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Sie ging schnell und tapfer den steil sich senkenden Weg entlang an der Terrasse vorbei, wo sie nun nie mehr sitzen sollte, immer weiter, bis die Straße eine Biegung machte und Bäume und Strauchwerk sich zwischen sie und die letzten Mauern schoben.

Da wurde ihr Schritt langsamer; ihre Haltung müde. Das Herz war ihr zum Brechen schwer – es war, als ob sie Heimat und Liebe und Lebensfreude da oben zurückließ, wo sie das alles kennen gelernt. Mit sich nahm sie nur den Schmerz, der sich ihr unsterblich in die Seele gesenkt.

Sie ging hinein in ein anderes Leben, das grau und hoffnungslos vor ihr lag. Sie bereute keinen Augenblick ihren Entschluß. Aber der Fuß, der sie in dieses Leben tragen sollte, stockte.

Als sie wieder um eine Ecke bog, kam wenige Schritt vor ihr der Fürst heraufgeritten. Sein Pferd ging langsam, er hatte ihm die Zügel über den Hals gehängt, und saß in lässiger Haltung im Sattel, mit verschränkten Armen und erdwärts gesenktem Blick, wie jemand, der sich völlig in seine Gedanken zurückgezogen hat. – Erst eine Bewegung seines Tieres ließ ihn aufblicken. Da sah er Anna Steinhofer in ihrem schwarzen Kleid, mit ihrem wehmütigen Gesicht, unter dem goldbraunen Haare, das ein kleines Häubchen deckte, und aus dem die weichen Augen ihn in tödlichem Schreck und seliger Lust anstarrten.

Ein Fieberschauer überrieselte ihn vom Kopf bis zu den Füßen, der Atem versagte ihm – er wußte selbst nicht, weshalb.

Er sprang vom Pferde, und es am Zügel haltend, ging er gerade auf sie zu.

»Nun komm' ich doch zu spät,« sagte er und wagte kaum, sie anzusehen. Sie lehnte sich an die niedrige Steinmauer, die die Landstraße gegen den Abhang grenzte, und sah ihn stumm fragend an.

»Es wollte mir nicht in den Sinn,« sagte der Fürst, allmählich den alten, harmlosen Ton wieder findend, »daß Ihr in dieser Abschiedsstunde ganz allein sein solltet. Als Euer Bote uns Nachricht brachte, daß Ihr heut' die Westernburg verlassen würdet, sagte ich Griseldis, wir müßten kommen und es Euch erleichtern. Aber sie ging nicht weiter darauf ein – und ich mochte nicht zureden, nach jenem Abend – dem letzten da oben. Aber als es nun soweit war, könnt' ich's doch nicht übers Herz bringen, Euch ganz allein zu lassen – und darum kam ich auf eigene Hand. Aber ich komme zu spät.«

Sie lächelte wie ein glückliches Kind, und die Tränen stürzten ihr unaufhaltsam aus den Augen. Dabei rührte sie sich nicht und gab keinen Ton von sich. Karl Friedrich stand diesem stummen Schmerz hilflos gegenüber. Er vergaß die ganze Welt und sein ganzes Leben bei diesem Anblick, aber er wußte nicht, wie er ihr helfen sollte.

»Anna,« sagte er leise und dringend, »Anna, Ihr hättet doch oben bleiben sollen!«

Sie sah ihn an, als verstünde sie ihn nicht.

»Ich bin einfältig,« sagte sie, sich zusammenraffend. »Ich will weitergehen und Euch nicht länger aufhalten.«

»Ich kehre mit Euch um,« sagte er schnell; »nun Ihr nicht mehr dort seid, habe ich auf der Westernburg nichts zu suchen.«

Ohne ihre Zustimmung zu erwarten, schritt er neben ihr talwärts, sein Roß am Zügel führend. Um sie zu zerstreuen, plauderte er von tausenderlei heiteren Dingen. Sie mußte ihm von ihren Verwandten erzählen, ihm die Namen der zehn Basen und Vettern nennen, und er ruhte nicht eher, bis er sie auswendig wußte. Er wurde zuletzt ganz ausgelassen und sein helles Lachen klang durch das Waldesgrün. Anna Steinhofer konnte nicht einstimmen; das Herz tat ihr weh, wenn sie ihn ansah – ihn so schön, so lebensfroh, so glücksberechtigt – so unglücklich, und auf so gefährlicher Bahn. – Am Stadttor nahmen sie Abschied.

