Gedanken schienen immer in weiter Ferne zu sein.
Griseldis war fast rasend vor innerer Unruhe, vor ohnmächtigem Zorn darüber, daß sie keinerlei Gewalt mehr über ihn hatte. Aber sie hielt aus bei ihm, denn sie wußte, ihre Gegenwart war ihm trotz alledem die größte Qual.
Und wenn sie ging, dann konnte ja etwas eintreten, was sie um jeden Preis verhindern wollte.
Vier Wochen waren seit seinem ersten Ausgange verstrichen. Die Märzsonne hatte den letzten Schnee fortgeleckt und unter den Buchen blühten die Schneeglöckchen. Es war ein warmer, schmelzender Ton in der Luft; die Zeit, wo die Erde in innigem Sehnen dem Frühling entgegenstrebt – eine aufregende, sehnsüchtige, ahnungsvolle Luft. – Anna Steinhofer konnte es in dem großen düsteren Stadthaus, in der Prosa des Geschäftes und der unendlichen Hausarbeit, in dem Kindergeschrei und Küchengeruch nicht mehr aushalten.