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Der Weihnachtsbesuch auf Skipalón

Es war am Vormittag des 24. Dezember auf meinem elterlichen Hofe Mödruvellir in Nord-Island.

Ich saß in der kleinen Wohnstube und plauderte mit meinem kleinen Bruder Manni über Wind und Wetter und allerhand wichtige Dinge.

Da auf einmal hörten wir von draußen her ein dumpfes Geräusch.

Bum! Bum! Bum! dröhnte es an der Außentür des Hofes …

»Ein Reisender!« rief Manni aus und klatschte vor Freude in die Hände.

»Du hast recht, Manni«, sagte ich. »Es ist sicher ein Reisender, der angeklopft hat.«

Es mußte in der Tat ein Fremder an den Hof gekommen sein, denn überall in Island ist es Brauch, daß ein fremder Gast sich durch drei kräftige Schläge mit seinem langen Reisestock an der hölzernen Giebelwand der Höfe nahe bei der Eingangstür anmeldet.

Ich sprang auf und lief nach der Türe des anstoßenden Zimmers, wo meine Mutter und meine Schwester Bogga zusammensaßen, um ihnen das merkwürdige Ereignis zu melden.

»Es ist ein Fremder da!« rief ich in das Zimmer hinein.

»Ja, Nonni«, erwiderte meine Mutter, die schon aufgestanden war, »wir haben auch die Schläge gehört.«

»Mutter«, bat ich, »darf ich nicht mit Manni hinauslaufen, um zu sehen, wer angekommen ist?«

»Gewiß, Nonni«, antwortete freundlich die Mutter, »geht nur beide hinaus und führt den Gast in die Stube hinein. Ich werde ihn dort empfangen.«

Das ließ ich mir nicht zweimal sagen.

»Manni«, rief ich meinem kleinen Bruder zu, »komm mit hinaus! Wir wollen den Gast in die Stube führen.«

Jubelnd sprang der Kleine zu mir hin. Ich nahm ihn bei der Hand, und so begaben wir uns beide zusammen in den dunkeln, leeren Gang, der nach außen führte.

Es war aber draußen grimmig kalt, und gewaltige Mengen Schnee waren in den letzten Tagen von den grauen Wolken heruntergefallen.

Unsere stattlichen Hofgebäude waren schon zur Hälfte im Schnee begraben. Von den untern Fenstern unserer Wohnstube hatten die Schneemassen weggeschaufelt werden müssen.

Die Schneedecke wurde mit jedem Tage dicker, so daß man kaum mehr anders als auf Skiern eine Reise machen konnte. Deshalb waren wir auch so erstaunt, daß ein Reisender gerade jetzt an den Hof kommen konnte.

Während wir durch den Gang gingen, sagte ich zu meinem kleinen Bruder:

»Wer kann das doch sein, der bei einem solchen Wetter zu uns kommt?«

»Ja, wer könnte es wohl sein?« antwortete Manni. »Draußen ist es so kalt, und es liegt soviel Schnee. Ich möchte nicht in dieser Kälte auf Reisen sein.« Und im nächsten Augenblick blieb er stehen, hielt mich zurück und flüsterte mir ganz leise zu:

»Wer weiß, vielleicht ist es ein Gespenst, Nonni …!«

Diese Worte meines kleinen Bruders draußen in dem dunkeln Gang machten mich zuerst stutzig. Denn es gab auf dem Hof Leute, die wirklich an Gespenster glaubten. Doch ich ermannte mich gleich wieder und sagte beruhigend:

»Sei doch nicht so abergläubisch, Manni. Es gibt ja keine Gespenster! Das hat uns die Mutter schon sooft gesagt.«

Der Kleine ließ sich beruhigen, hielt sich aber doch ganz dicht an meiner Seite.

So gingen wir voran, bis wir den kleinen Vorraum unmittelbar an der Ausgangstür erreicht hatten.

Ich schob den Riegel zurück, der die äußere Türe von innen schloß, und machte auf.

Als wir in größter Spannung hinausschauten, sahen wir den Gast oben auf dem harten, weißen Schnee vor dem Eingang stehen.

Es war ein kräftiger Junge von etwa vierzehn bis fünfzehn Jahren. In der linken Hand hielt er einen langen hölzernen Stab, der mit einer eisernen Spitze versehen war. Er trug schwarze Kniehosen und eine schwarze Jacke, die mit einer doppelten Reihe großer gelber Messingknöpfe fest um den Leib zusammengeknöpft war.

Auf dem Kopfe hatte er eine dunkelbraune isländische Schneehaube, die er bis an die Schultern heruntergezogen hatte. Sie bedeckte fast sein ganzes Gesicht und ließ nur die Augen und die Nase frei. Ein paar schneedichte Strümpfe aus weißer isländischer Wolle schützten die Beine gegen den kalten Schnee. Er hatte sie bis weit über die Kniee hinaufgezogen.

An den Füßen trug er kleine, enganschließende Schaflederschuhe, die mit dünnen Lederriemen um die Knöchel befestigt waren. Neben ihm auf dem Schnee lagen seine Skier.

Einige Augenblicke genügten mir, um alle diese kleinen Beobachtungen zu machen. Aber ich konnte mir doch nicht denken, wer er sei, da seine Schneehaube ihm fast das ganze Gesicht bedeckte. Als er aber zu sprechen begann, fuhr ich freudig zusammen; denn an dem Laut seiner Stimme erkannte ich sofort in ihm einen meiner besten Freunde: Baldur von Skipalon.

»Guten Tag, Nonni!« rief Baldur mir munter zu, »ich komme von Skipalon herüber, um dich zu besuchen.«

»Wie mich das aber freut, Baldur!« rief ich meinem Freund entgegen, während ich die Stufen aus hartgefrorenem Schnee hinauflief, die draußen vor dem Eingang durch die hohen Schneemassen von den Knechten des Hofes mit Schaufeln und Spaten gemacht worden waren. Manni folgte nach.

Unterdessen hatte Baldur seine Schneehaube heruntergenommen, und als ich ihn oben erreichte, umarmten wir uns, wie es auf Island Sitte ist, wobei ich ihm herzlich den Willkomm bei uns wünschte.

»Aber, Baldur«, fügte ich dann hinzu, »ist es wahr, daß du bei einem solchen Wetter hieher kommst, nur um mich zu besuchen?«

»Ja, gewiß ist es wahr, Nonni«, sagte Baldur und lachte munter dabei. »Ich habe sogar noch etwas für dich in der Tasche.«

»Etwas für mich in der Tasche?« rief ich gespannt aus.

»Ja, Nonni. Und kannst du wohl auch raten, was es ist?«

»Ich glaube, es sind Rosinen, Baldur.«

»Nein, Nonni.«

»Sind es vielleicht Feigen?«

»Nein.«

»Dann ist es Kuchen.«

»Auch nicht.«

»Dann sind es wohl Spielsachen und Bilder?«

»Nichts von alledem, Nonni. Es ist etwas noch viel Schöneres.«

»Noch viel Schöneres! Was kann das denn sein?«

»Nonni, jetzt gehen wir mit Baldur hinein. Es ist hier so kalt«, unterbrach uns der kleine Manni.

»Du hast recht, Manni«, erwiderte ich und bat Baldur, uns zu folgen.

Er hob seine Skier auf und folgte uns die Schneestufen hinunter. In dem kleinen Vorraum stellte er die beiden Skier und den Stab gegen die Wand und schüttelte dann sorgfältig den losen Schnee von seinen Kleidern und seinen Füßen.

Schnell machte ich die Außentür wieder zu. Manni und ich nahmen sodann Baldur in die Mitte, um ihn durch den langen Gang in die warme Wohnstube hineinzuführen.

Wer war aber dieser frische, tapfere Junge, unser Besuch?

Baldur war der jüngste Hirtenbub auf dem schön gelegenen Hofe Skipalon.

Dieser Hof lag nur einige Kilometer von meiner Wohnung, dem großen Hof Mödruvellir, entfernt, jenseits des reißenden Flusses Hörgá, im Norden Islands, nahe dem Ufer des Atlantischen Ozeans.

Da der Hausherr und die Hausmutter dort zu dem Freundeskreis meiner Eltern gehörten, wurde ich oftmals nach dem schönen Skipalon eingeladen, und ich hielt mich dort manchmal tagelang auf.

Ich kannte alle Leute auf dem Hofe und war mit ihnen allen gut Freund geworden.

Die gute Hausmutter war mir ganz besonders zugetan, und sie behandelte mich immer mit einer mütterlichen Liebe und Freundlichkeit, wie wenn ich ihr eigenes Kind gewesen wäre. Auch ich ehrte, achtete und liebte sie fast wie eine Mutter.

Da sie eine sehr gottesfürchtige und verständige Frau war, freuten meine Eltern sich über diese Freundschaft und begünstigten sie.

Doch der beste aller meiner Freunde auf Skipalon war der jüngste der dortigen Hirtenbuben, Baldur. Seine Eltern waren wohlhabende, angesehene Leute. Sie hatten ihn nach Skipalon geschickt, damit er dort die Landwirtschaft lerne. Baldur war ein außerordentlich begabter und geweckter Knabe, sehr höflich und bescheiden in seinem Auftreten und von einer Frische und Fröhlichkeit, daß er der Liebling aller war, die ihn kannten.

Er war fast doppelt so alt als ich. Ich war damals erst in meinem achten Jahre, er aber schon zwischen vierzehn und fünfzehn.

Meine Eltern hatten auch nichts gegen meine Freundschaft mit ihm. Sie wußten, daß ich in seiner Gesellschaft in Sicherheit war. Er hatte mich lieb und besuchte mich auf Mödruvellir, sooft er nur eine Gelegenheit fand.

Und wenn er zu uns auf Besuch kam, brachte er mir gern kleine Geschenke mit: bunte Bilder, Feigen, Rosinen und süßes Backwerk, ja sogar hie und da einmal ein schönes Büchlein mit goldenem Schnitt.

Und wenn ich mich auf Skipalon aufhielt, sorgte er sehr für mich und machte mir den Aufenthalt auf dem herrlichen Hof am Meer so angenehm, daß ich immer in Gefahr kam, noch länger dort zu bleiben, als es mir von meinen Eltern erlaubt worden war …

Doch kehren wir jetzt wieder in den dunkeln Gang zurück, durch welchen wir drei Knaben Hand in Hand nach der Wohnstube wandelten.

Zuerst gingen wir schweigend nebeneinander her. Dann aber fragte ich unsern jungen Gast:

»Aber nun sage mir doch, Baldur, was du in deiner Tasche hast!«

Baldur lachte und erwiderte:

»Das werde ich dir sagen, wenn wir in der Stube sind.«

»Warum sagst du es mir nicht gleich?«

»Weil du viel mehr Freude haben wirst, wenn du etwas darauf warten mußt.«

»Ach, Baldur, ich glaube, daß ich noch viel mehr Freude haben werde, wenn du es mir jetzt gleich sagst!«

Wieder brach Baldur in sein munteres Lachen aus, blieb stehen und sagte:

»Nun gut, Nonni, wenn du das meinst, so will ich dich nicht länger plagen.«

Dann faßte er mich am Arm, näherte sich bis ganz dicht an mein Ohr heran und flüsterte mir geheimnisvoll zu:

»Ich bringe einen Brief mit von dem Hausvater von Skipalon.«

»Einen Brief von dem Hausvater von Skipalon? Aber dann gib ihn her, Baldur.«

»Nein, Nonni. Noch nicht. Ich soll ihn deiner Mutter geben.«

»Warum nicht mir?«

»Weil der Name deiner Mutter auf der Adresse steht.«

Jetzt waren wir bis an die Türe zur Wohnstube gelangt, und wir gingen hinein.

