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»Dänemarks liebliche Gaue,
Umsäumt vom schimmernden Meer …«
Ich habe lange in den paradiesisch-schönen, meerumsäumten dänischen Gauen geweilt – im ganzen sechsundzwanzig Jahre. Und ich muß es gestehen: sowohl Land als Leute sind mir ungemein teuer geworden. Das Land, weil es so ausnehmend schön und lieblich ist, und das Volk erst recht, weil es so freundlich und fröhlich, so lebhaft und geweckt, so höflich, gebildet und dabei doch so einfach und bescheiden ist und noch dazu – ein so goldig-gutes Herz hat.
Ich erinnere mich noch lebhaft, wie ich den ersten Eindruck von den Vorzügen Dänemarks empfing.
Es war auf Island, meiner teuern Heimatinsel. Ich war damals noch ganz klein, zwischen neun und zehn Jahre alt.
Ich weilte für eine Zeit auf einem großen Hofe im Innern des Landes, bei einer Familie, die zum Freundeskreise meiner Eltern gehörte.
Es wurde dort viel gelesen, viel geschrieben, viel gedichtet und überhaupt allerlei getrieben, was zu einem regen geistigen Leben gehört.
Eines Abends nun saß ich mit den Leuten in der großen Wohnstube des Hofes, von den Isländern »Badstofa« genannt. Ein Mann mit einem Buche in der Hand und einem andern auf dem Schoße saß an einer Holzsäule, wo eine kleine äußerst primitive Öllampe hing. Es war dies der Platz, von wo aus an den Winterabenden den wißbegierigen Bewohnern des Hofes vorgelesen zu werden pflegte. Die Leute saßen rund herum im Halbdunkel auf Stühlen und Bänken und Betten und waren mit Spinnen, Stricken, Nähen, Holzschnitzen, Kunstweben und allerhand ähnlichen Handarbeiten beschäftigt.
Ich war lauter Aufmerksamkeit und Spannung, denn der Mann las eben etwas aus der Edda und einem uralten isländischen Sagabuch vor. – Es war dort von Dänemark die Rede, und das Land wurde als »Freias Wohnung« bezeichnet.
Die Göttin Freia kannte ich gut. Ich hatte einmal gehört, daß nach ihr in der ganzen germanischen Welt der Freitag (Freias Tag) benannt wird. Aber daß sie in Dänemark wohnen sollte, davon hatte ich noch nie etwas gehört.
»Warum hat denn Freia sich gerade Dänemark als Wohnung gewählt?« fragte ich einen sehr begabten Hirtenknaben, der neben mir saß und ein großer Freund von mir war.
»Weißt du denn das nicht?« antwortete er. »Freia ist die Göttin der Schönheit, der Liebe und der Fruchtbarkeit. Deshalb mußte sie in Dänemark wohnen. Das Land ist nämlich so schön und so fruchtbar, und die Menschen dort sind so gut und so liebenswürdig.«
»Ist denn Dänemark schöner als Island?« fragte ich weiter.
»So gewaltig wie Island ist es nicht. Es hat keine Berge, keine Täler, keine großen Flüsse, keine Wasserfälle wie Island. Aber es hat riesengroße und schöne Buchenwälder, reiche, fruchtbare Ebenen, herrliche Frucht- und Blumengärten, ein mildes, angenehmes Klima und ist überhaupt viel lieblicher als unser Land.«
Dieser erste Eindruck, den ich von Dänemark und den Dänen bekam, brannte sich tief in meine Seele hinein, und mein Entschluß stand sofort fest: »Wenn ich einmal groß bin, dann werde ich Dänemark, die herrliche Wohnung der Freia, besuchen.«
Doch so lange sollte es nicht dauern bis zur Verwirklichung meines Wunsches, denn – merkwürdige Fügung! – kaum waren zwei Jahre vergangen – ich war eben zwölf Jahre alt geworden und wohnte nun wieder bei meiner Mutter in der reizend schönen Stadt Akureyri auf Nord-Island – da kam eines Tages, plötzlich wie ein Blitz aus heiterem Himmel, eine wunderbare Überraschung: ich sollte nach nur einigen Wochen auf einem kleinen dänischen Segelschiff den gewaltigen Atlantischen Ozean durchqueren, um nach dem Lande meiner Sehnsucht, dem lieblichen Dänemark, zu reisen! …
Freilich sollte ich dort nicht lange bleiben, sondern noch viel weiter fahren – weit, weit in die große, herrliche Welt hinaus – ja bis nach Avignon, ganz nahe an den sonnigen Gestaden des Mittelländischen Meeres! …
Man kann sich meine Ergriffenheit denken. Ich war kaum imstande, ein solches Glück zu fassen, und fiel wie in eine dauernde Verzückung.
