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Der schöne Hof Mödruvellir (Labkrautfelder), das reizende Städtchen Akureyri (die Ackerebene) und der prachtvolle Eyjafjördur (der Inselgolf) in Nord-Island waren die Tummelplätze meiner meist sonnigen, zuweilen aber auch ein wenig tragischen Jugenderlebnisse.
Ganz besonders aber sind mir der Eyjafjördur und das Städtchen Akureyri wegen ihrer märchenhaften Schönheit unvergeßlich geblieben.
Stellen wir uns vor, daß wir mitten im Sommer auf einem Dampfer, vom hohen Meere her kommend, der Mündung des Eyjafjördur uns nähern. Denken wir uns, daß das Schiff um die Mittagszeit mitten in den Golf hineinfährt. Der Himmel ist wolkenlos, alles ist im Sonnenschein gebadet. So ist das Wetter gewöhnlich in Nord-Island während des Sommers.
Nun sehen wir uns das Uferland zu beiden Seiten des Golfes an.
Links und rechts erblicken wir zwei langgestreckte Bergketten, die sich gegen Süden an den beiden Seiten des Eyafjördur, soweit das Auge reicht, in die Ferne hinausdehnen.
Hier an der Mündung sind die Berge am weitesten voneinander entfernt, denn hier ist der Golf am breitesten. Der Abstand von Ufer zu Ufer ist ungefähr fünfzehn Kilometer. Je weiter er sich aber in das Land hineinbohrt, desto enger wird er. Ganz am innern Ende ist er nur ein paar Kilometer breit.
Wir dampfen rasch südwärts und haben bald das große freie Meer hinter uns. Wir befinden uns schon zwischen den hohen Bergketten, wie von zwei riesigen Mauern an beiden Seiten umschlossen.
An den Ufern sehen wir stellenweise mächtige Felsenwände, die sich ernst und drohend hoch in die Luft emporheben.
Das großzügige, etwas düstere Bild wird durch eine Menge Meeresvögel belebt, die sowohl um das Schiff herum wie auch an den Felsenwänden hin und her in raschem Flug sich ergehen.
An den saftiggrünen Bergeshalden und Hängen zeigen sich bald verstreute Menschenwohnungen. Es sind Bauernhöfe, die aber vom Schiffe aus wegen der großen Entfernung wie kleine schwarze Pünktchen in der weiten Landschaft sich ausnehmen. Einige sehen aus wie winzig kleine Schwalbennester, welche an die grünen Bergeshänge angeklebt sind. Nur durch das Fernrohr kann man die verschiedenen Gebäude unterscheiden: in der Mitte den eigentlichen Hof, in einem Kreis rund um ihn herum die niedrigen, aber sehr langgestreckten Stallungen, wo während des Winters die zahlreichen Schafe gefüttert werden müssen. Die Kuhställe sind größer und liegen näher beim Hof. Alle Höfe sind umgeben von blühenden, wohlgepflegten Wiesen, den sogenannten »Tún«, wovon das englische Wort town herstammt.
Mit dem Fernrohr entdecken wir auch überall an den Bergen herum bis ganz oben an den Gipfeln eine Menge weißer Schafe, die den ganzen Sommer ohne Hirten noch irgend welche sonstige Aufsicht sich im Innern der großen Insel frei umherbewegen. – Erst im Herbst vor den Schneestürmen werden sie von zahlreichen Reitern mit Hilfe von wohldressierten Schäferhunden eingesammelt, um in den geräumigen Stallungen der Höfe einquartiert zu werden.
Doch je weiter wir vorankommen, desto enger wird der Golf und desto höher werden die Berge zu beiden Seiten. – Jetzt sind wir schon etwa dreißig Kilometer von der Mündung entfernt. Es ist die Hälfte von der Gesamtlänge des Eyjafjördur, denn er mißt sechzig Kilometer von der Mündung bis zum innersten Ende, wo das idyllische Städtchen Akureyri wie eine kleine Perle verborgen liegt.
Da und dort kommen wir an kleinen grünen Landzungen vorbei, auf denen mitten in den blühenden Wiesen Menschenwohnungen stehen.
