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Aber er konnte sich noch nicht entschließen, sie allein zu lassen. Sie merkte es und lächelte ein verlöschendes Lächeln.

»Ich gehe gleich nach Hause,« sagte sie, »ich brauche Ruhe.«

Da zog er ehrfürchtig ihre Hand an seine Lippen und ließ sie gehen. Aber er wartete noch, bis sie durchs Stadttor hinein war. Dann ging er langsam zurück, als trüge er eine große Last. Das Herz tat ihm weher um die Lebende als um den Toten.

Zu des Fürsten Begräbnis wurden große Vorbereitungen getroffen – denn obschon von auswärtigen Angehörigen und Befreundeten, des kaum beendeten Feldzuges wegen, von dem viele noch nicht zurückgekehrt waren, niemand zu erwarten stand, sollte es doch nicht an den Ehren mangeln, mit denen nach alter Sitte die Herren dieses Schlosses zu den Gebeinen ihrer Väter versammelt wurden. Ehrenreich steuerte soviel als möglich den weltlichen Neigungen seiner Schwester, die sie auch bei diesem traurigen Anlaß nicht verleugnen konnte. Seinem Einfluß gelang es, die Feier auf den zweiten Tag anzusetzen, und damit noch weitläufigere Vorbereitungen zu verhindern.

Der dritte Tag war außerdem ein Sonntag, und an Sonn- und Feiertagen hatte der Pfarrer ohnehin in seinem großen Kirchspiel genug zu tun. Damals hielt man noch nicht so streng auf die dreitägige Frist, die heute Gesetz ist.

Ehrenreich hatte den Schwager auf sein letztes Lager gebettet und sah ihn noch einmal lange und trauervoll an, ehe sie die Schrauben des Deckels schlossen. Er sah so unverändert aus, so ganz, als ob er nur schliefe – den tiefen, festen Schlaf einer großen Erschöpfung.

»Könntest du doch leben – für sie!« seufzte er tief innen.

Anna Steinhofer kam nicht zu seinem Begräbnis. Sie sah die Einwohner der Stadt scharenweise zum Tore hinausströmen, wie zu einer großen Schaustellung. Auch ihr Oheim war darunter. Ihr wäre es unmöglich gewesen, sich unter die Gaffer und Müßiggänger zu mischen – noch unmöglicher, an Griseldis' Seite an seinem Sarge zu stehen. Sie, die Schmerzen litt, wie sie noch nie gelitten, die verloren, was sie nie besessen, und die das Verlorene liebte, wie wenige zu lieben verstanden.

Sie hatte sich einen andern Abschied ausgedacht. Daß sie noch einmal zu ihm gehen und bei ihm sein mußte, ob sie ihn auch nicht sehen konnte, war ihr gewiß. Der Tod erlaubte, was ihr das Leben nicht gewährt hatte. Aber nicht, wenn andere sie umstanden – nicht zum leckeren Schauspiel neugieriger Augen wollte sie ihr heiliges Leid machen – nicht gestört wollte sie sein von allerlei Rücksichten für sich und andere.

Sie wußte, wann für sie die Stunde kam, und sie konnte warten und sich gedulden. Sie verbrachte den Tag in einer qualvollen, traurig-seligen Freude auf diese Stunde, ganz allein mit ihm und sich.

In der Nacht, wenn niemand sie störte, wollte sie Abschied von ihm nehmen.

Es ging auf Mitternacht. Im Hause war längst das letzte Licht verlöscht. Da erhob sich Anna Steinhofer von ihrem Lager, darauf sie keinen Schlaf gefunden. Sie kleidete sich an und ergriff den Schlüssel einer kleinen Hintertür, den sie abends zu sich gesteckt hatte. Im Dunkeln, nur beleuchtet vom bleichen Licht des halben Mondes, verließ sie ihr Zimmer und tastete sich die Gänge und Treppen hinunter. Leise und behutsam öffnete sie die letzte Tür und trat ins Freie.

Kalt wehte die Winternacht sie an. Sie zog das schwarze Tuch fester um ihre Schultern und glitt dunkel und unhörbar über den Hof. Sie eilte auf ausgetretenem Pfade durch den Garten, der sich bis zu der alten Stadtmauer hinzog, und gewann durch eine in das dicke Steinwerk eingelassene schmale Pforte das Freie. Sie watete durch fußhohen Schnee über ein Stück Wiese und gelangte auf die Landstraße, die gerade an dieser Stelle in den Runkelsteiner Forst einbog. Und nun eilte sie die Straße entlang, so schnell sie konnte.