»Für eine kurze Zeit!« sagte der Fürst.

»Für immer!« dachte Anna.

Sie hatte gemeint, nur für eine kurze Zeit der Ruhe in dem Hause des Oheims einzukehren. Nun aber fand sich, daß sie ganz dableiben konnte. Die älteren Kinder waren aus dem Hause – die jüngeren konnte sie pflegen, unterrichten und für alle nähen und stricken helfen.

Sie nahm es dankbar an. Der Gedanke, zu fremden Menschen zu gehen, war ihr ein Schreckgespenst gewesen. Sie ließ sich völlig einreihen als nimmermüde Arbeitskraft in dem Getriebe eines schier überlasteten Hauswesens, half sparen und sorgen und schaffen, und suchte mit dem Geräusch der täglichen Arbeit die rastlosen Gedanken zu betäuben.

Ihr bisheriges Leben lag hinter ihr wie ein Traum. Nur Ehrenreichs kurze jeweilige Besuche und das schleichende Fieber ihrer Seele bewiesen ihr, daß es Wahrheit gewesen. Ehrenreich blieb ihr in Verehrung und Treue ergeben, und kam nie in die Stadt hinunter, ohne sich bei ihr eine kurze Erholung zu gönnen. Sie wußte ihm besonderen Dank dafür und nahm freudig an, was das Leben ihr Freundliches bot.

Mit dem Runkelstein hatte sie keine Verbindung mehr. Das fürstliche Paar verlebte das Trauerjahr dort oben in gänzlicher Zurückgezogenheit; es ging öde und freudlos zu in den glänzenden Räumen. Jeder lebte für sich. Griseldis sehnte sich nach den Freuden der Welt, da ihr der Quell der besseren Freuden des Hauses, des Herzens und der Liebe verschlossen blieb. Ihre herrische, selbstsüchtige Natur wand sich unter der Hand des Gatten, der mit eiserner Strenge erzwang, was jahrelange Liebesmüh' nicht zuwege gebracht – Fügsamkeit und Unterordnung ihrer Launen unter seinen Willen.

Er liebte sie längst nicht mehr. Sie wußte das und wollte doch nicht einsehen, daß es ihre eigene Schuld sei. Sie grollte und zürnte ihm, weil er es fehlen ließ an der Aufmerksamkeit und Fürsorge, die nur aus der Liebe kommt, und vergaß, daß sie dergleichen niemals für ihn gehabt.

Sie suchten sich ein jeder die möglichste Selbstständigkeit zu wahren und möglichst wenig miteinander zu tun zu haben.

In den langen, einsamen Stunden, die ihnen bei diesem Verhältnis erwuchsen in der Runkelsteiner Waldeinsamkeit, dachte Griseldis daran, wie sie sich im nächsten Jahr schadlos halten wollte für alle Zerstreuungen, die sie jetzt entbehrte und tröstete sich über das Unglück ihrer Ehe, indem sie all die äußeren Vorteile erwog, die ihr daraus erwuchsen.

Karl Friedrich aber dachte in bitterem, reuevollem Schmerz an all das Elend, das ihm der Irrtum seines Herzens gebracht, und die guten Geister seiner edelgeborenen Seele rangen in verzweifeltem Kampf mit den bösen Dämonen, die sich ihrer zu bemächtigen drohten. Und sonderbarerweise wurde es still und fromm und friedlich in ihm, wenn er an Anna Steinhofers liebliches Wesen, an ihr holdseliges Gesicht und an ihre wehmütig lächelnden Augen dachte. Was Wunder, daß er oft und immer öfter diesen Zauber heraufbeschwor?

Im Frühling wurden die Läden des Schlosses wieder zugemacht; das Fürstenpaar zog in die Welt hinaus und hatte von Anna Steinhofer keinen Abschied genommen. Das Leben schien in alter Weise fortgehen zu sollen. Aber es kamen unruhige Zeiten für das Land, die Spiel und Tanz und Lustbarkeiten rauh unterbrachen, das Reisen unsicher machten und der Männer Gedanken eine andere Richtung, ihren Händen andere Arbeit gaben, als die ihres friedliches Daseins.