Baldur trat zu meiner Mutter hin, machte eine Verbeugung, gab ihr die Hand und grüßte sie.

»Willkommen, mein lieber Baldur!« sagte meine Mutter freundlich zu ihm.

Dann gab Baldur auch meiner Schwester Bogga die Hand und wurde auch von ihr willkommen geheißen.

Unterdessen stellte ich einen Stuhl neben den Tisch und bat Baldur, Platz zu nehmen.

Als er sich gesetzt hatte, fragte meine Mutter:

»Was führt dich heute zu uns, mein lieber Baldur?«

Baldur zog den Brief aus seiner Tasche, übergab ihn meiner Mutter und sagte: »Ich soll Ihnen diesen Brief überbringen.«

»Danke dir, mein lieber Freund«, erwiderte die Mutter. Dann legte sie den Brief auf den Tisch und sagte:

»Bevor ich ihn lese, will ich dir aber etwas zu essen holen. Es ist so kalt draußen. Du wirst sicher hungrig und müde sein.«

»O nein«, sagte Baldur. »Ich bin gar nicht müde. Ich habe den ganzen Weg auf meinen Skiern gemacht. Es ging auf dem glatten Schnee leicht voran.«

»Eine kleine Stärkung wird dir doch gut tun«, sagte meine Mutter und ging mit Bogga aus der Stube hinaus.

Bald kamen sie wieder zurück und setzten dem Hirtenbuben einige Erfrischungen vor.

Während Baldur bescheiden an den ihm vorgesetzten Speisen sich stärkte, öffnete meine Mutter den Brief und las ihn zuerst leise vor sich hin.

Dann legte sie ihn auf den Tisch zurück, wandte sich zu mir hin und fragte:

»Weißt du, von wem der Brief ist, Nonni?«

»Ja, Mutter. Baldur hat mir schon gesagt, er sei von dem Hausvater von Skipalon.«

»Weißt du auch, was darin steht?«

»Nein, Mutter. Aber Baldur hat mir gesagt, daß der Hausvater etwas über mich geschrieben habe.«

»Ja, das hat er auch. Ich will dir gleich das Ganze vorlesen.«

Man kann sich denken, wie ich die Ohren spitzte, als meine Mutter den Brief wieder in die Hand nahm und las:

»Es würde mich sehr freuen, wenn Nonni zu uns nach Skipalon kommen wollte, um während der Weihnachtstage bei uns zu bleiben. Ich schlage vor, daß er mit Baldur gleich herüberkommt. Baldur kennt den Weg und ist ein sicherer Führer. Der Schnee ist so hart geworden, daß Nonni leicht darüber zu Fuß gehen kann. Der Hörgáfluß macht auch keine Schwierigkeiten. Er ist fest gefroren. Ich hoffe, daß Sie Ja sagen werden und daß Baldur heute nachmittag nicht allein, sondern zusammen mit dem kleinen Nonni hierher zurückkehren wird.«

Ja, Baldur hatte recht gehabt, das war für mich eine überaus angenehme Nachricht.

»Was sagst du zu diesem Brief, Nonni?« fragte lächelnd meine Mutter.

»O, es ist ein schöner Brief, Mutter.«

Und da sie mich immer noch lächelnd anschaute, sprang ich zu ihr hin, schlang meine Arme um ihren Hals und sagte:

»Nicht wahr, liebe Mutter, du wirst mich doch mit Baldur nach Skipalon gehen lassen?«

»Hast du wirklich so große Lust, Nonni?«

»O ja, Mutter.«

»Und vor der Kälte ist dir nicht bange?«

»Aber Mutter, nicht im mindesten. Ich ziehe meine wollene Schneehaube über den Kopf. Dann sind meine Ohren und mein Gesicht geschützt. Und dann ziehe ich auch noch meine langen Schneestrümpfe an. Dann bleiben mir die Füße warm und trocken. – O Mutter, laß mich doch gehen mit Baldur!«

Meine Mutter strich mir mit der Hand über die Haare und schaute hinaus durchs Fenster.

Der Himmel war aschgrau, und die schweren Schneewolken hingen tief herunter.

»Das Wetter ist nicht so ganz sicher, mein liebes Kind. Wenn ein Schneesturm euch überraschen würde, was dann?«

»Das würde nicht soviel machen. Baldur kennt ja den Weg so gut. Sei doch nicht so bange, Mutter!«

Als die Mutter noch zu zögern schien, wandte ich mich an Baldur:

»Meinst du nicht auch, Baldur, daß du den Weg selbst in einem Schneesturm finden würdest?«

»Doch, Nonni. Wenigstens hoffe ich es.«

»Siehst du, Mutter! Baldur ist gar nicht bange und ich auch nicht. – Nicht wahr, du erlaubst mir doch, mit ihm die schöne Reise zu machen?«

So bat und flehte ich, bis meine gute Mutter schließlich nachgab. Doch bestimmte sie, daß wir nicht allein gehen sollten. Unser Knecht Gudmund sollte uns bis nach Skipalon begleiten.

Ich kann nicht beschreiben, wie glücklich ich war. Ich warf mich meiner Mutter noch einmal um den Hals und dankte ihr herzlich.

»Bogga«, sagte sie, »geh hinaus und sage Gudmund, er solle in die Wohnstube hereinkommen.«

Bogga lief in die Schreinerwerkstatt hinaus, wo Gudmund beschäftigt war, und sagte ihm, er solle zur Mutter hineinkommen.

Kurz darauf klopfte Gudmund an die Türe.

Schnell wie der Wind lief ich hin und öffnete, worauf Gudmund mit seiner schwarzen Pelzmütze in die Stube hineintrat.

Gudmund war ein sehr großer und starker Mann. Er trug einen rabenschwarzen Vollbart. Auch seine Haare und Augen waren rabenschwarz.

Er hatte eine ungewöhnlich tiefe und starke Baßstimme. Wenn er rufen mußte oder in Erregung kam, dann klang sie geradezu wie ein Donnergetöse. Er war übrigens ein friedlicher, gutmütiger und treuer Mann und unter den Leuten sehr beliebt.

»Gudmund«, redete meine Mutter ihn an, »wollen Sie mit den beiden Knaben Baldur und Nonni heute nachmittag nach Skipalon gehen?«

»Gewiß, Frau«, antwortete Gudmund mit seiner Donnerstimme. »Wann sollen wir aufbrechen?«

»Am liebsten bald, etwa in einer Stunde, während das Wetter noch einigermaßen gut ist.«

»Nach einer Stunde bin ich bereit.«

»Baldur ist auf den Skiern hierher gekommen. Am besten nehmen Sie wohl auch Skier mit.«

»Jawohl, Frau. Das wird sicher das beste sein.«

»Nonni muß zu Fuß gehen. Er würde auf seinen kleinen Skiern nicht schnell genug vorankommen können.«

»Wenn Sie nichts dagegen haben, Frau, so werde ich ihn am liebsten bis Skipalon tragen.«

»Können Sie das? Werden Sie nicht zu müde?«

»Von Müdigkeit wird keine Rede sein. Ich werde den Jungen auf meiner Schulter sitzen lassen.«

»Wenn Sie das wollen, dann ist es gut. Ich weiß, Gudmund, daß ich mich auf Sie verlassen kann und daß Sie für die beiden Knaben gut sorgen werden.«

Der biedere, treue Knecht grüßte und ging aus der Stube hinaus.

Meine Mutter bat Bogga, mir vor der Abreise noch etwas zu essen zu geben. Darauf zog sie mir warme, wollene Kleider an und gab mir einige Ermahnungen mit auf den Weg.

Zuletzt schrieb sie an den Hausherrn von Skipalon einen kleinen Brief, den sie Baldur anvertraute. Dann war auch schon die Stunde des Abschieds da.

Meine Skier mußte ich zu Hause lassen. Aber meinen kleinen eisenbeschlagenen Reisestock nahm ich mit.

Meine Mutter und Bogga begleiteten uns aus dem Hof hinaus.

Als wir die Schneestufen vor dem Ausgang hinaufgestiegen waren, stand Gudmund schon reisefertig da.

Er war wie ein Goliath anzuschauen. In der Rechten trug er einen sechs Fuß langen, sehr kräftigen Reisestab, der mit einer starken Eisenspitze versehen war. Wie wir Knaben, so trug auch er lange Schneestrümpfe aus weißer Wolle. Er hatte sie bis weit über die Kniee hinaufgezogen. Seine übrigen Kleider waren schwarz. Auch seine Schneehaube war aus schwarzer Wolle. Um den Leib trug er einen breiten Gürtel aus braunem Leder.

Wie eine Maus neben einem Elefanten, so kam ich mir selber an der Seite des riesig großen Mannes vor.

Ja, Gudmund sah aus wie ein nordischer Held aus alten Zeiten.

» Nonni litli! (Du kleiner Nonni!)« rief er mir mit seiner Donnerstimme zu. »Ich glaube, ich setze dich gleich auf meine Schulter hinauf. Da sitzest du am besten. Meinst du nicht auch?«

»Ich weiß nicht recht, Gudmund«, gab ich zur Antwort. »Am liebsten möchte ich zu Fuß gehen. Ich werde versuchen, schnell voran zu kommen.«

»Gut, Kleiner«, donnerte es zu mir hinunter, »du kannst es ja zuerst einmal versuchen.«

Jetzt zog ich meine Schneehaube ein wenig vom Munde hinauf und gab meiner Mutter, Bogga und Manni den Abschiedskuß.

»Ich wünsche dir ein schönes Weihnachtsfest, Nonni!« rief Bogga mir nach.

Dankend winkte ich mit der Hand zurück.

Dann schritt ich, so rasch ich konnte, zwischen Gudmund und Baldur auf Skipalon zu.

Es wurde mir nicht leicht, mit den beiden Skiläufern Schritt zu halten. Ich mußte mich sehr anstrengen, um einigermaßen mitzukommen.

Schon nach kurzer Zeit wurde ich müde. Gudmund merkte es und schlug mir wieder vor, mich auf seine Schulter zu setzen.

»Nonni«, sagte er, »du bist ja schon ganz müde, und doch gehen wir nur langsam voran.«

»Das kommt daher, weil er noch so kurze Beine hat«, bemerkte neckend mein Freund Baldur.