Sternenklar und mondhell lag die schneeschimmernde Nacht auf ihrem Wege. So still war es, daß ihre eigenen Schritte auf dem hier festgestampften Schnee gespenstig laut knirschten. Aus den umliegenden Wäldern klang der vielstimmige, heisere Schrei schwärmender Eulen. Lang und schwarz fiel ihr Schatten vor ihr her. – Immer schneller lief Anna Steinhofer, ihr dünkte, sie sei der einzige helle Punkt in der nächtlichen Finsternis und müsse zu sehen sein für jeden – meilenweit. – Die Lahn war zugefroren und mit Schnee bedeckt. Totenhaft still und starr lag das munterplätschernde Wasser.

Je weiter Anna Steinhofer kam, je mehr zitterten ihre Knie vor Anstrengung und Angst. Als rechterhand die dunkeln Schloßmauern aus dem farblosen Walddämmern aufwuchsen und ein enger Pfad, von dorther kommend, ihren Weg kreuzte, verließ sie diesen Weg und folgte dem Pfade nach links tiefer in die Waldnacht hinein.

Der Pfad war vom Schnee gesäubert und klar gefegt. Tannenzweige und Fußspuren bedeckten ihn. Das Mondlicht lag grell darüber und die kahlen Buchenäste spannen ein verworrenes Schattennetz wie eine Federzeichnung.

Auf diesem Wege hatten sie vor wenig Stunden den Runkelsteiner zu Grabe getragen.

Anna stand still. Mit Augen, in denen der Wahnsinn dämmerte, starrte sie auf diese Tannenzweige und Fußspuren, blickte sie geradeaus, wo durch die Bäume ein goldenes Kreuz von einem Dache hell zu ihr herübergleißte.

Das war die Gruft, wo sie Karl Friedrich beigesetzt hatten.

Anna Steinhofer schüttelte sich vor Kälte und Grausen. Dann lief sie weiter. – Wenn man nun den Schlüssel abgezogen hätte?

– Nein – der Schlüssel steckte. Sie legte die Hand darum; er war so kalt, daß es sie schmerzte. Mit verzweifelter Entschlossenheit drehte sie ihn im Schloß; kreischend gehorchte er. Sie zog die Tür weit auf. Hell und neugierig fiel das Mondlicht in den dunkeln, dumpfigen Raum. Es beleuchtete die alten Särge mit den erstorbenen Kränzen im Hintergründe und den neuen Sarg ganz vorn. Er war glänzend schwarz gestrichen, mit frischem Blattwerk und duftenden Blumen über und über bedeckt.

Anna Steinhofer stand auf der Schwelle, ihre eine Seite beleuchtet von schweigsamem Nachtglanz – die andere verschwimmend in den schwarzen Schatten der Gruft.

Da drin sollte er liegen? Tot sollte er sein?

Seine wilde Tollkühnheit gefesselt in dem engen Sarge?

Seine heiße Leidenschaftlichkeit erkaltet in Tod und Winter?

Niemals – niemals sollte sie ihn wiedersehen? Nichts gehabt haben von ihm, nichts von ihm besitzen für das lange, lange Leben, was schon war und was noch sein würde? Und dabei im Herzen dies fressende Feuer – diesen nimmersatten Wurm?

Anna stöhnte wie ein gefoltertes Tier. Sie taumelte die Stufen hinab, brach neben dem Sarge nieder und drückte den Kopf in das raschelnde Laub der duftenden Kränze.

Von allen Wänden tönte es wider, dies gespensterhafte Rascheln.

Anna erwachte aus ihrem Jammer zu dem Bewußtsein, daß sie die einzig Lebende sei unter Skeletten und Verwesenden.

Die Todesruhe umher schien sich zu beleben. Sie lauschte mit angespannten Kräften, und obgleich sich nichts regte, meinte sie doch allerhand zu hören, und empfand eine entsetzliche Angst davor, daß sich wirklich etwas regen könne. Sie hob den Kopf und sah mit starren Augen umher. Nun glaubte sie auch allerhand zu sehen. Im Hintergrunde schienen sich die Deckel zu heben; Totenschädel grinsten sie an. Knochenhände streckten sich nach ihr aus.