Große weiße Möwen und flinke kleine Seepapageien umschwärmen schreiend das Schiff. Scharen von wilden Enten schwimmen auf dem Wasser um uns herum, auch die berühmten kleinen Eidergänse sind mitten unter ihnen zu schauen. Große Wildgänse und stolze, schimmernd weiße Schwäne ziehen hoch oben durch die Lüfte. Diese letzten königlichen Gäste aus dem sonnigen Süden bevölkern im Sommer die vielen Seen des innern Island.
Noch höher oben in der Luft zeigen sich zuweilen mächtige nordische Königsadler. Sie schweben still und majestätisch auf ihren weit ausgebreiteten Schwingen und untersuchen mit scharfen Blicken Land und Meer nach Beute.
Auch das Wasser bietet uns hier seltsame Überraschungen: plötzlich taucht ein mächtiger schwarzglänzender Walfisch aus dem Meere heraus. Erstaunt betrachtet er eine Weile unsern Dampfer und verschwindet dann wieder langsam in die Tiefe hinunter.
Jetzt zwängt sich das südwärts eilende Schiff durch den immer enger werdenden Golf, und die landschaftlichen Reize nehmen zu. Ein Deutscher, der die Herrlichkeiten seines Vaterlandes kennt, könnte hier versucht sein, an den Rhein zu denken etwa zwischen Bonn, Koblenz und Rüdesheim. Es sind aber viel mehr Gegensätze als Berührungspunkte da. Dort der weltberühmte Rheinstrom mit den lieblichen waldigen Hügeln an beiden Seiten; hier der viel breitere nordische Golf mit den hohen Bergen links und rechts. Dort ist alles viel lieblicher, hier ist alles großzügiger. Dort die Rheinuferhöhenzüge mit ihren zahllosen kostbaren Weinpflanzungen, hier die mächtigen, aber nackten düsteren Basaltfelsen; dort die reichen blühenden Städte und die einsamen romantischen Burgen und Schlösser aus alter und neuer Zeit, hier die große Wildnis und die von Menschenhand fast unberührte Bergeinsamkeit; dort die vielen großartigen Menschenwerke mitten in einer überaus lieblichen, idyllischen und fruchtbaren Natur, hier die Natur selbst düster und ernst in ihrer einsamen erhabenen Größe und Majestät.
Doch schauen wir uns weiter um in diesem öden »Riesengötterheim«, wie diese Gegend öfters genannt worden ist. Links von uns taucht plötzlich eine kleine Insel auf. Ich kenne sie gut: dort wäre ich einst in meiner frühen Jugend fast ums Leben gekommen. Ich wollte mit einer langen Angelschnur Fische fangen. Da auf einmal wurde von unten so stark an der Schnur gezogen, daß ich nur mit genauer Not es verhindern konnte, von dem Meeresungetüm, einem riesigen Helleflunder, in die Tiefe hinuntergezogen zu werden. Doch davon habe ich berichtet im Buche »Nonni«.
Rechts von uns, der kleinen Insel schräg gegenüber, schneidet sich ein tiefes Tal ins Land hinein, durch das ein reißender Bergfluß rauscht. Es ist die Hörgá (sprich Hörgau), und das Tal ist das Hörgátal, in welchem mein Geburtsort, der große Hof Mödruvellir, liegt. Dort verbrachte ich die ersten acht Jahre meines Lebens.
Noch eine kurze Fahrt, und wir glauben auf einmal den Abschluß des mächtigen Golfes vor uns zu schauen.
Doch es ist nur scheinbar so. Was wir für den Abschluß des Eyjafjördur halten, ist die schmale, aber lange Landzunge Oddeyri, welche vom westlichen Ufer her zur Rechten sich quer in den Golf hineinstreckt, und zwar so weit, daß es vom Schiffe fast aussieht, wie wenn sie mit ihrer Spitze das östliche Ufer berühre. Doch zwischen ihrer äußersten Spitze und dem gegenüberliegenden Strand läßt sie einen schmalen Durchgang für die Schiffe frei.
Vorsichtig steuern wir durch den schmalen Durchgang hindurch. Sobald wir die Spitze der Landzunge passiert haben, sehen wir vor uns ein herrliches Schauspiel.
Zuerst fällt unser staunender Blick auf eine große, prachtvolle, von der Natur selbst gebildete Reede. Sie ist im Norden abgeschlossen und geschützt durch die Landzunge Oddeyri, im Süden durch den wirklichen Abschluß des Golfes, im Ost und West endlich durch sandige, sanft aufsteigende Ufer.