»Ja, daher kommt es«, sagte Gudmund. »Deshalb wäre es jetzt an der Zeit, dich etwas auszuruhen. Meinst du nicht auch, mein Kleiner?«

»Ja, Gudmund«, erwiderte ich. »Jetzt können Sie mich auf Ihre Schulter setzen, damit ich etwas ausruhe.«

Kaum hatte ich diesen Wunsch geäußert, da beugte sich Gudmund zu mir herunter, faßte mich mit seinen großen, starken Händen, und bevor ich mich auch nur besinnen konnte, saß ich oben auf der breiten Schulter des kräftigen Mannes.

»So, Nonni«, sagte er mit seiner Donnerstimme, »jetzt sollst du sehen, wie wir vorwärts kommen.«

Und in der Tat, die beiden tüchtigen Skiläufer, der kleine Baldur und der große Gudmund, flogen leicht über die glatten Schneefelder hinweg.

Ich mußte mich in acht nehmen, um nicht von meinem hohen Sitz hinunterzufallen, besonders wenn die Skier wegen der Härte des festgefrorenen Schnees nach der Seite ausglitten.

»Halte dich gut fest an meinem Kopf, Kleiner!« rief mir Gudmund zu.

Das tat ich auch schon. Ich umfaßte den großen Kopf vor mir mit beiden Armen. Dann und wann tat ich auch einen festen Griff in die wollene Schneehaube Gudmunds.

Trotz alledem war ich doch nicht ganz sicher auf meinem beweglichen Sitz, weil die Schultern und der Oberkörper meines Trägers oft so heftig nach allen Seiten hin schwankten und schlingerten.

Ich wurde hin und her geschüttelt, wie wenn ich mitten in einem Orkan hoch oben auf einem Baum gesessen hätte.

»Festhalten, Nonni«, fuhr Gudmund fort, mir dann und wann aufmunternd zuzurufen.

»Ja, ja, Gudmund«, rief ich jedesmal zurück und klammerte mich aus allen Kräften an seinem Kopf fest.

Einmal aber, bei einer ungewöhnlich raschen Wendung Gudmunds, verlor ich den Halt und fiel mit dem Oberkörper rücklings herunter. Doch blitzesschnell faßte er mich beim rechten Fuß und rettete mich im letzten Augenblick vor einem Kopfsprung auf die eisig harte Schneekruste.

»Nonni, Nonni!« sagte Gudmund, während er mich den Kopf nach unten mit ausgestrecktem Arm beim Fuß hielt, »das darf nicht mehr geschehen, sonst brichst du dir noch den Hals, mein kleiner Freund.«

Baldur eilte auf mich zu, faßte mich bei den Armen und stellte mich auf den Schnee hinunter. Wir rasteten ein wenig.

»Hast du dir weh getan, Nonni?« fragte Baldur.

»Nicht im geringsten«, erwiderte ich munter. »Aber es ist so schwer, mich festzuhalten, weil Gudmund so stark schüttelt.«

»Das läßt sich nicht vermeiden, Kleiner«, sagte Gudmund. »Wir werden aber etwas langsamer vorangehen, dann wirst du dich leichter festhalten können.«

»Ja, ja, das wird wohl das beste sein«, sagte Baldur.

»Dennoch mußt du dich aber gut festhalten«, mahnte mich Gudmund.

»Das will ich auch tun«, sagte ich; »es ginge aber besser, wenn meine Beine irgend einen Halt hätten.«

»Aber stecken Sie doch seine Beine in Ihre Brusttasche«, schlug Baldur vor. Wir mußten alle drei über diesen Einfall Baldurs lachen.

»Dein Vorschlag ist aber gar nicht dumm«, sagte Gudmund.

Dann untersuchte er die äußere Brusttasche seines Rockes. Sie war so breit und so tief, daß meine beiden Füße bequem darin Platz finden konnten.

»Aber, das wird ja sehr gut gehen«, sagte er. »Wir wollen es sofort probieren.«

Er hob mich mit seinen starken Armen in die Höhe und setzte mich an meinen früheren Platz. Dann nahm er meine Füße und steckte sie in seine Brusttasche. Sie sanken bis weit über die Knöchel in die tiefe, warme Tasche hinein. »Wie geht es jetzt, Nonni?« fragte Gudmund.

»Es geht ausgezeichnet«, erwiderte ich voll Freude, denn ich fühlte, daß ich jetzt ganz fest im »Sattel« saß.

»Ihr könnt jetzt so schnell voranlaufen, als ihr wollt«, rief ich meinen beiden Freunden zu, »ich werde nicht mehr herunterfallen.«

Sie setzten sich wieder in Bewegung, und nun ging es in dem winterlichen Halbdunkel weiter über die hügelige Schneelandschaft voran.

Diesmal hatte ich keine so große Mühe mehr, mich an meinem Platz festzuhalten.

Gudmund nahm sich auch sehr in acht, um mich nicht wieder abzuschütteln.

Die Fahrt ging gut vonstatten, und ich hatte eine große Freude an der eigentümlichen winterlichen Reise.

Bald kamen wir an einen größeren Hügel heran. Die beiden tüchtigen Skiläufer stiegen von den Skiern ab und mußten den Hügel zu Fuß erklimmen. Auch ich bat Gudmund, mich von seiner Schulter herunterzunehmen, was er gleich tat. Um meine Beine wieder etwas zu bewegen, wollte ich auch mit ihnen den Hügel zu Fuß besteigen.

Baldur und Gudmund banden eine dünne Schnur vorn an ihren Skiern fest und zogen sie hinter sich den Hügel hinauf.

Als wir oben angekommen waren, machten wir eine kurze Rast.

Vor uns tief unten lag der breite, reißende Hörgáfluß, ganz mit Eis und Schnee zugedeckt. Gegen Osten sahen wir den Atlantischen Ozean in kurzer Entfernung.

Zwischen dem Fluß und dem Meeresstrande waren in der weiten Schneedecke einige kleine Erhöhungen zu schauen. Es waren die Hofgebäude von Skipalon.

»Siehst du, Nonni«, rief mir Gudmund zu, indem er mit der Hand auf die kleinen Erhöhungen deutete, »da ist das Ziel unserer Reise.«

Ich hatte noch nie den schönen Hof in einer solchen Gestalt gesehen.

Wir hatten nur noch die Anhöhe in sausender Fahrt auf den Skiern hinunterzugleiten, darauf eine kleine Ebene bis zum Fluß zu durchqueren, dann kam der Fluß selber und jenseits desselben die jetzt schneebedeckten Wiesen von Skipalon.

»In einer guten Viertelstunde werden wir in Skipalon sein«, meinte Baldur.

Gudmund sagte nichts. Er betrachtete mit aufmerksamer Miene das große Meer jenseits des Hofes. Auch Baldur warf jetzt aufmerksame Blicke nach dem Meere hin. Auf einmal rief er aus:

»Das ist aber merkwürdig, die Eisberge sind da!«

»So, kannst du sie auch sehen, Baldur?« fragte Gudmund.

»Aber gewiß. Siehst du sie nicht auch, Nonni?«

Ich strengte daraufhin meine Augen an und sah nun auch durch den aschgrauen Meeresnebel etwas wie eine blendend weiße Hügellandschaft draußen mitten im Wasser. Sie schimmerte so seltsam durch den Nebel von der weiten Meeresoberfläche her.

»Bis jetzt haben wir auf Mödruvellir nichts von der Ankunft der Eisberge gehört«, bemerkte Gudmund.

»Es ist doch sonderbar«, sagte Baldur; »als ich heute morgen von Skipalon wegzog, waren sie noch nicht da.«

»Dann sind sie eben jetzt angekommen. Morgen wird der ganze Golf Eyjafjördur voll davon sein«, erwiderte Gudmund.

»Wie freut es mich doch«, rief ich entzückt aus, »daß die Eisberge nach Skipalon gekommen sind! Ich werde jeden Tag an den Strand gehen und auf die schönsten und höchsten von ihnen hinaufklettern!«

»Das läßt du lieber bleiben, mein kleiner Freund«, warnte mich Gudmund.

»Aber warum denn das?« fragte ich enttäuscht.

»Weil Gefahren damit verbunden sind«, erwiderte er.

»Aber ich bin doch kein kleines Kind mehr, Gudmund. Ich bin nun doch schon über sieben Jahre alt.«

Gudmund und Baldur schauten mich freundlich an, mußten aber beide laut lachen. Ein klein wenig ärgerlich rief ich aus: »Ich bin gar nicht bange vor den Eisbergen.«

»Das will ich dir gern glauben, du kleiner siebenjähriger Held«, antwortete Gudmund. »Die Eisberge machen dich nicht bange. Aber die Tiere, welche auf den Eisbergen leben; hast du keine Furcht vor ihnen?«

»Was sind das für Tiere?«

»Das sind die Seelöwen, die Seehunde und die Eisbären. Was würdest du machen, wenn du auf dem Eise einem hungrigen Eisbären begegnetest?«

»Dann würde ich schnell nach Hause laufen.«

»Die Eisbären laufen aber auch schnell, Nonni. Ich rate dir, sorge lieber dafür, daß du ihnen nicht zu nahe kommst.«

Bei diesen warnenden Worten Gudmunds kamen mir einige Geschichten in den Sinn, die ich zu Haus von diesen gefährlichen Raubtieren gehört hatte: wie sie zuweilen ans Land kommen und alles in Stücke reißen, was ihnen begegnet, sowohl Menschen wie Tiere. – Ich erinnerte mich auch, gehört zu haben, daß sie mitunter schwimmend ans Land gekommen seien, bevor noch die Eisberge sich gezeigt hätten, soweit könnten sie durchs offene Meer schwimmen.

Ich wurde daher etwas kleinlauter und fragte: »Meinen Sie, Gudmund, daß auch jetzt Eisbären auf dem Eise sind?«

»Gewiß, Nonni, es sind fast immer welche da.«

»Dann werde ich mich aber in acht nehmen.«

»Daran wirst du gut tun, mein kleiner Freund. Mit den Eisbären ist nicht zu spassen.«

So standen wir noch eine kleine Weile da, ruhten etwas aus und sprachen von den Eisbären.

Warum wir gerade von Eisbären soviel miteinander sprachen, weiß ich nicht, aber das weiß ich mit Sicherheit, daß keiner von uns in diesem Augenblick daran dachte, wir könnten jetzt auf der kurzen Strecke, die uns noch von Skipalon trennte, diesen gefährlichen Raubtieren begegnen. Und hätte man uns vor diesen schrecklichen Tieren gewarnt, wir hätten sicher über solche Warnungen gelächelt.

Nach einer kleinen Weile machte Gudmund unsern Gesprächen ein Ende durch die Worte: »Jetzt wollen wir aber weitergehen. Ich muß noch heute abend nach Mödruvellir zurückkehren.«

Er nahm seinen Stab, den er in den Schnee gesteckt hatte, und bestieg wieder seine Skier. Baldur tat das gleiche.

Dann packte mich der starke Mann, wie wenn ich eine leichte Feder gewesen wäre, und setzte mich auf seine Schulter zurück. Ich steckte wieder die Füße in seine Brusttasche hinein und hielt mich mit beiden Händen an seinem Kopfe fest.

»Jetzt wird es aber rasch gehen, Nonni«, rief Baldur zu mir hinauf.