Die kühnsten Träume meiner Kindheit sollten jetzt mit einem Male in Erfüllung gehen – und zwar weit über alle meine Erwartungen hinaus.
Doch zunächst dachte ich nur an Dänemark.
Da ich nach so kurzer Zeit dorthin reisen sollte, sehnte ich mich danach, noch etwas mehr über die Dänen und ihr Land zu erfahren.
Ich suchte daher jede Gelegenheit auf, überall, wo ich nur konnte, mich über Dänemark zu erkundigen. Ich versuchte, mit einigen der wenigen Dänen, die sich eben zu dieser Zeit in dem Städtchen aufhielten, zusammenzukommen, um sie mir etwas näher anzusehen und um ihren Charakter und ihr Wesen zu studieren.
Eines Tages hatte ich hierin besonderes Glück.
Ich hatte mich eben, da draußen das schönste Sommerwetter war, ans Meeresufer ganz nahe an unserem Hause begeben und betrachtete dort die großen ruhigen Wellen, die ununterbrochen an den Strand schlugen, um dort allesamt eines jähen Todes zu sterben, und die verschiedenartigen Wasservögel, die sowohl in den Lüften als auf den Wellen ihr frisches, fröhliches Spiel trieben.
Da auf einmal kommt ein kleiner Junge zu mir hergelaufen. Ich kannte ihn gut; er gehörte einer angesehenen Familie der Stadt an.
»Nonni«, rief er mir zu, »du sollst sofort zu einem Fest bei dem Amtmann Hafstein kommen; es sind sechs Knaben und sechs Mädchen eingeladen. Wir beide gehören dazu. Wir sollen dort Schokolade trinken.«
»Aber was ist das für ein Fest?« fragte ich.
»Es gilt, den Geburtstag der zwei kleinen Kopenhagener zu feiern, die seit einigen Tagen beim Amtmann als Gäste wohnen.«
Hocherfreut über diese feine Einladung und über das Glück, zwei kleine Dänen aus Kopenhagen sehen und sprechen zu dürfen, lief ich schnell nach Hause, um mich in Ordnung zu bringen. Der kleine Bote kam mit.
Meine Mutter wußte schon Bescheid und erlaubte mir gern, die Einladung anzunehmen.
Als ich mich gewaschen und meine Kleider gereinigt hatte, gingen wir zum Amtmann. Sein Haus war das schönste und größte in der ganzen Stadt. – Wir traten hinein. Die jungen Eingeladenen waren schon fast alle zur Stelle. Es war eine überaus frische und lustige Kindergesellschaft. – Die kleinen Dänen bildeten den Mittelpunkt der ganzen Versammlung. Es waren ein elfjähriger Junge und seine um ein Jahr ältere Schwester, beide Kinder eines sehr reichen Kaufmanns aus Kopenhagen, der auf seinem eigenen Schiffe mit ihnen den langen Weg von Dänemark nach Island gekommen war.
Wir wurden alle den jungen Fremden vorgestellt und suchten mit ihnen einige Worte in ihrer Sprache zu wechseln. Es ging aber schwer. Sie konnten kein Wort isländisch und wir nur wenig dänisch. Es gelang mir doch, in mangelhaftem Dänisch ihnen mitzuteilen, daß ich bald zum ersten Male nach ihrer Vaterstadt Kopenhagen reisen sollte.