Das Heer des Landes wurde zu mehreren kleinen Feldzügen an die Grenze geschickt, wo es galt, sich gegen die räuberischen Einfälle der Franzosen zu schützen und Brand und Gewalttat, die sie verübt, zu rächen. Der Fürst und Ehrenreich zogen mit. Es war ihnen beiden willkommen. Griseldis kehrte mit Koffern und Kasten und einem mißvergnügten Gesicht auf den Runkelstein zurück.

Und wie sie da saß in ihrer Einsamkeit und inneren Friedlosigkeit, wies sie der Gefährtin junger Tage nicht mehr in hochfahrender Kälte die Tür. Sie nahm es dankbar an, daß Anna Steinhofer dann und wann zu ihr heraufkam und ihr einen einsamen Abend vertrieb. Sie hätte sie wohl nie darum gebeten, aber Anna war von selbst gekommen. Sie hatte alles vergessen, was Griseldis ihr jemals zugefügt an Kränkung und Nichtachtung, vergessen über dem Mitleid mit seinem Weibe, von dem sie wußte, wie die Einsamkeit ihm tat – vergessen über der Angst um das Leben dessen, um den allein ihr Leben sich drehte. Und nirgends – meinte sie – könne sie so oft und so sicher Nachricht erhalten, als auf dem Runkelstein.

Sie überwand das Peinvolle des ersten Wiedersehens und die Schwierigkeit, den alten Ton früherer Tage wiederzufinden. Herzlich war er nie gewesen – aber doch auch nicht feindselig, wie er zuletzt geworden.

»Du bist einsam und in Sorge,« sagte sie einfach, »und ich wollte dich fragen, ob dir meine Gesellschaft nützen kann.«

Und da Griseldis ihre erzwungene Einsamkeit unerträglich fand, nahm sie es an. Da sie niemand anderes hatte wie Anna, und da auch niemand da war, der Anna ihr vorziehen könnte, ließ sie sich ihre häufige Anwesenheit gefallen und fand sie sogar angenehm.

Anna Steinhofer aber lernte hier oben die verschiedensten Empfindungen kennen. Je mehr sie bei solch zwanglosem Zusammensein die vielen Mißtöne, die Friedlosigkeit und Unzufriedenheit in Griseldis' Seele verstehen lernte, je mehr sie fühlte, daß alle guten Anlagen in ihr verkümmert waren und von dem Unkraut überwuchert wurden – um so mehr wandelte sich der Rest von Unwillen in Mitleid. Je deutlicher sie fühlte, wie so jeder Liebestiefe, jedes echt weiblichen Empfindens bar dies Herz geblieben, um so mehr wuchs ihr Jammer, mit dem sie an den Fürsten dachte. Es war ihr lieb, daß sie sich nie in seinem Zimmer aufhielten, und daß es in Griseldis' Gemächern nichts gab, was an ihn erinnerte. Sie hätte es sonst nicht aushalten können.

Wenn sie von ihren Besuchen, die sie stets in freudiger Erregung antrat, heimkehrte, hatte sie völlig in sich gekehrte Augen und ein gedankenabwesendes Benehmen, als habe sie weder Sinn noch Seele mit nach Haus gebracht.

Die Nachrichten vom Fürsten flossen selten und spärlich. Oft vergingen ein paar Wochen, ehe ein kurzer, eiliger Zettel von seiner Hand meldete, daß er noch am Leben und gesund sei und noch nicht an die Heimkehr denke. Griseldis gab Anna diese Zettel mit einer lässigen Gebärde zu lesen. Das erste Mal zögerte Anna zuzugreifen.

»Lies nur,« sagte die Fürstin bitter, »eheliche Geheimnisse stehen nicht darin.«

Anna las und legte das Papier fort, und sprach kein Wort darüber.

Endlich blieben die Nachrichten ganz aus. Es war nun ein Jahr vergangen, seit der Fürst hinausgezogen, und vier Jahre seit des alten Grafen Tode.

An einem regnerischen Tage, im Spätherbst, bekam Anna Steinhofer ein umfangreiches Schreiben aus dem hessischen Quartier; es war von Ehrenreich und lautete:

»Liebe Anna!

Ihr seid immer die Vernünftigste und Gescheiteste von uns gewesen; darum weiß ich mir nichts Besseres, als mich an Euch zu wenden in einer Angelegenheit, die einer zartfühlenden Frauenhand bedürftig ist.