Den langen Stab vorsichtig in beiden Händen haltend, setzten sich die Skiläufer wieder in Bewegung. Bald glitten die Skier blitzschnell den Hügel hinunter nach dem Flusse zu.

Der Luftdruck war so stark, daß ich beide Augen schließen mußte. Dabei hatte ich das Gefühl, als müßte ich durch das überaus schnelle Hinuntersausen ersticken.

Doch sehr bald waren wir den Hügelabhang hinuntergeschossen und auf der flachen Ebene vor dem Fluß angelangt. Wir behielten dort unten noch eine Zeit lang die schnelle Vorwärtsbewegung des Hinuntergleitens bei und hatten uns bald dem Flusse auf etwa zehn bis zwanzig Meter genähert – da auf einmal stieß Gudmund mit seiner Donnerstimme einen furchtbaren Schrei aus:

»Halt, Baldur! Halt!« Gleichzeitig bremste er mit dem Stab und machte selber eine solche Anstrengung, um auf der Stelle halten zu können, daß ich beinahe heruntergefallen wäre.

Baldur, der einige Meter rechts von uns auf seinen leichten Skiern voranglitt, konnte nicht so schnell halten. Er schoß in rascher Fahrt bis zum Flußufer hin und glitt sofort in das zugefrorene Flußbett hinunter. Hier gelang es ihm endlich, haltzumachen.

Schnell bog Gudmund nach rechts auf Baldur zu und erreichte ihn einige Augenblicke später.

»Was ist?« rief ihm Baldur im höchsten Staunen zu.

Ohne auf seine Frage zu achten, schrie Gudmund:

»Vorwärts, Baldur, so schnell du kannst nach dem andern Ufer! – Halte dich fest, Nonni! Um Gottes willen halte dich fest! – Es gilt das Leben!«

Ich konnte die furchtbare Aufregung Gudmunds gar nicht begreifen. Seine sich widersprechenden Befehle waren mir ein Rätsel. Ich fürchtete, er sei plötzlich wahnsinnig geworden.

Auch Baldur schüttelte verständnislos den Kopf, kam aber eifrigst dem letzten Befehle Gudmunds nach und strengte sich aufs äußerste an, vorwärts zu kommen. Die beiden flogen auf ihren leichten Skiern über den Fluß hinüber. Die Bewegungen Gudmunds waren so rasch, daß ich, um nicht herunterzufallen, seinen breiten Kopf mit beiden Armen aus allen Kräften umklammern mußte. Ein paar Mal drehte er den Kopf und schaute sich um, wobei ich jedes Mal nahe daran war, das Gleichgewicht zu verlieren.

Als er das jenseitige Ufer erreicht hatte, streifte er blitzschnell die Skier von den Füßen ab und warf sie in stürmischer Eile auf das Ufer hinauf.

»Tu wie ich! Tu wie ich!« schrie er gleichzeitig Baldur zu, der dem furchtbar aufgeregten Mann blindlings und in der größtmöglichen Eile folgte.

Ein paar Sekunden darauf hatten beide das Ufer erklommen.

»Die Skier schnell wieder an!« brüllte Gudmund.

In einem Nu war auch das wieder ausgeführt.

Doch bevor wir uns wieder in Bewegung setzen konnten, ertönte plötzlich hinter uns aus dem Flußbett heraus ein fürchterliches, markerschütterndes, doppeltes Geheul …

Schneller, als ich es ausdrücken kann, wandten Baldur und ich uns um und warfen angstvolle Blicke nach der Richtung, woher das entsetzliche Geheul gekommen war.

Was wir aber da sahen, machte uns das Blut in unsern Herzen stocken: mitten im Fluß sahen wir nämlich zwei schneeweiße Ungeheuer in schnellem Lauf auf uns zukommen. Ich erkannte sie sofort: es waren zwei echte grönländische Eisbären. Jetzt war uns Gudmunds sonderbares Benehmen klar.

Mit seinem geübten, scharfen Auge hatte er vorher, während wir auf unsern Skiern dem Fluß in rascher Fahrt zueilten, die beiden Raubtiere am nahen Ufer im Flußbette gesehen.

Da wir nicht gleich halten konnten, hatten wir etwas rechts von ihnen den Fluß erreicht und dann rasch denselben durchquert.

Langsam, wie diese Tiere gewöhnlich im Anfang sind, hatten sie uns zuerst ruhig an sich vorüberziehen lassen. Jetzt aber hatten sie sich aufgerafft und setzten uns nach.

Für sie waren wir ja nichts anderes als drei gute Bissen, mit welchen sie ihren Hunger zu stillen gedachten.

Und daß sie fest entschlossen waren, sich ihre Beute nicht entgehen zu lassen, das bewies uns ihr schneller Lauf in der Richtung auf uns zu.

Unglücklicherweise war die letzte Strecke, die uns noch von Skipalon trennte, ein aufsteigendes Gelände. Auf Skiern war es unmöglich, auf demselben schnell voranzukommen.

Deshalb faßte Gudmund einen raschen Entschluß.

Er warf die Skier von seinen Füßen weg, riß mich von seiner Schulter herunter und stellte mich in aller Eile auf den Boden nieder.

»Wirf die Skier fort!« rief er gleichzeitig Baldur zu, »und suche zu Fuß mit Nonni nach dem Hof zu entkommen.«

Kaum waren diese Worte ausgesprochen, da hatten die beiden Bestien das Ufer unmittelbar hinter uns schon erreicht und schickten sich an, von dem etwas tiefer liegenden Flußbett auf das Ufer zu uns hinaufzuspringen.

Indessen hatte mich aber Baldur schnell bei der Hand gefaßt und zog mich, so rasch er konnte, vorwärts bergan auf Skipalon zu. Im Laufen schauten wir beide unwillkürlich zurück.

Mit seinem langen Stab bewaffnet hatte Gudmund sich gegen die beiden Tiere gewandt und suchte sie zu verhindern, auf das Ufer hinaufzuklettern.

Er stand gerade dort, wo sie hinaufspringen wollten.

Seine Riesenkräfte und seine starke Stimme kamen ihm jetzt zustatten.

Unerschrocken brüllte er die beiden Bären an und drohte ihnen mit seinem Stab.

Es gelang ihm, die Unholde für den Augenblick stutzig zu machen.

Ich sah, wie er mit seinem Stab dem einen von ihnen einen Stich in den Kopf gab. Ein kurzes zorniges Gebrüll war die Antwort des wilden Tieres.

Einen Augenblick später waren die beiden wütenden Bären doch auf das Ufer zu Gudmund hinaufgesprungen.

Voll Entsetzen blieben Baldur und ich stehen, denn jetzt hielten wir Gudmund für verloren.

Doch der tapfere, starke Mann drohte, stach und fuchtelte so gewandt und so gewaltig mit dem spitzen Stab und schrie und brüllte dabei so unmenschlich stark, daß selbst die Eisbären sich vor ihm zu fürchten schienen und ein wenig zurückwichen.

Gudmund wollte seinen Vorteil ausnützen und setzte ihnen unverzüglich nach.

Das half. Sie wandten sich jetzt entschieden von Gudmund weg, richteten aber auf der Stelle ihre gierigen Raubtierblicke auf uns Knaben und versuchten nun in einem kleinen Bogen an ihrem lästigen Gegner vorbeizukommen, um sich auf die zwar kleinere, aber auch leichtere und sicherere Beute – Baldur und mich – zu werfen.

Gudmund, der die furchtbare Gefahr, die uns drohte, sofort erkannte, lief nun so schnell er konnte nach derselben Richtung wie die Bären, aber so, daß er immer zwischen ihnen und uns blieb.

Es galt, die blutgierigen Tiere zu verhindern, uns zu erreichen.

Da er aber bald merkte, daß sie schneller laufen konnten als er, rief er uns mit der ganzen Kraft seiner Stimme zu:

»Kommt gleich zurück! – Zurück! Zurück! – Stellt euch hinter mich!«

Es war ein Glück für uns, daß wir gerade vorher etwas stehen geblieben waren und uns deshalb noch in der Nähe von Gudmund befanden. Sonst hätten die Bestien uns unfehlbar erreicht. Und – großer Gott! – das Los, das uns dann geworden wäre, will ich lieber nicht andeuten.

Wir begriffen gleich die schreckliche Gefahr und machten auf der Stelle kehrt.

In namenloser Angst flogen wir über den Schnee dahin und erreichten nach wenigen Augenblicken Gudmund.

Zitternd am ganzen Leib stellten wir uns hinter ihm auf.

Jetzt blieben auch die Bären stehen und schauten uns drei zornig und mit enttäuschten Blicken an.

Gudmund fuhr fort, ihnen mit Stab und Stimme zu drohen. Und es war klar, sie hatten schon Respekt vor ihm bekommen.

Baldur und ich erholten uns rasch von unserer Angst. Ja Baldur wurde bald so kühn, daß er sich neben Gudmund stellte und nun auch mit seinem Stab und seiner Stimme den Bären zu drohen anfing.

Gudmund ließ ihn gewähren und rief ihm ermunternd zu:

»Gut, Baldur! Zeige nur keine Furcht. Das merken die Tiere gleich. Aber geh keinen Schritt weiter vor!«

Diese Worte gaben dem tapfern Baldur noch mehr Mut. Entschieden schaute er den Bären in die Augen und versuchte nach Gudmunds Beispiel, mit seinem Stab nach ihnen zu stechen.

Jetzt schämte ich mich, ganz allein zurückzustehen, und stellte mich an der andern Seite von Gudmund auf, richtete mein kleines Stäbchen wie eine gefährliche Mordwaffe gegen sie und versuchte sogar, ihnen nach dem Beispiel Baldurs mutig in ihre blutgierigen Augen hineinzuschauen.

»Bravo, Nonni! Nur tapfer und kühn! Aber etwas weiter zurück!« sagte Gudmund.

Diese aufmunternden Worte Gudmunds nahmen mir den letzten Rest meiner Furcht weg. Ich stellte mich ein wenig weiter zurück und hatte das Gefühl, als seien die Bären nun auch bange vor mir.

Die gefährlichen Raubtiere machten aber keine Miene, sich von uns zurückziehen zu wollen.

Im Gegenteil, sie verloren uns keinen Augenblick aus den Augen, sondern spähten in gieriger Erwartung auf die erste beste Gelegenheit, einen von uns wegschnappen zu können.

»Länger dürfen wir nicht so stehen«, sagte Gudmund, »sonst sind sie imstande, plötzlich über uns herzufallen.«

»Was sollen wir tun?« fragte Baldur.

»Gute Miene zum bösen Spiel machen. Das ist das erste«, sagte Gudmund.

Nach einer Pause fügte er hinzu: »Uns dreist und keck zeigen. Das ist das einzige, was sie zurückhält …«

Und dann befahl er in stoßweise hingeschrienen Sätzen, den Blick starr auf die Tiere gewandt:

»Wir müssen den Hof langsam zu erreichen suchen … Wenn ich zurückgehe, geht auch ihr zurück. Und immer etwas hinter mir bleiben …«

»Jetzt paßt auf, Kinder! Ich greife sie an. Dann schnell eine kleine Strecke zurücklaufen auf den Hof zu …«

Nach diesen Worten fing Gudmund wieder sein Kriegsgeheul an und sprang, seinen Stab nach vorne richtend, auf die Tiere los.