Das interessierte sie lebhaft. Sie kamen gleich auf mich zu, nahmen mich in ihre Mitte und erzählten mir allerlei von der großen Stadt, die sie aus und ein kannten. Leider hatte ich Mühe, alles zu verstehen, denn sie sprachen sehr schnell, wie es alle Dänen tun. Ihre Freundlichkeit aber und ihre feinen Manieren gefielen mir außerordentlich gut. Ja sie waren so liebenswürdig, daß ich es gar nicht beschreiben kann. – Von unserem Geplauder habe ich noch Folgendes behalten können:
Der kleine Knabe sagte:
»Aber du mußt uns unbedingt besuchen, wenn du nach Kopenhagen kommst.«
»Das werde ich sicher tun«, antwortete ich. »Aber wie kann ich euch dort finden?«
»O, das ist ganz leicht. Wir wohnen in der Kvästhusstraße. Jedermann kennt dort unsern Namen.«
»Und wir werden dich mitnehmen ins Theater, wenn ein Kinderstück aufgeführt wird«, sagte das kleine Mädchen.
»Und in den Lustgarten ›Tivoli‹, wo es so vieles zu sehen gibt«, fügte der Knabe hinzu.
»Und auch auf einen Kinderball«, fuhr das kleine Mädchen fort. »Du kannst doch tanzen?«
»Ja, aber nur Polka. Hier haben wir nur ganz selten einen Kinderball. Ich habe nur Polka gelernt.«
»O, das ist aber auch genug. Dann wirst du mit mir Polka tanzen.«
Wie sie aber sprechen und plaudern konnten, diese dänischen Kinder! Und wie sie fröhlich waren! Und wie sie sich fein und nett benahmen! Ich war erstaunt und mußte zugestehen, daß sie in jeder Beziehung viel feiner und geschliffener waren als wir. Ich schaute zu ihnen hinauf mit der größten Verehrung, wie zu Wesen aus einer andern Welt.
»Aber wie heißt ihr?« fragte ich sie jetzt.
»Ich heiße Dagmar«, antwortete das kleine Mädchen.
»Und ich Eskil«, sagte der Knabe.
»Und wie heißt du?« fragten sie mich dann.
»Ich heiße Jón Svensson. Und mein Kindername ist Nonni.«
»Nonni! Den Namen wollen wir uns merken. Der klingt schöner und ist leichter zu behalten als der andere.«
»Aber Kinder!« rief jetzt plötzlich Amtmann Hafstein der Kinderschar zu, »wollt ihr nicht irgend etwas spielen, bevor ihr ins Speisezimmer geht?«
»Gewiß, gewiß!« tönte es von allen Seiten zurück.
Die kleinen Dänen machten ein paar Schritte rückwärts und warteten bescheiden, daß wir irgend ein Spiel anfingen.
Doch wir schauten uns unschlüssig an, und keiner wagte, etwas vorzuschlagen. Die feinen kleinen Dänen, dachten wir, kennen sicher unsere isländischen Spiele nicht.
Es entstand eine kurze Verlegenheitspause.
Da schlug der Amtmann vor:
»Aber Eskil und Dagmar, ihr kennt so viele hübsche dänische Kinderspiele. Fangt doch irgend etwas an. Die andern werden schon mittun.«
Da hätte man aber die Geschicklichkeit und Überlegenheit der kleinen Dänen sehen sollen! Sie erklärten sich sofort bereit und waren nun lauter Beweglichkeit und Leben.
Leicht und rasch wie Schmetterlinge liefen sie hin und her, stellten uns in Reihen und Kreise auf, gaben jedem seinen Platz, und nun wurden Reigen aufgeführt, alles unter ihrer Leitung. Es wurde fröhlich gesungen, gelacht und getanzt, bis unsere Wangen glühten.
Dann wurden wir ins Speisezimmer geführt, wo wir auf das beste bewirtet wurden und wo unter der mütterlichen Anleitung der Frau Amtmannin sogar ein paar kleine, kindliche Tischreden in gutem Isländisch und schwachem Dänisch zu Ehren der fremden Gäste gehalten wurden. Diese antworteten und dankten auf die ungezwungenste und liebenswürdigste Weise. Sie sagten unter anderem: am liebsten würden sie uns alle auf ihrem Schiffe nach Kopenhagen mitnehmen.
Wie verstanden sie es doch, durch ihre echt dänische Freundlichkeit alle Herzen für sich zu gewinnen!
Als wir noch lange zusammen gelacht und geplaudert hatten, mußten wir Abschied nehmen.
»Auf Wiedersehen in Kopenhagen, Nonni!« sagten die beiden dänischen Kinder zu mir, als ich ihnen meine Hand reichte.
»Auf baldiges Wiedersehen!« antwortete ich.