»Bringst du uns das Leben wieder? oder kommst du, weil dich nach unserem Los verlangt? Komm, lege dich zu uns, es ist noch Platz für dich!«

Das wahnsinnige Grauen, das sie packte, lenkte für Sekunden ihre Gedanken ab von dem einen Toten, um dessentwillen sie gekommen war. Dann erfaßte sie um so verzweiflungsvoller die Gewißheit, daß auch er bald nichts anderes sein würde als so ein armes fleisch- und seelenloses Gerippe – er, der schöne, blühende, fröhliche Mann, den sie so über alle Maßen liebte.

Anna ließ den Kopf wieder sinken, dumpf schlug ihre Stirn auf den Sargdeckel.

Und nun hörte sie einen wirklichen Ton, einen, den nicht ihre Bewegung hervorgerufen hatte. Es klang, als ob einer der lose aufgehängten Kränze an der äußeren Wand des Sarges niedergleite. Sie wartete auf den Moment, wo er mit dumpfem Klatschen auf dem steingepflasterten Boden aufschlagen werde; aber der erwartete Ton kam nicht. Es war, als bliebe er in der Luft hängen. Statt dessen wiederholte sich das raschelnde Geräusch. Es klang in immer kürzeren Zwischenräumen, immer schneller, immer hastiger. Nun klang es dicht an Annas Ohren, aus dem Innern des Sarges heraus.

Anna schnellte empor und bog den Kopf zurück – mit entsetzensstarren Augen stierte sie auf die Stelle, wo sie es vernommen hatte – alles blieb still.

Bis plötzlich im Innern des Sarges, an dem sie kniete, ein gräßlicher heiserer Schrei wahnsinniger Angst ertönte – –

Anna konnte kein Glied rühren. Sie fühlte ihr Blut – ihren ganzen Leib zu Eis erstarren. Sie wartete ohne zu wissen worauf, überhaupt ohne zu denken; ihr Herzschlag stockte. Sie glaubte, ihre letzte Stunde sei gekommen. Aber wenn ihre Rettung von ihrer Flucht abgehangen hätte – sie hätte jetzt nicht fliehen können; sie war gebannt – gelähmt.

Nun rüttelte es von innen an dem Holz des Sarges und stieß gegen den Deckel, daß ein paar Kränze nun wirklich sich loslösten und klatschend auf die Steine fielen. Draußen ging der Mond hinter Wolken, es wurde dunkel bei den Toten. Anna Steinhofer konnte nicht denken vor Grausen. Es packte sie am Herzen – an der Kehle mit erstickendem Griff wie harte, kalte Totenhände. Es drehte sich mit ihr im Kreise. Wie, in einem wirbelnden Trichter fühlte sie sich hinabgezogen in eine bodenlose, schwarze Tiefe. Ihre Zähne schlugen aufeinander, sie zitterte so, daß sie sich nicht mehr aufrecht halten konnte. Mit einem gurgelnden Laut knickte sie zusammen und schlug mit dem Oberkörper vornüber auf den Sarg.

Da schwiegen die geisterhaft schaurigen Töne.

Statt dessen ertönte aus dem dunkeln Innern eine Menschenstimme und fragte:

»Wer ist da?«

Gedämpft und hohl klang es aus dem eingeschlossenen Raum hervor, und doch nicht wie Geisterstimme. Denn nur einer Menschenstimme Klang kann so viel Todesgrauen und so viel Lebenshoffnung in sich vereinen.

Durch den bebenden Klang dieser Stimme kam Anna wieder zu sich. Auf einmal wußte sie, daß sie es nicht mit Leichen und Gespenstern zu tun habe, sondern mit dem wirklichen Leben. Wäre es die abgeschiedene Seele, die zu ihr spräche, – sie würde ja nicht an die schaudervolle dunkle Engigkeit dieses Sarges gebunden sein. Wie blendendes Licht kam der Gedanke über sie: er lebt! er lebt! – Ja – kommen denn die Toten wieder? – war er nur scheintot gewesen? Gibt es so etwas nicht nur in Märchen und Sagen? – Und wie sie so schwankte und zagte zwischen Grauen und Seligkeit, erklang die Stimme zum zweiten Male – drängend – flehend:

»Um Jesu willen – wenn jemand da ist – antwortet!«

Da kauerte sich Anna zusammen, legte ihren Mund dicht an den schmalen Riß, da, wo der Deckel auflag, und erwiderte, alle Kraft zusammennehmend und die Hände krampfhaft faltend, als müsse sie höllische Truggeister durch dies Kreuzeszeichen bannen:

»Ich bin es – Anna Steinhofer.«

»Anna – Anna!« – es verhallte und erstarb wie ein in Tränen erstickendes Jauchzen.