Wie zornige Hunde wichen sie augenblicklich zurück. Gudmund aber sprang so nah an sie heran, daß er mit der scharfen Eisenspitze seines Stabes dem einen eine tiefe Wunde in die Seite beibrachte.

Sie zogen sich beide weiter zurück, und heulend vor Schmerz setzte sich der verwundete Bär auf den Schnee und leckte das Blut aus seiner Wunde. Er biß sich wütend an der verwundeten Stelle in die Haut, wie wenn er die blutige Öffnung an der Seite auf diese Weise wieder schließen wollte.

Baldur und ich schwangen unterdessen tapfer unsere Stäbe gegen die gefährlichen Feinde.

»Jetzt schnell zurück!« kommandierte Gudmund.

Ohne die Eisbären einen Augenblick aus den Augen zu verlieren, nahmen Gudmund und Baldur mich in die Mitte und liefen, so schnell es nur ging, nach dem Hof, den Abhang hinauf.

Doch es dauerte nicht lange, da setzten sich die Bären schon wieder in Bewegung und liefen uns nach.

»Halt!« befahl Gudmund und drehte sich wieder gegen die furchtbaren Verfolger um. Laut schreiend drohte er ihnen mit seinem spitzen Stab und zog ihnen wie vorher unerschrocken entgegen. Mutig stellten wir uns neben ihm auf und suchten ihn in seinen Bewegungen und seinem Schreien nachzuahmen.

Wie immer wichen die Tiere erschrocken etwas zurück, besonders der eine, der soeben verwundet worden war. Jetzt wagte sich Gudmund an den andern heran, und bald gelang es ihm, auch diesem eine empfindliche Stichwunde beizubringen.

Das vorige Manöver wiederholte sich, und so kamen wir dem Hofe wieder um eine kleine Strecke näher. So ging es weiter, wohl ein dutzend Mal.

Mehrmals hatte Gudmund mit seinem Stab den beiden Unholden Stichwunden beigebracht – jedesmal wichen sie dann zurück, ließen aber doch nicht von uns ab. »Sie sind feige«, sagte Gudmund, »aber der Hunger treibt sie. – Die große Gefahr für uns ist, daß sie plötzlich in einem Wutanfall sich auf uns stürzen.«

Endlich waren wir Skipalon auf etwa hundert Schritt nahe gekommen.

Ich war sehr müde geworden, strengte mich aber aufs äußerste an, mutig und tapfer zu bleiben wie Gudmund und Baldur.

Doch trotz aller Anstrengung strauchelte ich häufig und fiel in dem Schnee um, wenn wir uns vor den grausigen Bestien zurückzogen.

Das flößte Gudmund Besorgnis ein.

»Es ist sonderbar«, sagte er, »daß niemand uns vom Hof aus gesehen oder unsere Rufe gehört hat.«

»Sie sitzen alle in der Wohnstube«, sagte Baldur. »Da können sie nichts hören.«

»Wir wollen aber doch versuchen, um Hilfe zu rufen«, fuhr Gudmund fort. »Wenn nur einige Männer uns zu Hilfe kämen, dann würden wir bald gerettet sein.«

Wir wandten uns nun, sooft unsere schreckliche Lage es uns erlaubte, gegen den Hof und riefen:

»Hilfe! Hilfe!«

Die durchdringende Donnerstimme Gudmunds dröhnte mit einer solchen Kraft, daß sie schließlich bis in die innersten Räume des Hofes hineindrang.

Auf einmal hörten wir kräftige Rufe, die von dem Hauptgebäude von Skipalon kamen.

Bald wurden auch neben den Häusern einige Gestalten sichtbar.

Man hatte nicht nur unsere Rufe gehört, sondern uns auch gesehen und unsere gefährliche Lage überschaut.

»Wir kommen euch gleich zu Hilfe«, riefen bald darauf einige kräftige Männerstimmen, und wenige Minuten später verließen drei bewaffnete Männer den Hof und kamen im Laufschritt auf uns zu.

Einer von ihnen trug eine Vogelflinte in der Hand, die zwei andern hatten spitze, eiserne Stangen.

Die Bären stutzten, als sie die drei neuen Gegner erblickten, wichen aber doch um keinen Fußbreit zurück.

Als die drei Männer uns erreicht hatten, stellten sie sich vorsichtig etwas hinter Gudmund auf.

»Danke euch, daß ihr kamet«, rief Gudmund ihnen zu.

»Sind sie schlimm?« fragte der eine der drei Männer.

»Etwas feige, aber doch gefährlich«, erwiderte Gudmund. »Sie wagen nicht anzugreifen, verlassen uns aber nicht … Sie sind hungrig. Es ist ihnen nicht zu trauen.«

»Wie lange habt ihr schon mit ihnen zu tun gehabt?«

»Wohl ein paar Stunden, denke ich.« –

»Was hast du in deiner Flinte?« fragte Gudmund nach einer Pause den Mann mit der Schußwaffe.

»Leider nur kleinen Schrot. Kugeln sind keine da.«

»Dann um Gottes willen keinen Schuß abgegeben!« sagte Gudmund, »wenigstens jetzt nicht. Schrot tut ihnen nicht weh. Und es ist unsicher, was für eine Wirkung das haben würde. Es könnte sie nur noch wilder machen.«

»Dann bringe ich die Flinte in den Hof zurück und hole mir einen spitzen Stab.«

»Das wird das beste sein«, sagte Gudmund.

»Soll ich die Knaben nicht mitnehmen?« fragte der Mann.

»Nein«, versetzte Gudmund, »es ist noch zu früh. Die Bestien würden ihnen sofort nachlaufen. Und es ist nicht gesagt, daß wir sie dann retten könnten.«

Der Mann lief nach dem Hof, immer vorsichtig zurückschauend.

Die Eisbären schauten ihm nach und machten Miene, an uns vorbeizulaufen, um ihm nachzusetzen.

Doch durch laute Rufe und drohende Bewegungen lenkte Gudmund ihre Aufmerksamkeit von ihm ab. Sie verblieben in ihrer Kampfstellung uns gegenüber.

Nach einigen Minuten kam der Mann zurück, diesmal mit einem langen, spitzen Stabe.

»Der wird dir bessere Dienste leisten«, sagte Gudmund. Dann fuhr er fort:

»Jetzt greifen wir alle auf einmal an. Doch gehe keiner weiter vor als ich. Wenn sie dann zurückweichen, laufen wir alle eine kleine Strecke auf den Hof zu.«

Mit gewaltigem Kampfgeschrei und drohenden Gebärden und von unsern Bundesgenossen eifrig unterstützt, stürzte sich Gudmund auf die Bären.

Sie wichen wie immer scheu zurück. Und nun liefen wir alle eiligst auf den Hof zu. Doch wieder folgten uns die beiden hungrigen Unholde nach, und so mußten wir sehr bald haltmachen.

Als wir dies Manöver noch ein paar Mal wiederholt hatten, waren wir endlich in der unmittelbaren Nähe des Hauptgebäudes angelangt.

Jetzt bat Gudmund einen unserer drei Helfer, sich vorsichtig nach der Eingangstür zu begeben und dort zu bleiben, um uns den Eintritt in das schützende Gebäude zu erleichtern. Dabei müsse er sorgen, daß die Türe sofort hinter uns verriegelt werden könne, sobald wir hineingeschlüpft wären.

Der Mann ging. Kurz darauf ertönte seine Stimme von der Eingangstür her:

»Alles in Ordnung!«

Gudmund sagte zu dem einen der beiden Männer, welche noch bei uns waren:

»Wir beide machen jetzt unsern letzten Angriff auf die Tiere. Unterdessen läufst du« – er wandte sich zu dem andern – »mit den Knaben nach der Türe und rettest sie und dich in den Hof hinein. Darauf kommen wir beide nach.«

Der Plan Gudmunds wurde ausgeführt.

Baldur nahm mich bei der Hand, und es gelang uns, mit unserem Gefährten in den Hof hineinzuschlüpfen. Doch als Gudmund selbst und der letzte Mann, der noch bei ihm war, nach der Eingangstür laufen wollten, waren die Bären ihnen wieder so auf den Fersen, daß sie den Eingang nicht mehr erreichen konnten. Die Türe mußte in aller Eile verriegelt werden, während sie noch draußen waren.

Kaum war ich mit Baldur in den kleinen Vorraum hineingestürzt, da fiel ich schon in die Arme der guten Hausmutter, die dort totenblaß vor Angst auf mich wartete.

Ich fand sie vor Furcht und Sorge um mich mehr tot als lebendig. Sie schloß mich schweigend in ihre Arme, übergoß mich mit ihren Tränen und wollte mich nicht mehr loslassen. Ich merkte, daß sie mich in die Wohnstube bringen wollte.

Doch ich war um das Leben Gudmunds so besorgt, daß ich mich ebenso freundschaftlich wie entschieden von ihr losriß und in meiner Angst um den treuen Knecht ausrief: »Gudmund ist noch draußen. Wir müssen ihm helfen.«

Sie mußte mich gehen lassen. Die zwei Männer, die uns vorher geholfen hatten, standen hinter der verriegelten Türe und schauten durch einen Riß hinaus.

Ich lief zu ihnen und bat sie, doch zu Gudmund hinauszugehen, um ihm draußen weiter zu helfen.

Sie wandten sich freundlich zu mir hin, und der eine von ihnen sagte:

»Sei doch nicht so bange um Gudmund, kleiner Freund, er wird bald zu uns hereinkommen. Der beste Dienst, den wir ihm leisten können, ist, daß wir ihm hier bei der Türe helfen, wenn auch er hereinschlüpfen kann. Und das wird er bald können.«

»Darf ich nicht hinausschauen?« bat ich.

Der eine der Männer faßte mich mit beiden Händen unter den Armen und hob mich etwas in die Höhe.

»Schau nur einen Augenblick durch den Riß hier oben, Kleiner.«

Ich schaute durch die kleine Öffnung hinaus und sah Gudmund mit dem einen Mann vom Hofe nur wenige Schritte vor der Türe stehen.

Einige Schritte weiter saßen die Bären auf dem Schnee und starrten die beiden Männer an.

Gudmund, der die Natur und die Eigentümlichkeiten seiner gefährlichen Feinde gut kannte, griff sie noch nicht an, sondern wartete den rechten Augenblick ab. So erzählte mir der Mann, der mich hielt.

»Wann wird er sie angreifen und hereinkommen?« fragte ich.

»Das wird er sicher nach einigen Minuten tun«, antwortete der Mann. »Vorher wird er uns aber ein Zeichen geben, damit wir die Türe zur rechten Zeit öffnen. Nachher, wenn er hereingekommen ist, werden wir sie schnell wieder verriegeln … Bist du jetzt beruhigt, kleiner Freund?« fragte mich der Mann.