Dann gingen wir alle nach Hause.
Ich war entzückt über die Bekanntschaft, die ich da gemacht hatte, und die Dänen stiegen immer höher in meiner Achtung.
Als ich nach Hause kam, erzählte ich meiner Mutter, wie ausnehmend gut die dänischen Kinder mir gefallen hatten.
»Das will ich schon glauben«, sagte sie mit einem freundlichen Lächeln. »Die dänische Liebenswürdigkeit ist überall bekannt.«
»Aber glaubst du, Mutter, daß alle dänischen Kinder so liebenswürdig sind wie diese?«
Die Mutter lachte über meine Frage und antwortete: »Die meisten von ihnen werden wohl so sein. Was aber diese Kinder angeht, so muß man bedenken, daß sie eben Großstadtkinder sind und aus vornehmer Familie.«
Beim kleinen Feste im Hause des Amtmanns hatte ich mich aus eigener Erfahrung von der Liebenswürdigkeit des dänischen Charakters überzeugen können. Jetzt kam mir aber der Gedanke: Ob die Dänen auch energisch, männlich und tapfer sind? – Die herrlichen isländischen Sagas waren meine Lieblingslektüre. Dort aber spielen Starkmut und Männlichkeit eine gewaltig große Rolle. – Ich lief zu meiner Mutter. – »Mutter«, fragte ich, »sind wohl die Dänen auch ebenso mutig, wie sie liebenswürdig sind?«
Die Mutter lachte und erwiderte:
»Aber, mein kleiner Nonni, du scheinst nur mehr Dänen in deinem Kopfe zu haben. – Doch ich begreife das schon, da du ja bald nach Dänemark reisen sollst«, fügte sie in einem etwas ernsteren Tone bei. »Nun, was deine Frage angeht, so kann ich dir sagen, daß die Dänen nicht nur liebenswürdig, sondern auch ganz hervorragend tüchtige, mutige und tapfere Menschen sind.«
Ich machte große Augen. Die Mutter fuhr fort:
»Hast du nicht gehört, wie sie sich vor sechs Jahren bei Düppel gegen die Preußen verteidigt haben? Da kämpften sie auf den Düppeler Schanzen in einem furchtbaren Handgemenge und wichen nicht eher, als bis 5200 der Ihrigen gefallen waren. Selbst die Preußen rühmten die Tapferkeit der Dänen bei dieser Gelegenheit.«
Einige Tage später sollte ich etwas erleben, wodurch mir die Starkmut und die Männlichkeit eines Dänen auf die erschütterndste Weise vor die Augen geführt werden sollten. Ich will das tragische Erlebnis hier kurz erzählen:
Ich wurde eines Morgens von meiner Mutter mit einer dringenden Botschaft auf einen Hof geschickt, der hoch oben in den Bergen lag. Ich sattelte mein Reitpferd Grani, rief mein Hündchen Fidel, das auf allen meinen Reisen mein treuer Gefährte war, herbei und ritt eiligst davon.
Kaum war ich aber eine kleine Strecke aus der Stadt hinausgeritten, da fängt auf einmal der Hund wütend zu bellen an. Auch das Pferd spitzte die Ohren. Ich spähte nach vorn und entdeckte bald hinter einer kleinen Böschung einige fremde Gestalten. Ich erkannte sie gleich. Es waren dänische Matrosen vom großen Kopenhagens! Schiff »Hertha«, das eben auf der Reede gegenüber dem Städtchen lag. Sie hatten Landgang erhalten und gingen hier spazieren.
Ich wollte ihnen in einem Bogen ausweichen, aber es war zu spät. Sie fielen alle über mich her, umringten mich, ergriffen die Zügel meines Pferdes und hielten es fest. – Fidel bellte aus Leibeskräften die Fremden an.
»Herunter, du kleiner Isländer!« riefen die Leute. »Wir wollen dein Pferdchen ein wenig probieren, ob es auch schnell laufen kann.«
»Nein, nein!« rief ich, »ich kann nicht, ich darf nicht. Ich habe Eile. Ich muß voran.«
Und ich versuchte mich loszureißen und das Pferd voranzutreiben.