Ihr habt wohl auf dem Runkelstein gehört, daß ich mit dem Fähnlein des Fürsten marschiert bin, und wir haben Freud' und Leid des Feldzuges als gute Kameraden miteinander geteilt. Seit längerer Zeit schon wollt' es mir aber scheinen, daß mein Schwager dem rauhen Kriegsleben nicht gewachsen ist; er ist mager und hohlwangig geworden und seine Stimmung ist ganz die eines Menschen, dessen Körper nicht so viel leisten kann, wie er von ihm verlangt, und der das nicht einsehen und zugeben will. Ich glaube, er hat auch irgend einen Kummer, den er durch Arbeit betäuben will, und der wiederum gerade an seiner Kraft zehrt. – Seit einigen Wochen ist das sehr viel schlimmer geworben; er klagt beständig über Kopfweh, das sehr arg sein muß, denn er zieht dabei die Stirn in tiefe Falten und seine Augen haben dann einen gläsernen Blick. Gestern ist er uns auf dem Ritt ohnmächtig geworden, und als er erwachte, kannte er mich nicht. Ich habe dem General Meldung gemacht, der hat den Feldscher mit der Untersuchung beauftragt, und der Feldscher hat zum Bericht erstattet, er halte es für untunlich, den Fürsten noch länger bei der Truppe zu behalten – man solle ihn so schnell wie möglich nach Hause schicken, es sei vielleicht eine schwere Krankheit im Anzuge. Wir haben einen Wagen und gute Pferde genommen und den Fürsten so bequem wie möglich gebettet. Er wollte anfangs nichts von Heimkehren wissen, aber eine neue Ohnmacht machte ihn widerstandslos und entkräftete ihn ganz. Ich lasse ihn mit Sorge ziehen – hätt' ihn gern selber begleitet, wurde aber nicht freigelassen, und mußte mich begnügen, ihm einen guten Mann aus unserem Fähnlein, beritten, mitzugeben. Den Boten mit diesem Briefe sende ich voraus an Euch. Wenige Stunden nach ihm kann der Kranke eintreffen. Ich bitte Euch, liebe Anna, daß Ihr gleich hinaufgeht und meine Schwester vorbereitet; ich wußte nicht, wie ich es schriftlich machen sollte, und Ihr findet immer den rechten Ton. Ich denke, lange wird es mit uns nicht mehr dauern, und ich werde meinem Schwager bald folgen können. Wir haben hier nicht viel ausgerichtet – es war ein unerfreulich Spiegelfechten, und Lorbeeren bringen wir keine mit heim. Gott wolle meinem lieben Schwager helfen und uns allen ein gesundes Wiedersehen schenken.

Ehrenreich.«

Anna Steinhofer hatte den Brief schon mehrere Male gelesen und starrte immer noch darauf nieder, als wolle sie ihn auswendig lernen.

»Jetzt kommt es –« dachte sie, während ihr das Herz zerspringend schlug; und sie wußte doch nicht, was nun kommen sollte. – Sie hüllte sich in ein Tuch und ging unverzüglich nach dem Runkelstein. Den Brief verschloß sie vorher in ihre Truhe.

Es war Mittagszeit, aber die Sonne vermochte nicht durchzudringen, und noch immer sprühte ein feiner Regen. In dem fahlen Laub der entblätterten Bäume, in den düsteren Zweigen der Tanne rieselte und tropfte es in eintönig schwermütiger Weise. Haar und Kleid mit feuchten Perlen bedeckt, in den Augen ein trockenes Brennen, mit zitternden Knien und kalten Händen langte Anna auf dem Runkelstein an.

Und eintönig, wie das Rieseln und Tropfen des Regens im Walde, klang die Stimme, mit der sie der Fürstin das Geschehene mitteilte und das Kommende ankündigte. Schonung und Vorbereitung waren hier überflüssig, das wußte sie.

Als sie fertig war, blieb sie mit verschlungenen Händen stehen und sah Griseldis unverwandt und erwartungsvoll an.

Über Griseldis' Gesicht waren flüchtig Schreck und Besorgnis gezogen – dann nahm es wieder den kalten Ausdruck an. Plötzlich furchte sich ihre Stirn, wie bei einer unangenehmen Empfindung, und sie fragte ziemlich scharf:

»Warum hat mein Bruder das nicht an mich mitgeteilt!«

»Weil er meint,« erwiderte Anna sanft, »solche schlimme Botschaft könne man mündlich schonender bringen als schriftlich!«

Griseldis lächelte verächtlich.