Eine Menge Schiffe, große und kleine, liegen hier vor Anker, alle frei draußen im Wasser, ziemlich weit vom Ufer entfernt.
Auf dem westlichen Strande aber liegt überaus malerisch das Städtchen Akureyri am Fuße der westlichen Berge und Hügel.
Am südlichen Golfende strömt ein mehrarmiger Fluß, die Eyjafjardará (der Fluß des Eyjafjördur), in den Golf hinein.
In der Stadt und am Strande sowie auf der Reede selbst herrscht reges Leben, denn hier wird ein großer Handel getrieben. Akureyri ist eine blühende kleine Handelsstadt.
Wie der Dampfer in die Reede hineingeglitten ist, sucht er sich mitten unter den andern Schiffen einen freien geeigneten Platz. Hier hält er an und läßt seine Anker bis zum Meeresgrund hinunterfallen.
Die Lage des Städtchens, eingezwängt wie es ist im Osten und Westen durch grüne Hügel, sandige Hänge und hohe Berge, im Süden durch die Eyjafjardará und im Norden durch die azurblauen Wasser des mächtigen Eyjafjördur, ist, wie schon erwähnt, bezaubernd schön.
Die Häuserreihen dehnen sich in einem Halbkreis dem Meer entlang vom innersten Ende des Golfes bis zur Spitze der Landzunge Oddeyri. Auch die westlichen Hügel sind mit Häusern bedeckt, so daß Akureyri vom Meere aus terrassenförmig nach Westen bergan sich in die Höhe hebt.
Dicht am Meeresstrand, mitten in der Stadt, steht mein elterliches Haus. Von meinem neunten bis zu meinem zwölften Jahre wohnte ich hier.
Die großzügige Umgebung, die Berge und Hügel und ganz besonders das große, herrliche, an Abwechslungen und Überraschungen aller Art so reiche Meer, erfüllten mich mit Begeisterung. Jeden Tag war das Gesicht des Meeres ein anderes. Bisweilen war es das Antlitz eines zornigen Riesen, bisweilen das eines unschuldigen Kindes.
Jeden Morgen, wenn ich erwachte, sprang ich aus meinem Bette und lief nach dem Fenster des Schlafkämmerleins, um nach dem Meere zu schauen. Den einen Tag war es glatt wie ein Spiegel und azurblau wie der Himmel, den andern Tag wälzte es seine zornigen Wellen mit Gischt und Schaum gegen das Ufer, das unter meinem Fenster lag. Ein anderes Mal peitschte der Orkan seine Wasser wie dunkle Regenwolken hoch in die Luft. Zuweilen konnte es mitten in einer finstern Nacht leuchten und schimmern, glühen und glitzern wie brennendes Feuer. Dann war es, wie wenn seine Wasser in leuchtendes Gold und Silber verwandelt worden wären.
Im Sommer bei schönem Wetter konnte das Wasser oft ebenso blau werden wie das Meer an den italienischen Küsten. Im Winter aber war es anders, da sah es oftmals aschgrau aus, und dann konnte es uns zuweilen die unheimlichsten Überraschungen bringen.
So erwachte ich eines Morgens oben in meiner kleinen Schlafkammer mit dem Gefühl, als läge ich in einem Eiskeller. Meine Ohren und mein ganzes Gesicht waren kalt. Als ich die Augen aufmachte, sah ich auf meiner Bettdecke gerade vor meinem Gesicht eine schneeweiße, glitzernde kleine Erhöhung. Es war wie ein kleines Kissen aus lauter schimmernden Kristallen! Ich war erstaunt und betrachtete eine Weile die merkwürdige Erscheinung, die ich mir zuerst gar nicht erklären konnte. – Doch als ich näher darüber nachdachte, erriet ich, was es war: es war mein Atem, der, während ich schlief, auf der Decke vor meinem Gesichte zu einem Eiskissen zusammengefroren war und sich in die wundervollsten Eiskristalle und Schneeblümlein verwandelt hatte.
Es herrschte eine so grimmige Kälte im Zimmer, daß ich mich zuerst kaum entschließen konnte, aufzustehen.
Während ich so dalag, fiel es mir auch bald auf, daß die Luft ungewöhnlich hell war! – Ich war von lauter Rätseln umgeben.