Da hatte ich aber ohne die Leidenschaft der Matrosen gerechnet. Diese Leute, die sonst immer auf dem Wasser leben, sind bei uns leidenschaftlich darauf erpicht, sobald sie ans Land kommen, sich, wo sie nur können, unsere kleinen Ponys zu verschaffen, um Vergnügungsritte zu machen. Jetzt war eben eine gute Gelegenheit da. Ich war ihnen in die Hände gefallen, und sie waren nicht gesonnen, mich so ohne weiteres wieder entschlüpfen zu lassen.
Einer von ihnen faßte mich schon mit kräftigen Armen um den Leib und wollte mich vom Pferde herunterziehen. Ich wehrte mich, so gut ich konnte, und schlug sogar um mich mit dem Schafte meiner Reitpeitsche. – Der Mann ließ mich los, aber nur für einen Augenblick. Mein Widerstand hakte ihn gereizt, und mit ein paar andern seiner Kameraden machte er Miene, mich diesmal etwas kräftiger anzupacken.
»Ihr kennt das Pferd nicht«, schrie ich den Angreifern zu, »es wird sich von euch losreißen und davonlaufen, und dann kann ich nicht weiter … Laßt mich doch los – ich darf mich nicht aufhalten …«
Meine Lage fing an, gefährlich zu werden, und die Dänen schienen mir hier nicht so liebenswürdig wie sonst zu sein.
Da auf einmal trat einer der Leute an mich heran. Es war ein riesengroßer Mensch mit gewaltigem blonden Vollbart. Er schob mit einem kräftigen Stoß seine hitzigen Landsleute von mir weg und sagte:
»Nein, so soll es nicht weitergehen. Der Junge hat Eile, wir wollen ihn weiterziehen lassen.«
Dann wandte er sich an mich und redete mich sanft an:
»Du kannst uns wohl dein Pferd nicht gut leihen, mein kleiner Freund?«
» Ihnen wollte ich es gern leihen. Doch diesmal kann ich es leider nicht. Ich darf keine Zeit verlieren.«
»Dann ist's gut. Reite nur voran. Du sollst von uns nichts zu fürchten haben.«
»Ich danke Ihnen herzlich«, sagte ich zu meinem freundlichen Befreier und sprengte davon.
Fidel stieß ein Freudengeheul aus. Dann lief er neben mir her, versäumte es aber nicht, einige Male noch den Kopf umzudrehen und ein zorniges Bellen in die Richtung der Matrosen zurückzuschleudern.
Die Freundlichkeit des großen dänischen Matrosen mit dem blonden Vollbart konnte ich nicht mehr vergessen. »Wenn ich ihm noch einmal begegne«, sagte ich zu mir selbst, »dann biete ich ihm sogleich mein Pferd an.« –
Ich führte meinen Auftrag aus und kehrte bald wieder nach Hause.
Auf dem Heimweg begegnete ich den Matrosen nicht mehr. Sie waren schon alle wieder auf ihr Schiff, die »Hertha«, zurückgekehrt.
Sobald ich meiner Mutter Rechenschaft abgelegt und mein Pferd wieder auf die Weide geführt hatte, lief ich zum Meeresstrand hinunter, wo eine Menge meiner kleinen Kameraden auf dem reinen, trockenen Sande am Spielen waren.
Es war sonniges, lauwarmes Sommerwetter, und der glatte Meeresspiegel glänzte im Sonnenschein wie Silber und Gold.
Auf einmal hörten wir von den Schiffen her, die auf der weiten Reede vor Anker lagen, ein starkes, dumpfes Geräusch, gefolgt von lautem, durchdringendem Geschrei …
Sofort hörten wir mit unserem Spiel auf und blickten angstvoll nach den Schiffen.
»Wo ist es gewesen?« riefen einige.
Ein Junge zeigte mit der Hand nach der »Hertha« und rief:
»Schaut doch, die Matrosen laufen ganz wirr durcheinander auf dem Deck herum.«
Aller Augen waren auf die »Hertha« gerichtet.
Man war dort kurz vorher mit dem Ausladen großer Weinfässer beschäftigt gewesen. Die schweren, vollen Fässer wurden mit starken Eisenketten aus dem Lastraum in die Höhe gehoben und dann in die Boote draußen an der Schiffswand heruntergelassen.