»Ja«, erwiderte ich. »Aber sorgt dafür, daß Gudmund hereinkommt und nicht von den Bären gebissen wird.«

»Dafür werden wir sorgen. Habe nur keine Furcht!«

Jetzt stellte er mich wieder auf den Boden und sagte:

»Geh nun etwas zurück, Nonni, damit du nicht im Wege stehst, wenn wir Gudmund hereinlassen.«

Ich entfernte mich von der Türe und ging wieder zu der guten Hausmutter zurück. Einige Schritte weiter im Gang stand eine größere Gruppe, meist Frauen, Kinder und alte Leute, die sich um Baldur zusammengedrängt hatten.

Baldur erzählte ihnen unsere Erlebnisse mit den Bären. Es wurden ihm eine Menge Fragen gestellt.

Ich blieb unterdessen bei der Hausmutter stehen und mußte nun auch ihr alles erzählen.

Doch es dauerte nicht lange, da hörten wir die kräftige Stimme Gudmunds draußen. Sofort lief ich nach der Türe hin.

»Seid jetzt bereit, uns einzulassen«, hörte ich ihn sagen. »Sie fangen wieder an unruhig zu werden … Ich gehe jetzt gleich gegen sie vor. Länger darf ich nicht warten … Dann aber laufen wir nach der Türe hin … So …! Jetzt aufmachen …!«

Nach diesen letzten Worten fingen Gudmund und sein Gefährte an, aus Leibeskräften zu schreien. – Sie gingen also gegen die Bestien vor.

Alle mußten sich nun etwas von der Türe zurückziehen. Nur die beiden Türhüter blieben dort und zogen schnell die eisernen Riegel zurück. Jetzt öffneten sie die Türe …! Die Frauen schrien laut auf vor Angst. – Es war ein überaus spannender Augenblick …

Nun mußten Gudmund und sein Helfer zu uns hereinstürzen …

Doch, o Schrecken! Sie kamen nicht …!

Da ich nicht weit hinter der Türöffnung stand, gelang es mir, einen Blick nach außen zu tun. Ich sah Gudmund und den andern Mann oben auf dem Schnee, gerade vor der Türe stehen, den Rücken zu uns gewandt und die Stäbe drohend nach den wilden Tieren gerichtet, und vor ihnen, diesmal aber in fast unmittelbarer Nähe, die schrecklichen Bären …!

»Türe wieder zu!« rief Gudmund mit furchtbar erregter Stimme.

»Das Gewehr! Das Gewehr!« schrie er gleich darauf.

Einer der Männer an der Türe holte in stürmender Hast die mit Schrotkörnern geladene Flinte, welche ganz in der Nähe in einer der Ecken des Vorraums stand, und spannte den Hahn.

Draußen schrien Gudmund und sein Gefährte fortwährend.

Mit dem Mut der Verzweiflung bemühten sie sich, die Bären etwas zurückzutreiben, um sich dann selber in den Hof retten zu können. Aber diesmal ließen sich die hungrigen Raubtiere nicht mehr einschüchtern.

Zu unserem Entsetzen fingen nun auch sie heftig zu brüllen an. Und in diesem Gebrüll war eine Wildheit und eine Wut, die uns allen durch Mark und Bein ging.

Es war klar, jetzt merkten sie, daß ihre Beute im Begriffe stand, ihnen ganz zu entschlüpfen. Unter keinen Umständen aber wollten sie das dulden. Die beiden Männer, die unablässig durch den Spalt an der Türe hinausschauten, befanden sich anscheinend in höchster Spannung.

Der eine von ihnen hielt das geladene Gewehr in der Hand, der andere eine eiserne Stange.

Plötzlich mußten sie draußen etwas Schreckliches gesehen haben; denn blitzschnell fuhren sie auf, stießen beide gleichzeitig einen gellenden Schrei aus, schoben den eisernen Riegel zurück, rissen die Türe auf und stürzten hinaus … Im selben Augenblick ertönte von draußen ein Schmerzensruf, und auf dem Schnee unmittelbar vor der jetzt geöffneten Türe war ein blutiger Knäuel in heftigen Bewegungen zu schauen …

Nur einige Augenblicke blitzte von draußen ein heller Lichtstrahl in meine Augen hinein. Aber in diesem Strahl sah ich, wie die Männer und die Bären sich in einem furchtbaren Ringen in dem blutigen Schnee herumwälzten.

Das zornige Kampfgeheul Gudmunds aber war so stark, daß es das wilde Heulen der Bären übertönte.

In dem schrecklichen Durcheinander erkannte ich Gudmund. Er kämpfte wie ein Held, schlug mit furchtbarer Gewalt um sich und hieb wütend auf die Raubtiere ein, nicht nur mit dem kleinen Stumpf seines Stabes, den er im harten Ringen schon zerschlagen hatte, sondern noch mehr mit seinen starken, steinharten Fäusten.

Die Bären hatten sich also doch zuletzt mit der ganzen Wildheit ihrer Raubtiernatur auf Gudmund und seinen Gefährten geworfen, und nun sollte es zwischen ihnen und den Männern zur Entscheidung kommen.

Eine entsetzliche Angst entstand unter den Frauen und Kindern im dunkeln Hausgang. Die meisten flüchteten weiter nach innen auf die Wohnstube zu.

Doch mehrere ältere Männer und einige beherzte Frauen, die sich schon vorher mit Stangen und spitzen Stäben bewaffnet hatten, drangen mutig nach dem offenen Hausgange hin, um mitzuhelfen, die Bären zu erlegen oder doch wenigstens deren Eindringen in den Gang zu verhindern.

Das Durcheinander vor der Türe wurde immer fürchterlicher. Jetzt waren vier Männer draußen im verzweifelten Kampf mit den vor Wut heulenden Bestien!

Ich stand noch immer in dem Vorraum mit meinem kleinen Stab in der Hand, das spitze Eisen nach außen gerichtet.

»O könnte ich doch mithelfen, um Gudmund zu retten!« Dieser Wunsch brannte heiß in meiner Brust.

Jetzt sah ich die Hausmutter und Baldur mit Stäben bewaffnet mutig nach dem Ausgang eilen.

Ich schämte mich, soweit zurückzustehen, und suchte nun auch vorzudringen. Ich war ja viel mehr als sie verpflichtet, Gudmund zu helfen … Hatte er mich nicht den größten Teil des Weges auf seiner Schulter getragen und so gut und so treu für mich gesorgt?

Ich mußte voran …

Ich war ja nicht bange … Ich hatte ja den Bären stundenlang in ihre Augen geschaut … Nein, ich war nicht bange …

So rollten die Gedanken in meinem kleinen Kopf herum, während ich da hinter den Angreifern stand.

Jetzt knallte plötzlich ein Schuß …!

Wegen der vielen Leute, die vor mir standen, konnte ich nicht mehr gut sehen, was draußen vor sich ging. Doch glaubte ich zu merken, daß der kämpfende Knäuel vor der Türe sich auf einmal vom Eingang etwas entfernte. Ein Zeichen, daß die Tiere zurückwichen.

»Schnell, alle Mann hinein!« dröhnte eine Stimme draußen.

Ein plötzliches Hineindrängen folgte. Die Leute, die vor mir standen, schoben sich so heftig nach rückwärts, daß ich beinahe umgeworfen worden wäre. Es kam mir im Halbdunkel vor, als würde eine schwarze Masse von den Männern da vorne durch die Türe in den Vorraum hineingeschleift.

Ein Stöhnen und Keuchen und einige hastig ausgesprochene Worte wurden hörbar. »Schnell, schnell …! Kein Augenblick zu verlieren …! Er kommt wieder …! Türe zu …! Riegel vor …!« Die Türe wurde rasch zugeschlagen und verriegelt, und dann wurde es ruhig.

Es war aber auch fast ganz finster geworden im kleinen Vorraum und im Gang drinnen, seitdem die Türe geschlossen worden war.

Beim Herumtappen stieß ich in der Dunkelheit auf Baldur, und gleich darauf fand mich die Hausmutter wieder, faßte mich bei der Hand und hielt mich fest.

»Wie ist es?« fragte ich lebhaft. »Und wo ist Gudmund?«

Bevor sie antworten konnte, wurden wir gegen die eine Seitenwand des Vorraumes gedrückt, und von der Türe her kamen einige Gestalten. Sie gingen schweigend an uns vorbei und schienen gemeinsam etwas Schweres zu tragen. Sie begaben sich mit ihrer Bürde in die Wohnstube. Die meisten andern folgten nach. – Wegen der Dunkelheit war es mir unmöglich, zu entdecken, ob Gudmund dabei war.

An der Türe blieben ein paar Männer zurück, um dort Wache zu halten.

»Gehen wir in die Wohnstube, mein lieber Nonni«, sagte die Hausmutter.

»Aber wo ist Gudmund?« fragte ich wieder.

»Er wird wohl mit in die Wohnstube hineingegangen sein«, antwortete sie.

»Hast du ihn gesehen, Baldur?« fragte ich meinen Freund.

»Ja, Nonni«, erwiderte er. »Er hat sehr tapfer gegen die Bären gekämpft. Aber am Ende fiel er auf den Schnee. Ich fürchte, daß er eine Wunde bekommen hat.«

»Konnte er wieder aufstehen, Baldur?«

»Ja, er hat sich gleich wieder aufgerichtet. Ich glaube, daß er ohne Hilfe gehen konnte.«

»Und was war es, was die Leute durch den Gang hineintrugen?« fragte ich weiter.

»Das war der andere, der mit ihm draußen war.«

»Ist ihm etwas Schlimmes zugestoßen?«

»Ja, Nonni, er wurde von den Bären gebissen.«

»Der arme Mann! Ob die Bären wohl tot sind?« fragte ich weiter.

»Leider nicht, Nonni«, antwortete die Hausmutter. »So schnell geht es nicht mit diesen schrecklichen Raubtieren. Die Leute hatten auch keine ordentlichen Waffen.«

»Der arme Gudmund mußte mit den Fäusten gegen sie kämpfen«, bemerkte Baldur.

»Ach, hätte er doch ein langes, scharfes Messer gehabt«, sagte ich, »dann hätte er sie sicher getötet.«

»Ja, das glaube ich auch«, sagte Baldur. »Gudmund ist der mutigste und stärkste Mann, den ich kenne.«

»Ja, er ist ein Held«, fügte die Hausmutter hinzu.

»Sollten wir nicht einmal durch die Türe hinausschauen, ob wir die Bären sehen können«, schlug ich vor.

Wir gingen nach der Türe. Die beiden Männer, die da standen, wandten sich um.

»Sind die Bären noch da?« fragte ich.

»Komm und schau, Kleiner«, sagte der eine von ihnen. Er faßte mich unter den Armen und hob mich in die Höhe, so daß ich durch den Spalt hinaussehen konnte.

Ich fuhr aber unwillkürlich zusammen. Unmittelbar vor der Türe stand nämlich der eine der Eisbären und schnüffelte überall an dem Eingang herum. Einige Schritte weiter lag der andere auf dem Schnee und leckte seine Wunden.

Dieser letzte war augenscheinlich hart mitgenommen. Der an der Türe aber schien noch gut bei Kräften zu sein. Doch war sein zottiger, weißer Leib mit vielen blutigen Flecken bedeckt.