»Ich bin kein zimperliches Püppchen,« sagte sie, »ich kann die Wahrheit ertragen, gleichviel ob gesprochen oder geschrieben. Du hast mir doch die volle Wahrheit gesagt?« fügte sie in plötzlichem Argwohn hinzu.

»Ja,« sagte Anna Steinhofer.

»Wo hast du den Brief?« fragte Griseldis unruhig.

»Ich habe ihn nicht mitgebracht.«

»Warum nicht?«

Anna machte verwunderte Augen.

»Wozu die Nachricht doppelt? und dein Bruder hat mich gebeten, es dir mündlich mitzuteilen.«

Griseldis ärgerte sich darüber, ohne sich der eigentlichen Ursache klar zu sein. Die freundlichere Gesinnung, die sie in letzter Zeit dem Mädchen entgegengebracht, war jäh ausgelöscht. Sie empfand Anna von neuem wieder nur als einen Dorn im Auge – als einen Eindringling, der ihr immer und überall im Wege stand.

Annas Anerbieten, ihr bei den Vorbereitungen zur Aufnahme des Kranken zu helfen, wies sie unfreundlich ab.

»Aber soll ich nicht wenigstens hier bleiben?« fragte Anna mit unermüdlicher Geduld und rührender Bescheidenheit. »Es könnte doch sein, daß du jemanden brauchtest – und sei es nur zu einem Auftrage in der Stadt!«

Griseldis war unschlüssig und warf ihr einen forschenden Blick zu.

»Nein, ich danke,« sagte sie plötzlich mit eisiger Kälte; »ich habe genug Mägde zum Schicken, und bei einer Pflege ist jeder Überflüssige vom Übel.«

Da ging Anna, ohne ein weiteres Wort und eine weitere Minute zu verlieren.

Noch an demselben Abend kam der Wagen, der den kranken Fürsten brachte. Anna sah ihn langsam die Landstraße am linken Flußufer heraufkommen. Sie ging vors Tor bis auf die Brücke. Hier blieb sie stehen und sah dem Wagen nach, bis er in dem herbstlichen Walde verschwunden war.

Am andern Morgen erzählte man sich auf dem Markt der Stadt, auf allen Straßen und in allen Häusern, Fürst Karl Friedrich habe eine schwere Gehirnentzündung, und für sein Leben sei wenig Hoffnung.

An jedem Abend der nun folgenden Tage ging Anna Steinhofer allein und still den Waldweg nach Schloß Runkelstein hinauf und fragte nach des Fürsten Ergehen. Sie ließ sich nicht bei der Fürstin melden; sie fragte die Haushälterin – den Küchenjungen, den Verwalter – wer gerade Zeit hatte, ihr zu antworten. Man wußte bald schon im voraus, wann und weshalb sie kam, und gab ihr ungebeten Bescheid.

Es war immer derselbe: der Fürst lag bewußtlos, in wilden Fieberphantasien. Er kämpfte gegen die Franzosen und allerhand höllische Geister, und es sei oft schwer, ihn im Bett zu halten. Die Fürstin sitze tagsüber im Krankenzimmer. Nachts lasse sie sich vertreten. Er kenne sie ja doch nicht.

Mit der Zeit ließ das Fieber nach und das Bewußtsein kehrte wieder. Nun – hieß es – sei es erst recht arg geworden. Die Schmerzen wollten nicht nachlassen, und er liege Tag und Nacht in einer unheimlichen Ruhe und Gleichgültigkeit, die an Geistesschwachheit grenzte. Man fürchtete für seinen Verstand.

Als Anna solches erfuhr, bat sie, daß man sie der Fürstin melde. Der abgesandte Diener kam achselzuckend zurück.

»Die Frau Fürstin habe sich schlafen gelegt.«

Anna starrte ihn an wie eine wandelnde Lüge. Dann wandte sie sich zum Tor hinaus und lief wie gejagt den Hang hinunter, als könne sie nie mehr fort, wenn sie sich nicht so sehr als möglich eile.

Keine Sprache und keine Feder kann die Qual solcher Zeit beschreiben. Annas Anverwandte sahen ihrem Treiben besorgt zu. Sie mußten jetzt vermuten, was sie bislang nicht ahnten. Aber wenn sie fragen wollten, flehten Annas todesbange Augen um Schweigen – und die Frage erstarb auf den Lippen.