Ein Knabe rief:
»Ein Faß muß wohl von oben her auf das Deck hinuntergefallen sein.«
»O Gott«, riefen einige, »dann ist aber gewiß ein Mann dabei zu Schaden gekommen!«
Nur zu bald sollten wir mit eigenen Augen sehen, daß diese Vermutung richtig war.
Ein Mann – offenbar ein Verunglückter – wurde nach einiger Zeit vorsichtig an der Schiffswand hinuntergelassen, um gleich darauf von einigen Matrosen ans Land gerudert zu werden.
Wir liefen alle zur Landungsstelle hin und sahen nun, als das Boot die Landungsbrücke erreichte, daß sechs dänische Matrosen einen Verwundeten ans Land brachten.
Der Verunglückte lag unbeweglich auf einer Strohmatratze mitten im Kahn unter einer großen wollenen Decke. Seine Kameraden banden das Boot an die Brücke fest und stiegen aus. Der isländische Sýslumadur, einer der höheren Beamten der kleinen Stadt, war schon zur Stelle.
Ich drängte mich näher heran, um hören zu können, was gesprochen wurde.
»Was ist mit dem Manne geschehen?« fragte der Beamte.
»Ein Weinfaß ist auf ihn heruntergefallen und hat ihm den ganzen Unterkörper zerquetscht«, antwortete einer der Matrosen.
»Schade, daß wir augenblicklich keinen Arzt hier im Orte haben. Doch es ist eine Hebamme da, die sich etwas auf Heilkunde versteht. Der Verwundete muß sofort zu ihr gebracht werden.«
Nun wurde der Mann aus dem Boot gehoben. Als er auf die Landungsbrücke niedergelegt wurde, kam sein Gesicht zum Vorschein.
Ich stieß einen lauten Schrei aus … Ich hatte nämlich in ihm sofort den freundlichen, großen Dänen mit dem blonden Vollbart erkannt, der mich einige Stunden vorher aus den Händen seiner Kameraden befreit hatte.
Ich wurde so bestürzt, daß ich gleich nach Hause lief und meiner Mutter alles erzählte. Auch sie wurde sehr ergriffen und sagte, ich solle ohne Verzug nach dem Hause der Hebamme gehen und, nachdem der Mann verbunden worden sei, fragen, wie es mit ihm stehe.
Ich lief hin und wartete draußen, bis die Matrosen das Haus verließen, um wieder an Bord zu gehen. Sie sahen alle sehr ernst und niedergeschlagen aus und sprachen nur ganz leise miteinander.
»Wie geht es ihm?« fragte ich sie.
»Schlecht!« war die einzige Antwort.
Ich ging ins Haus hinein und wurde freundlich von der Hebamme, die ich gut kannte, empfangen.
»Ist es wahr, daß es dem armen Manne schlecht geht?« fragte ich sie.
»Ja, leider, mein kleiner Nonni; er wird nicht leben können. Der ganze Unterkörper ist vollständig zerquetscht. Er ist schrecklich zugerichtet. Hier würde auch der beste Arzt nichts ausrichten können.«
Es traten mir Tränen in die Augen.
»Er ist noch bei Besinnung«, sagte sie, »und benimmt sich gefaßt und mutig wie ein Held. Willst du zu ihm hineingehen, Nonni?«
»Ja, sehr gerne«, erwiderte ich.
Sie führte mich hinein. Der Mann lag in einem kleinen Zimmer auf einem guten Lager. Er war mit einem großen Federbett aus sehr leichten, echten isländischen Eiderdaunen zugedeckt. Nur der Kopf war sichtbar.
Ich näherte mich dem Bette. Der Schwerverletzte schaute mich an und schien mich zu erkennen. Er mußte furchtbare Schmerzen ausstehen. Er atmete kurz und schnell und preßte die Lippen zusammen. Ich kam ganz nah an sein Gesicht und flüsterte ihm zu:
»Kennen Sie mich?«
»Ja, mein kleiner Freund.«
»O wie tut es mir leid, daß Sie so verletzt sind!«
»Gott hat es so gewollt. Wir dürfen nicht Klagen«, antwortete der starke Mann und biß sich vor Schmerz auf die Lippen.
»Ich will Gott bitten, daß Sie wieder gesund werden.«
»Ich danke dir, kleiner Freund. Gottes Wille muß aber geschehen.«
»Sie haben wohl große Schmerzen?«
»Nicht mehr, als zu erwarten ist«, antwortete er mit großer Anstrengung.