Jetzt fuhr ich erschrocken zurück: das Tier stellte sich auf die Hinterbeine und kam mit seinem Kopf bis an die kleine Öffnung, durch welche ich hinausschaute. Es schien mich gewittert zu haben und schnupperte an dem kleinen Riß herum. Dann kratzte es mit seiner Pranke an der Türe, als ob es sich Eingang erzwingen wollte.

Ich hatte genug gesehen. Der Mann stellte mich wieder auf den Boden.

Jetzt schaute auch die Hausmutter durch den Riß hinaus, wich aber entsetzt zurück, als sie den offenen Rachen des wilden Tieres unmittelbar vor sich sah.

»Aber er bricht uns am Ende in den Hof herein!« rief sie in ihrer Angst aus.

»Das wäre schlimm«, erwiderte der eine Mann. »Doch wir wollen hoffen, daß die Türe standhält.«

Baldur, der soeben durch die Öffnung hinausschaute, sagte eifrig:

»Wo ist die Flinte? Man könnte ihm ja gleich eine Ladung Schrot durch den Riß mitten in den Kopf hineinjagen.'

»Ja, wenn wir nur die Flinte hätten!« antwortete der Mann. »Die ging aber während des Kampfes draußen verloren und liegt jetzt irgendwo im Schnee.«

»Gebe Gott, daß es dem Tiere nicht gelingt, die Türe einzudrücken!« sagte noch einmal die besorgte Hausmutter.

Wir begaben uns nun alle drei durch den langen Hausgang in die Wohnstube hinein. Fast alle Bewohner des Hofes waren dort versammelt, Männer und Frauen, groß und klein.

Nur einige wenige, die sich auf die Arzneikunst verstanden, waren in einem kleinen Nebenzimmer mit dem im Kampfe schwer verwundeten Manne beschäftigt.

Ich fuhr heftig zusammen, als ich an der halb geöffneten Türe vorbeiging: denn aus dem Innern der kleinen Kammer drang ab und zu ein halbunterdrückter Schmerzensruf, ein Jammern und Stöhnen zu uns heraus. Von der großen Wohnstube her hörten wir aber schon die tiefe Stimme Gudmunds. Sie war ebenso stark wie sonst. Gott sei Dank! dachte ich. Er scheint nicht verletzt zu sein.

Als ich näher kam, sah ich Gudmund auf einem hohen Stuhl sitzen. Die Leute standen um ihn herum. Er erzählte soeben, aber ganz kurz, unsere Erlebnisse am Flusse Hörgá.

»Wir sausten den Hügel hinunter«, sagte er. »Da auf einmal sehe ich gerade vor mir im Flußbett, ganz nah am Ufer, die beiden Bären stehen … Um ein Haar wären wir den Bestien in den offenen Rachen hineingeflogen … Ich rief ›Halt!‹ aus Leibeskräften. Baldur konnte aber nicht so schnell halten und glitt bis in das Flußbett hinein, ein wenig rechts von den Tieren … Mit Mühe gelang es mir, nach rechts zu biegen und zu ihm hin zu gelangen. Dann aber setzten die Raubtiere uns nach …«

Jetzt riß ich mich von der Hausmutter los, drängte mich durch die Leute hindurch und sprang zu Gudmund hin: »Gott sei Dank, Gudmund, daß Sie gerettet sind!« rief ich ihm zu. »Sind Sie gar nicht von den Bären gebissen worden?«

»Mein kleiner Nonni!« rief der starke Mann mir entgegen, hob mich auf und setzte mich auf sein Knie nieder. »Du kleiner Freund! Sei unbesorgt! Ich bin gar nicht gebissen worden. Sie haben nur versucht, mich ein wenig zu kratzen. Das hat aber gar nichts zu sagen.«

»Aber Sie sind doch gefallen, Gudmund?«

»Gewiß, Kleiner. Aber das kam nur daher, weil die Bären mir einige Stöße gaben. Sie sind tüchtig im Schlagen mit den Vordertatzen. Es hat mir aber doch nicht geschadet, Nonni.«

»Also sind Sie gar nicht verwundet?«

»Kaum, Nonni. Es ist mir über alle Erwartung gut gegangen.«

»Wie mich das aber freut, Gudmund!« rief ich ihm zu und schüttelte ihm die starken Hände.

Während ich so mit Gudmund sprach, hatten die Hausmutter und Baldur der kleinen Versammlung erzählt, daß der eine Bär Versuche mache, durch die Türe hereinzubrechen. Die Leute wurden ängstlich. »Es scheint«, rief einer Gudmund zu, »daß die Bären an der Türe rütteln und einzubrechen suchen.«

»So«, donnerte Gudmund, »tun sie das? Und wie ist es mit der Türe? Ist sie stark genug?«

»Das ist gerade die Frage«, sagte jetzt die Hausmutter. »Was würde aber geschehen, wenn die Bestien die Türe eindrückten und bis zu uns in die Wohnstube hereindringen würden!«

Bei diesen Worten schrien einige Frauen laut auf: »Gott im Himmel! Das ist aber entsetzlich! Man muß doch etwas tun, um die Türe zu befestigen.«

Die Stimmung wurde immer aufgeregter, und die Kinder fingen an, laut zu weinen. »Ich schlage vor«, rief Gudmund, »daß man starke Bretter hinter der Türe an die Türpfosten festnagle.«

Sofort liefen mehrere der Leute in die Werkstatt, die dort in der Nähe war, und rafften eiligst einige Bretter und Balken zusammen. Andere holten Hammer und Nägel. Einer zündete eine kleine Laterne an, und dann zogen sie mit Gudmund an der Spitze nach dem Ausgang. Baldur und ich folgten mit und schauten zu.

In kurzer Zeit wurde die Türe von innen so fest verrammelt, daß Gudmund zuletzt erklärte, es sei jetzt keine Gefahr mehr da. Doch blieb ein Mann im Vorraum als Wache zurück.

Auf dem Rückweg zur Wohnstube gingen wir in das kleine Zimmer hinein, wo der Schwerverwundete sich befand.

Seine Wunden waren schon gewaschen und verbunden. Er lag regungslos und mit geschlossenen Augen auf einem Bette.

»Wie steht es mit ihm?« fragte Gudmund eine der Frauen, die ihn behandelt hatten.

»Die Bären haben ihm einen Arm und ein Bein durchgebissen«, sagte die Frau, »und die Knochen dabei zersplittert. Das schlimmste aber ist eine tiefe Kratzwunde an der einen Seite«, fügte sie leise hinzu. »Wenn sie nach innen blutet, kann er nicht gerettet werden. Wenn aber nicht, wird er wohl sicher durchkommen.«

»Der arme Mann!« sagte Gudmund. Dann verließen wir in wehmütiger Stimmung den Verwundeten und gingen wieder in die Wohnstube hinein.

Als Gudmund durch den großen Raum nach seinem Stuhle ging, entdeckte ich zu meinem Schrecken, daß bei jedem Schritt so viel Blut durch seinen Strumpf unten am Fuß durchsickerte, daß Spuren davon am Boden zurückblieben.

»Aber, Gudmund!« rief ich ihm zu, als er sich gesetzt hatte, »Sie müssen am Fuß eine schlimme Wunde haben. Es kommt ja Blut heraus«; ich deutete mit dem Finger auf die blutige Stelle.

»Hier kommt Blut heraus, Gudmund«, wiederholte ich, »es muß Ihnen schrecklich weh tun. Die Bären haben Sie sicher in den Fuß gebissen.«

»Mein kleiner Nonni«, sagte er lachend, hob mich auf und setzte mich wieder auf sein Knie. »Mach dir nur keine Sorge. Es ist eine ganz unbedeutende kleine Wunde.«

»Tut sie Ihnen nicht weh, Gudmund?« fragte ich besorgt.

»Beruhige dich nur, mein kleiner Freund. Ich fühle kaum etwas davon.«

»Wäre es aber nicht doch besser, Gudmund, den Strumpf auszuziehen und die Wunde gleich zu verbinden?« fragte jetzt einer der Leute.

»Ich danke sehr für die Teilnahme«, sagte Gudmund freundlich. »Aber um Gottes willen, sprechen wir gar nicht mehr davon! Später kann mein Fuß verbunden werden. Jetzt aber haben wir über etwas Wichtigeres zu sprechen, was viel mehr eilt.«

»Und was ist das, Gudmund?« fragte ich gespannt.

»Das ist die Frage, wie wir den beiden gefährlichen Raubtieren den Garaus machen können. Wir müssen unbedingt die beiden Bären sobald als möglich töten. Sonst könnten sie am Ende doch noch bei uns einbrechen. Und was würde dann aus den Frauen und Kindern werden? – Das ist es, was wir jetzt sofort besprechen und besorgen müssen. Alles andere muß warten.«

»Bravo, Gudmund!« riefen einige Männer aus. »Gott segne Sie, Gudmund!« wiederholten mehrere der Frauen und Kinder.

Der Hausvater, ein sehr kluger, aber schon alter und etwas kränklicher Mann, trat jetzt näher an Gudmund heran, reichte ihm die Hand und sagte:

»Ich danke Ihnen herzlich für diese klugen und mannhaften Worte. Sie haben recht: die Bären werden den Hof nicht mehr verlassen. Sie werden weiter versuchen, bei uns einzubrechen. Und wenn ihnen das gelingt, dann sei uns Gott gnädig! Wenn ihnen das aber auch, wie ich hoffe, nicht gelingt, dann werden sie doch bald den Eingang zu den Ställen finden, und dann weh den Kühen, Pferden und Schafen, die dort sind! In jedem Falle ist es notwendig, daß wir sogleich untereinander ausmachen, wie wir diese ungebetenen Gäste unschädlich machen. – Haben Sie schon einen Plan, Gudmund?«

»Ja, ich habe schon an etwas Bestimmtes gedacht und möchte es jetzt sogleich ausführen.«

Es wurde still in der Stube. Die Leute drängten sich in größter Erwartung näher an Gudmund heran und horchten.

»Ich habe gehört«, begann Gudmund, »es seien keine Schußwaffen da. Ist das wahr?«

»Leider ist es so«, sagte der Hausvater, »wir haben nur eine Vogelflinte. Sie liegt aber jetzt draußen im Schnee.«

»Gut«, sagte Gudmund, »so müssen wir ohne sie fertig werden. – Haben Sie einige lange, starke und scharfe Messer da?«

»O ja, das haben wir«, sagte der Hausvater und ging sogleich in sein Zimmer hinein. Nach ein paar Minuten kam er zurück mit einer Handvoll Messer.

Sie waren etwa anderthalb Fuß lang. Die Klingen waren spitz, sehr stark und scharf. Die Griffe waren aus Horn. Sie dienten teils zum Schlachten der Tiere, teils zum Abrasieren der Wolle von den Schaffellen.

In den Augen Gudmunds leuchtete es vor Freude auf, als er die prächtigen Waffen erblickte.

Der Hausvater legte die Messer vor ihn auf den Tisch. Gudmund untersuchte sie nacheinander. Er bog die Klingen nach beiden Seiten, prüfte die Schneide und wählte sich dann das stärkste und schärfste aus.