Nach einer Weile sprang ich endlich aus dem Bette und lief nach dem Fenster.
Als ich die Frostrosen auf einer der Scheiben durch meinen warmen Atem zum Schmelzen gebracht hatte, bot sich meinen Augen ein ungewohntes, höchst überraschendes Schauspiel dar: das Meer war vollständig verschwunden! An dessen Stelle war eine ungeheure weißglitzernde Gebirgsgegend zu schauen.
Was war das? Die Eisberge aus den Polargebieten Nordamerikas waren während der Nacht vom Norden her in den Eyjafjördur hineingeschwommen, und sie waren so zahlreich, daß sie den ganzen Golf von Ufer zu Ufer füllten.
Sie lagen da Seite an Seite, ein unübersehbares, unzählbares Heer. Soweit das Auge reichte: nur schneeweiße, grünlich und bläulich schillernde Hügel, runde Kuppen, dazwischen auch hohe, spitze Türme – große und kleine Berge von Eis.
Ich fühlte nicht mehr die Kälte, ich war zu sehr ergriffen von diesem Schauspiel, das ich zum ersten Mal in meinem Leben so ganz in der Nähe sah.
Ich schaute und spähte nach Tieren zwischen den seltsamen Eishügeln, doch ich entdeckte im Augenblick keine. Ich wußte aber, daß die schwimmende Polarlandschaft von vielen Tieren bewohnt war: Vögeln, Seehunden, Seelöwen und noch dazu von den gefährlichen wilden Eisbären. Ich wußte, daß es jetzt gefährlich sein konnte, unbewaffnet draußen umherzugehen, aber ich wußte auch, daß die unheimlichen, eiskalten, schwimmenden Berge nur vorübergehend bei uns bleiben würden. Nach einigen Tagen oder Wochen würden sie wieder von den Strömungen des Meeres gefaßt und dorthin zurückgebracht werden, woher sie kamen.
Ja, groß und seltsam und verschiedenartig waren die Überraschungen, die das Meer uns brachte.
Aber bis jetzt haben wir den Eyjafjördur und das schöne Akureyri nur beim gewöhnlichen Tageslicht gesehen. Es gibt aber in diesen nordischen Gegenden ganz andere Beleuchtungen, die man in den gemäßigten Zonen nicht kennt und die von einer so märchenhaften Schönheit sind, daß kein Feuerwerk der Welt es mit ihnen an Pracht und Herrlichkeit aufnehmen könnte.
Denken wir uns, wir wären durch den großen Fjord während einer hellen, wolkenlosen Sommernacht gefahren. Einer nordischen Sommernacht …! In der Zeit, in der die Sonne am nächtlichen Himmel leuchtet. Wie ganz anders sieht dann die Landschaft aus!
Die Sonne steht da am Himmel wie eine große Kugel aus rotschimmerndem Golde. Sie überflutet alles mit ihren goldig-roten Strahlen: Halden und Hänge, Berg und Tal, Felsen und Wiesen, Land und Meer – und verwandelt alles in lauter Purpur und Gold!
Ja, die Berge scheinen aus rotglühendem Gold zu sein, ebenso die unfruchtbaren Lavafelder. – Alles, alles ist Gold, rotglühendes, leuchtendes Gold. Die ganze Gegend ist zu einem überirdisch schönen, strahlenden Märchenland geworden, wie es sich die glühendste Phantasie nicht prachtvoller denken könnte.
Das Meer aber strahlt, glitzert und leuchtet in einer besondern Pracht. Hier bricht sich nämlich der wundervolle Glanz der Mitternachtsonne und schillert und funkelt in rastloser Bewegung.
Alle Perlen und Edelsteine der Welt wären nicht imstande, eine solche Farbenherrlichkeit hervorzuzaubern.
Das ist der Zauber der Mitternachtsonne, der mich sooft in meiner Jugend entzückte.
Seit achtundfünfzig Jahren habe ich ihn nicht mehr gesehen – mit Ausnahme einer ganz kurzen Zeit bei Gelegenheit einer Nordlandsreise. Nie habe ich aber diesen Zauber vergessen können, und oft habe ich mich nach ihm zurückgesehnt; und die schönsten landschaftlichen Netze des sonnigen Südens haben es nicht vermocht, dieses Sehnen in meiner Seele zum Schweigen zu bringen.