Da ich nicht recht wußte, was ich weiter tun oder sagen sollte und auch befürchtete, ihn zu ermüden, strich ich ihm mit der Hand ganz sanft über seine dichten Haare, als Zeichen meiner Teilnahme.
Der Mann schien gerührt zu sein. Er schaute mich ungemein mild und freundlich an und sagte:
»Du bist ein guter Junge. Wie heißt du?«
»Ich heiße Nonni. Und ich möchte so gern etwas für Sie tun, weil Sie mir heute morgen geholfen haben.«
»Das Beste, was du für mich tun kannst, mein lieber Nonni, ist, für mich zu beten.«
»O, das will ich aber auch tun«, erwiderte ich. Und heiße Tränen liefen mir die Wangen herunter.
Jetzt kamen auch ihm, dem großen, starken Manne, Tränen in die Augen, und mit diesmal ganz schwacher Stimme sagte er: »Ich habe auch einen kleinen Jungen in Dänemark. – Er ist in deinem Alter. – Ich fürchte, daß ich – ihn nie mehr –
Er konnte den Sah nicht zu Ende sprechen. Ein so starkes nervöses Zittern ging durch seinen Körper, daß die Bettstelle aus den Fugen zu gehen drohte, und sein Gesichtsausdruck veränderte sich.
Ich erschrak, lief hinaus und rief die Frau des Hauses.
»Ich glaube, er ist im Sterben!« rief ich ihr zu.
Sie kam sofort ins Zimmer hinein.
»Es ist ein Anfall«, sagte sie.
»Kann ich was für ihn tun?« fragte ich.
»O nein, mein Junge. Du bist zu klein, um hier helfen zu können. Doch ich danke dir für deinen guten Willen. Geh jetzt wieder nach Hause.«
Ganz traurig und niedergeschlagen verließ ich den Schwerverwundeten. Ich war voll Bewunderung über die Fassung und den Heldenmut, mit welchem dieser Däne sein furchtbares Los ertrug. Welche Selbstbeherrschung! dachte ich. Nur als er von seinem Jungen sprach, ist der Anfall gekommen …
Ich hielt mein Versprechen und betete viel für ihn.
Am folgenden Tage, sobald ich aufgestanden war, lief ich wieder hin, um ihn zu besuchen. Doch als ich ins Zimmer trat, lag er unbeweglich da mit geschlossenem Mund und geschlossenen Augen und atmete immer noch sehr schwer.
Die Frau sagte: »Jetzt wird er dich nicht mehr erkennen, mein kleiner Nonni. Er hat den Starrkrampf bekommen.«
Ich näherte mich ihm, wünschte ihm einen »Guten Tag!« und strich ihm wieder mit der Hand über die Haare. – Ach, diesmal gab er kein Zeichen mehr. Augen und Mund blieben fest geschlossen, und zu meinem Schrecken knirschte er zuweilen sehr stark mit den Zähnen.
»Es ist der Starrkrampf«, sagte die Frau. »Er kann den Mund nicht mehr öffnen.«
Ich blieb nur kurze Zeit bei ihm; denn er hatte die Besinnung vollständig verloren. – Er kam nicht mehr zu sich und starb nach ein paar Tagen.
Als er zu Grabe getragen wurde, schritten viele Dänen, meistens Seeleute von den Schiffen, die auf der Reede lagen, und auch einige Isländer hinter dem Sarge. In wehmütiger Stimmung schloß ich mich dem Zuge an.
Unterwegs fragte mich der Geistliche, an dessen Seite ich einherging, ob ich den Verstorbenen gekannt habe.
Ich erzählte ihm von meiner Begegnung mit ihm und seinen Kameraden auf dem Wege, und wie er mir da geholfen habe. Ich sagte ihm auch, ich hätte ihn auf dem Totenbette besucht, und wie mutig und schön er sich bei seinen schweren Leiden benommen habe.
»Er muß ein guter Mann gewesen sein«, sagte der Geistliche.
Und in seiner Leichenrede am Grabe erwähnte er kurz – doch ohne meinen Namen zu nennen –, was er soeben von mir über den Toten gehört hatte.
Bald nachher reiste ich ab nach dem schönen Lande Eskils und Dagmars und des toten dänischen Matrosen.