Und nun blieb es still – schaurig – feierlich still. Nur Annas Herz schlug wild und weh, und das eigene Blut rauschte ihr in den Ohren.

»Anna – kannst du mir helfen?«

Sie sprang auf, aber sie mußte sich halten, um nicht gleich wieder umzusinken.

»Ja,« sagte sie laut, »ich werde laufen und Leute holen.«

Sie wollte fort; ihre eigene Stimme, die dumpf und laut von den kahlen Wänden widerhallte, machte ihr angst.

Da hörte sie – schon im Gehen – abermals ihren Namen rufen. Sie kam zurück und legte das Ohr auf den Sarg.

»Kannst du es nicht allein – Anna?«

Sie tastete mit ihren kalten, zitternden Händen an dem Holz entlang, sie zog und schob und hob und drückte in gedankenloser Hast; sie versuchte mit den bloßen, weichen Fingern die harten Schrauben zu drehen.

»Es geht nicht,« sagte sie und wollte fort.

»Anna – Anna!« – da blieb sie wieder stehen – ratlos und jammervoll.

»Ich kann es doch nicht allein!«

»Geh nicht fort – es ist so schrecklich hier – und wenn man mir aufmacht, so will ich dich sehen, dich und niemand anders. Sonst will ich lieber ganz hier liegen bleiben und – verhungern,«

Anna stand still in verzweiflungsvoller Unschlüssigkeit. Sie wagte nicht, seinem Wunsch zuwider zu handeln, und wußte doch, daß es sein Tod sein müsse, wenn sie ihm nachgäbe.

Ach ja, auch sie wollte ja viel, viel lieber allein bei ihm sein, wenn der schreckliche schwarze Deckel fiel, der ihn vom Leben trennte, aber es ging doch nicht; weil dieser Platz einer andern gebührte, weil sie den Deckel nicht allein heben konnte.

Noch einmal beugte sie sich nieder, legte die Lippen dicht an das Holz und sprach:

»Ich laufe so schnell ich kann und bin bald wieder hier.«

Dann sprang sie auf und eilte fort, ohne eine Antwort abzuwarten. – In rasendem Lauf flog sie den gefegten Pfad entlang, zum Schloß hinauf. Sie rannte und rannte, in dem Bewußtsein, daß sie umsinken würde, wenn sie stehen bliebe. Sie dachte gar nichts; das fürchterliche Grauen krallte ihr noch am Herzen, aber es löste sich in wilde, gedankenlose Freude. Von allem, was je gewesen und je sein würde, wußte sie nur das eine: Karl Friedrich lebt und ich muß ihn retten. Keuchend, erhitzt, kaum fähig zu atmen oder zu sprechen vor Herzklopfen und zitterndem Pulsschlag, eilte sie durch das offene Tor und stand nun vor der verriegelten Tür.

Sie setzte den Klopfer in Bewegung, daß es dröhnend in den gewölbten Gängen des schlafenden Hauses widerhallte, und half zum Überfluß mit ihren armen kleinen Fäusten nach. Ein Fenster neben der Tür öffnete sich und eine verschlafene, ärgerliche Stimme fragte, was los sei.

»Schnell aufmachen,« stieß Anna in drängender Hast hervor, »ich muß die Fürstin sprechen!«

»Jetzt mitten in der Nacht? Seid Ihr verrückt? Was gibt's denn? Wozu der Lärm? Wer seid Ihr?« »Ich bin Anna Steinhofer, und ich befehle Euch, sofort zu öffnen.«

Der Kopf verschwand im Fenster; eine Tür ging, schlürfende Schritte nahten. Das Schloß knarrte; ein Mann mit einem trüb flackernden Wachslicht – es hatte beim Begräbnis gebrannt – öffnete. Im selben Augenblick ertönte eine schrille Klingel durch das Haus.