Zwischendurch kam Ehrenreich zurück.

Sein erster Weg war hinunter in die Stadt. Er traf Anna nicht, und man sagte ihm, sie werde wohl nach dem Schlosse gegangen sein.

Er gab seinem Pferd die Sporen und ritt hinauf. Da aber Anna einen Fußweg eingeschlagen hatte und er auf der Straße blieb, überholte er sie, ohne sie zu treffen. Als er oben ankam, empfing ihn die Nachricht, der Fürst sei vor einer Stunde gestorben.

Man hatte das Ende kaum bemerkt – er war eingeschlafen mit geschlossenen Augen und nicht wieder aufgewacht. Griseldis führte ihn an des Gatten Leiche.

Sie war blaß, still und tränenlos, und beim Anblick des Toten ging ein Schauer nach dem andern über ihren Leib. Sie mochte ihn nicht berühren. Als Ehrenreich sich erbot, alles Nötige für sie zu tun, nahm sie es gern an und zog sich in ihre Gemächer zurück. Sie fürchtete sich vor sich selber. Sie hatte doch nicht geglaubt, daß ihr der Tote so gleichgültig gewesen.

Anna Steinhofer war nicht bis ans Tor gelangt. Etwa hundert Schritt unterhalb, wo der Fußpfad sich wieder mit der Straße vereint, begegnete sie einem Buben, der mit der Nachricht hinunter ins Pfarramt ging.

Von dem erfuhr sie es.

Eine Stunde später kam Ehrenreich vom Schloß herab, einen Waldweg entlang, der zu der Fürstengruft der Runkelsteiner führte, wo nun Karl Friedrich beigesetzt werden sollte. Plötzlich sah er in der frühen Winterdämmerung zwischen den tiefhängenden schneebeladenen Zweigen eine menschliche Gestalt, die sich geräuschlos entfernte. Er bückte sich und fand in dem Schnee des unbegangenen Weges den Abdruck eines schmalen Frauenfußes. Er stutzte. Es schoß ihm etwas durch den Sinn – –

Er beschleunigte seinen Schritt und hatte die Gestalt, die in tiefen Gedanken langsam dahinschlich, schnell eingeholt.

»Anna,« sagte er erstaunt und fragend und trat neben sie. Sie blieb stehen und sah ihn an mit einem Gesicht, das so weiß war wie der Schnee des Weges, und darin die dunkeln Augen wie ein schwarzes Feuer brannten. »Wo kommt Ihr her, Anna, und was wollt Ihr hier?«

»Ich komme vom Schloß,« antwortete sie mit hohler Stimme.

»Und Ihr wißt –« sie nickte heftig und senkte die Lider. Sie sah selbst aus wie eine Tote.

Ehrenreich wußte nicht, was er mit ihr anfangen sollte. Er konnte sich nicht Rechenschaft geben über die Ahnungen, die ihm durch den eigenen Sinn fuhren.

»Möchtet Ihr ihn noch einmal sehen, Anna?« fragte er und wußte nicht, wie er darauf kam. Einen Atemzuges Länge sah sie zu ihm auf mit Augen, in denen die Sehnsucht eines Lebens sich zu einem verzehrenden Strahl sammelte – dann schlossen sich die Augen und sie fröstelte.

»Nein – Griseldis würde es nicht wollen.«

Da wußte Ehrenreich, warum Anna Steinhofer ihn niemals lieben konnte.

Er vergaß den Gang, den er vorhatte.

»Ich will Euch heimgeleiten, Anna,« sagte er mit trauriger Stimme. Er legte ihren Arm in den seinen und führte sie auf dem nächsten Wege hinunter. Unterwegs fing sie an zu weinen; erst mit trockenem Schluchzen, dann mit vielen Tränen. Er konnte ihr kein Wort sagen, es würgte ihn an der Kehle. Er hielt sie nur fester und flüsterte ein paarmal ganz leise:

»Anna, liebe Anna.«

Auf der Brücke raffte sie sich auf und machte sich von ihm los.

»Ich danke Euch, Junker,« sagte sie, »geht nun zurück, Ihr habt noch viel zu tun. Und entschuldigt mich bei der Fürstin, falls sie nach mir fragen sollte – es wird Euch schon etwas einfallen. Ich kann vorläufig nicht wiederkommen.«


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