»Das ist die Fürstin!« murrte der Diener; »sie ist von dem Lärm erwacht.«

Anna riß dem Mann das Licht aus der Hand und stürzte vorwärts. Das zitternde Flämmchen verlöschte. Sie warf das Licht weg und stürzte im Dunkeln weiter, sie kannte ja jeden Winkel, jede Stufe in diesen Gängen. Durch die hohen vergitterten Fenster fiel zudem das kalte Mondlicht hell an den Wänden entlang und über die Treppen. Oben liefen bereits ein paar Mägde wie aufgescheuchte Vögel ängstlich durcheinander. Bei Annas Anblick blieben sie betroffen stehen. Anna stürzte an ihnen vorüber, der wohlbekannten Türe zu – der einzigen in diesem Hause, die sich ihr noch nie geöffnet hatte. Rücksichtslos riß sie sie auf. Hinter der schweren roten Bettgardine schimmerte ein Licht und Griseldis' Stimme fragte halb ängstlich, halb zürnend:

»Was ist denn das für ein Lärm mitten in der Nacht?«

Sie saß halb aufgerichtet im Bett; jetzt riß sie die verschlafenen Augen weit auf und prallte zurück, als sähe sie ein Gespenst. Anna stand vor ihr, schwarz verhüllt, mit schneeweißem Gesicht, in denen die sanften Augen unheimlich brannten.

»Um Gottes willen, schnell, komm, rette ihn – er ist nicht tot, ihr habt ihn lebendig begraben!«

Ihre Brust flog, ihre Stimme schwankte, sie rang die Hände. Griseldis sah sie verständnislos an – es überrieselte sie kalt.

»Ich weiß nicht – bist du von Sinnen – oder erlaubst du dir einen schlechten Spaß?« sagte sie eisig.

Da faßte Anna sie an den Schultern und schüttelte sie wie jemanden, den man aus dem Schlafe wecken muß.

»Frage doch nicht! komm doch! wie kannst du von Spaß reden! Hörst du nicht, er lebt! er lebt; aber du mußt ihm aufmachen, sonst erstickt er in dem entsetzlichen Gefängnis!«

Mit einem gewaltsamen Ruck befreite sich Griseldis von den Händen, die sie krampfhaft umklammerten, und richtete sich vollends auf. Sie betrachtete das vor Erregung halb sinnlose Geschöpf mit ihren kalten Augen, in denen es plötzlich boshaft funkelte, und sagte scharf:

»Wenn es wahr ist, was du sagst – woher weißt du es denn?«

»Weil ich in der Gruft war,« rief sie schnell, »weil ich ihn habe rufen hören, weil –« sie verstummte vor dem Blick, der sich in sie bohrte.

»Und was wolltest du denn in der Gruft – mitten in der Nacht? Du wußtest es doch nicht schon vorher, daß er dich brauchen würde?«

Anna hätte vielleicht die Fassung verloren angesichts dieser Frage, wenn nicht Aufregung, Ungeduld und Empörung alles andere Empfinden momentan verdrängt hätte. Verachtung und düstere Entschlossenheit gaben ihren Zügen plötzlich eine unheimliche Starrheit,

»Wenn du nicht augenblicklich aufstehst und kommst, so gehe ich allein,« sagte sie und tat einen halben Schritt.

Da sprang Griseldis mit beiden Füßen zugleich aus dem Bett; das wollte sie ihr denn doch nicht gönnen.

»Zieh dich an,« sagte Anna mit düster befehlender Stimme; »ich besorge unterdessen, was nötig ist. Aber eile dich, ich warte nicht.« Stolz und schnell verließ sie das Gemach.

Griseldis legte mechanisch ein Kleidungsstück nach dem andern an. Sie wußte immer noch nicht recht, ob sie Anna glauben sollte – ob sie nicht selber träume. Es war doch zu unsinnig – zu unwahrscheinlich. Sie fing an unruhig und erregt zu werden. Sie wollte es immer noch nicht glauben. Anna konnte sich getäuscht haben. Anna was hatte sie in der Gruft zu tun gehabt! Natürlich, sie war verliebt in den Fürsten; sie hatte sich nicht getraut, zu seinem Begräbnis zu kommen. Dafür kam sie heimlich in der Nacht – wie eine Diebin. Ob er gemerkt hatte, daß sie bei ihm gewesen war? Hatten sie zusammen gesprochen? Was mußte er von ihrem Dasein denken! Mußte er nicht einsehen, weshalb sie gekommen war? Und was würde das für Folgen haben! Rührung – Dankbarkeit – und wohin das dann führt, weiß man. O, diese Anna! überall stand sie ihr im Wege, aber sie durfte nicht wiederkommen; Karl Friedrich durfte sie nicht mehr sehen, dafür wollte sie sorgen. Lieber Gott, sie dachte so weit, und noch lag er ja im Sarge. Nein, nein, sie konnte es noch nicht glauben, daß das Schicksal sie so gräßlich verhöhnt haben sollte. Sie hatte seinen Tod wie eine Befreiung empfunden, wie eine Erlösung aus jahrelanger Sklaverei, wie das Ende eines aufreibenden Kampfes um die Herrschaft. Auf ihrer Seite kalter Hochmut und schweigender Trotz – auf seiner Seite glühende Leidenschaftlichkeit, die sich gegen sie gekehrt hatte. Keiner hatte nachgeben wollen, sie hatten sich das Leben zur Hölle gemacht. Nun war der Kampf entschieden zu ihren Gunsten. Sie hatte den Reichtum, die Freiheit, die Herrschsucht behalten, ohne den Mann, der sie meistern wollte. Es hätte ein bequemes, angenehmes Leben werden können. Sie hatte sich so schnell und so völlig in die Wandlung hineingefunden, daß es ihr unmöglich schien, zu dem alten Zustande zurückzukehren. Nein, sie wollte es nicht glauben – sie hätte seine rätselhafte Rückkehr verwünschen müssen, und sie scheute sich doch noch vor dem Verbrechen, das in solchen Empfindungen lag.

»Bist du fertig?« fragte Anna zur Tür herein.

»Ja!« rief sie zurück, obgleich es nicht wahr war. Aber sie wollte Anna um keinen Preis allein gehen lassen. Obgleich sie selbst ihren Mann nicht liebte, wollte sie doch keiner andern erlauben, ihn zu lieben. Sie war wild eifersüchtig auf den Mann, dem sie das Leben nicht gönnte. Sie warf einen Mantel über ihren unvollendeten Anzug und eilte hinunter. Unten standen die Leute des Hauses in zitterndem Grauen an den Wänden entlang. Zwei Männer mit einem Tragbett verließen eben das Haus. Anna folgte mit einer brennenden Laterne. Als sie Griseldis' Schritte hörte, wartete sie; dann sagte sie über die Schultern zurück zu den anderen:

»Ihr bleibt alle hier und erwartet uns; macht das Bett zurecht und sorgt für warme Wäsche.«

Griseldis empörte sich, daß Anna hier schaltete wie eine Hausfrau und ihr nichts zu tun übrig ließ. Sie gestand sich nicht ein, daß sie noch mit keinem Gedanken an irgend etwas Derartiges gedacht hatte, »Wozu die Laterne – es ist hell genug!« fuhr sie Anna an, um nur etwas anzuordnen, und wollte sie ihr aus der Hand reißen. Aber Anna hielt sie fest und antwortete ruhig:

»In der Gruft ist es dunkel.« Grimmig wandte sich Griseldis ab und eilte den Trägern nach, ohne das Mädchen noch eines Blickes zu würdigen. – In unheimlichem Schweigen legten sie den kurzen Weg zurück. Annas Seelenspannung hatte einen Grad gänzlicher Fühllosigkeit erreicht; sie konnte nur noch mechanisch handeln.

Vor der offenen Tür der Grabkapelle standen die Männer unschlüssig still. Auch Griseldis hemmte zagend den Schritt. Da ging Anna, die bisher immer eine Spanne hinter ihr zurückgeblieben war, an ihr vorbei hinein, bis dicht an Karl Friedrichs Sarg und sagte mit lauter, fester Stimme:

»Wir sind hier, und nun machen wir auf.« Dann trat sie zur Seite in den Schatten. Griseldis sah sich gezwungen, nun ihrerseits zu handeln. Sie gab den Männern Anweisungen. Die machten sich an die Arbeit. Die Werkzeuge hämmerten und knarrten mit schauerlich widerhallendem Ton. Keiner sprach ein Wort dabei. Endlich legten die Männer das Handwerkzeug fort und sahen die Fürstin fragend an. Mit einem Neigen des Hauptes gab sie ihnen Antwort. Lautlos verständigten sich die beiden, packten den schweren Deckel und hoben ihn gleichzeitig empor. Langsam ließen sie ihn auf der andern Seite zu Boden gleiten und lehnten ihn an die Wand. Dann standen sie still und wagten nicht hinzusehen. Sie sahen sich auch nicht um, als drüben ein schwerer Fall erfolgte. Sie wähnten sich von lauter Gespenstern umgeben. Aber es war nur Anna Steinhofer, die ohnmächtig zusammengesunken war.


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