Der Hausvater aber machte ein besorgtes Gesicht und fragte:

»Haben Sie vor, einen zweiten Nahkampf mit den Bären zu wagen?«

»Ja«, erwiderte Gudmund ruhig lächelnd, aber in einem festen, entschiedenen Tone. »Es muß unbedingt wieder zu einem Nahkampf kommen.«

Der Hausvater schwieg, warf aber einen Blick nach dem kleinen Nebenzimmer, in welchem der Schwerverwundete lag.

»Ich verstehe Ihre Sorge«, sagte Gudmund. »Ich bitte Sie aber, sich zu beruhigen. Keiner Ihrer Leute wird in diesem Kampfe verwundet werden.«

»Wie können Sie das so sicher wissen?« fragte der Hausvater. »Einer der Leute wurde doch beim letzten Zusammenstoß schwer verwundet.«

»Es ist wahr. Aber beim zweiten wird das nicht mehr geschehen. Ich allein werde zu den Bären hinausgehen.«

»Gudmund!« rief ich bestürzt aus.

»Habe keine Furcht, Nonni. Es wird gut gehen.«

»Aber wir lassen das nicht zu«, widersprachen die jungen Männer entschieden. Und sofort drängten sich einige bis zu dem Tisch und wählten sich ein jeder ein Messer aus.

»Selbstverständlich gehen wir mit«, riefen sie jetzt fest entschlossen.

»Nein«, wehrte Gudmund ebenso entschlossen ab. »Ich allein kenne genau unsere beiden Gegner. Ich werde sicher allein mit ihnen fertig werden.« Doch es half ihm nichts. Die jungen Männer bestanden so fest darauf, mit ihm hinauszugehen, daß er schließlich seinen Widerstand aufgeben mußte.

Selbst Baldur wollte sich ein Messer holen. Es wurde ihm aber verwehrt, weil er zu jung sei.

»Jetzt bitte ich aber, Anführer sein zu dürfen«, sagte Gudmund nach einer Pause. Darauf gingen alle ein.

Während wir in der warmen Wohnstube über den bevorstehenden unheimlichen Kampf miteinander sprachen, war es draußen ganz finster geworden, und die Kälte war noch grimmiger als vorher. Doch Nebel und Wolken waren verschwunden und die Sterne traten nach und nach am blauen Polarhimmel hervor.

Auf einmal ging der goldene Mond über dem nächsten Bergrand auf und übergoß die nächtliche Schneelandschaft mit seinem milden Glanze. In einem Nu hatte er auf der riesigen Schneedecke Millionen von schimmernden Perlen und Edelsteinen hingestreut, so daß sie mit ihm um die Wette glühten und leuchteten.

Ein goldiges Nordlicht entbrannte noch dazu plötzlich am Himmelsgewölbe und sprühte goldigglühende Funken nach allen Richtungen hin durch den ganzen Himmelsraum. Die dunkle Nacht war in lauter Licht und loderndes, strahlendes Feuer verwandelt. Die stillen, nächtlichen Luftregionen waren zu einem riesigen Fest- und Hochzeitssaal geworden, in welchem Millionen von funkelnden, flammenden Lichtern für eine zauberhafte Beleuchtung sorgten.

Und mitten in dieser Herrlichkeit sollte ein Kampf auf Leben und Tod zwischen grausigen Raubtieren und einigen Menschen stattfinden.

Als die ersten goldenen Nordlichtstrahlen von draußen in die Stube hineindrangen, warf Gudmund einen Blick nach dem Fenster und sagte:

»Der Himmel ist klar, und wir haben Nordlicht. Etwas Besseres können wir uns nicht wünschen.« Dann stand er auf, schaute sich seine Mitkämpfer an und wählte aus ihnen die vier stärksten aus.

Sie sollten mit ihm hinausgehen, dann aber alle vier nur gegen den einen der beiden Bären kämpfen, während Gudmund allein sich mit dem andern messen wollte. Von den übrigen Leuten sollten die kräftigsten bei dem Eingang bleiben und die Türe bewachen.

Die Männer mußten sich, obwohl widerstrebend, diesen Bestimmungen unterwerfen.

»Jetzt müssen wir für unsere Rüstung sorgen«, sagte Gudmund. »Ohne Panzer und Brünne wollen wir uns den Zähnen und Klauen der Bären nicht aussetzen.«

Man meinte, er wolle scherzen, und einer der Leute fragte: »Aber wo nehmen wir Panzer und Brünne her?«

»Habt ihr die Heutaue hier in der Nähe?« fragte Gudmund.

»Gewiß«, lautete die Antwort. »Sie sind alle in einem kleinen Raum draußen am Gang.«

»Bringt sie alle herein«, bat Gudmund.

Die isländischen Heutaue sind sehr starke, fingerdicke Taue, aus Roßhaar geflochten. Sie sind leicht und biegsam und werden gebraucht, um das trockene Heu in große Bündel zusammenzubinden. Die Heubündel werden auf Pferde geladen und so in die Heuscheunen gebracht.

Frauen, Männer und Kinder, die hinausgelaufen waren, um sie zu holen, brachten eine Menge dieser Taue in die Wohnstube und warfen sie vor Gudmund auf den Boden.

»Sie sind gut«, sagte er, nachdem er sie untersucht hatte. »Jetzt wickeln wir sie sorgfältig um unsere Arme und Beine und um den Leib«, befahl er.

Seine Mitkämpfer kamen sofort seinem Befehle nach. Auch er fing gleich an, ein Tau um seinen linken Arm zu wickeln.

»Keine Stelle darf frei bleiben«, ermahnte er. Die übrigen Leute halfen ihm und seinen Kampfgenossen bei dieser wichtigen Arbeit.

Bald waren ihre Arme von oben bis unten mit den leichten, biegsamen Tauen umwunden. Dann kamen die Beine an die Reihe und dann endlich der Rumpf. Die Enden der Taue wurden sorgfältig befestigt, damit sie sich während des Kampfes nicht lösten. Dann wurde der Kopf, so gut es ging, in Schafleder eingewickelt, doch so, daß Ohren und Augen frei blieben.

Als diese Arbeit fertig war, sahen die fünf Männer aus wie alte Ritter aus dem Mittelalter, die in Brünnen und eigenartigen Ringpanzern in den Kampf zogen.

»Jetzt sind wir, soweit es möglich ist, gegen die scharfen Krallen der Tiere geschützt, und auch in etwa gegen ihre Zähne«, sagte Gudmund.

Jeder nahm nun das scharfe Messer in die Hand, das er sich vorher gewählt hatte. Dann bat Gudmund sie, seinen Kriegsplan anhören zu wollen.

»Der eine der beiden Bären«, sagte er, »wurde vorher ziemlich stark verwundet. Trotzdem kann er aber noch ein gefährlicher Gegner sein. Der andere ist noch bei voller Kraft. Gegen diesen werde ich den Kampf allein aufnehmen. Meine vier Helfer werden den andern angreifen.«

Die vier Männer wollten noch einmal gegen diese Bestimmung protestieren. Doch Gudmund blieb fest.

»Es ist besser so«, sagte er. »Ich habe die beiden Bären auf dem Wege vom Flusse bis zum Hof genau kennen gelernt. Ihr seid in diesem Punkt im Nachteil und werdet genug Arbeit haben mit dem verwundeten Tier. Wenn ihr es getötet habt, könnt ihr mir immer noch zu Hilfe kommen. Aber nehmt euch in acht vor den Zähnen des Tieres und noch mehr vor den Schlägen seiner Vordertatzen. Die Eisbären stellen sich gern auf die Hinterbeine und können furchtbare Schläge erteilen. Durch einen einzigen Schlag mit der Vordertatze können sie leicht den Arm aus dem Gelenk schlagen. Und gelingt es ihnen, ihren Feind auf den Kopf zu treffen, dann ist ein solcher Hieb meist tödlich …!«

Während er so sprach, ertönte plötzlich oben auf dem Dache der Wohnstube ein fürchterliches, starkes Gepolter.

Erschreckt fuhren die Leute zusammen.

Im nächsten Augenblick rasselten die Scheiben des Dachfensters und fielen klirrend auf den Boden herunter.

Gleich darauf hörte man das Schnüffeln und Schnaufen des einen Bären an dem jetzt offenen Fenster, und zur gleichen Zeit zeigte sich ein langbehaarter, zottiger Kopf in dem Fensterrahmen in unmittelbarer Nähe über uns …!

Das Dach war mit Schnee bedeckt, vom Fenster aber hatte man den Schnee weggeschaufelt, und nun war das Raubtier auf das niedrige Dach hinaufgeklettert und hatte den Weg zum Fenster gefunden.

Man kann sich die Angst der Frauen und Kinder denken.

»Er fällt durch das Dach in die Wohnstube herein!« schrie eine Frau in höchster Aufregung.

Bei diesen Worten stoben die Frauen und Kinder auseinander und flohen aus der Wohnstube in den Hausgang hinaus.

Nur Gudmund, seine bewaffneten Gefährten und einige andere Männer blieben.

Blitzschnell schob Gudmund einen Tisch unter das Fenster, stellte einen Stuhl darauf und sprang hinauf mit dem Messer in der Hand.

Doch unerschrocken und mit halbgeöffnetem Rachen starrte ihn der Bär mit bohrenden, stechenden Blicken an und schien nicht gesonnen, vom Fenster weichen zu wollen.

Rasch entschlossen stieß ihm Gudmund sein scharfes Messer mitten in den offenen Rachen.

Das Tier taumelte zurück und zeigte sich nicht mehr.

Mittlerweile erschienen mehrere Männer und sogar auch Frauen mit spitzen Stäben und Stangen in der Hand wieder in der Wohnstube.

»So ist es recht!« rief Gudmund ihnen zu. »Ihr werdet euch mit diesen Waffen leicht gegen das Untier verteidigen können. Steigt nur auf Tische und Stühle und stoßt ihm die Stangen in den Kopf, sobald er sich wieder am Fenster zeigen sollte.«

Die Leute bekamen Mut. Nur die Kinder und die Alten blieben im Gang zurück.

Wegen der veränderten Lage und zur größeren Sicherheit der Leute bat Gudmund einen der »gepanzerten« Männer, in der Wohnstube zurückzubleiben, um unter dem Dachfenster Wache zu halten, während er selber mit den drei andern sich ins Freie begab.

»Drei werden gegen das verwundete Raubtier genügen«, meinte er.

Er bat sodann die Leute, guten Mutes zu sein. »Es ist nichts zu fürchten«, versicherte er. »Bald wird alles vorüber sein.«

Dann ging er mit seinen drei Kameraden aus der Stube hinaus.

»Gott stehe euch bei!« riefen die Leute im Gang Gudmund und seinen drei Mitkämpfern zu, als sie den Ausgang erreicht hatten.

Im Augenblick der höchsten Gefahr hatte die gute Hausmutter mich am Arme gefaßt und mit sich in den Gang hinausgeführt. Auch Baldur hatte sich zu uns gesellt.

Als die vier Bewaffneten an uns vorbeigegangen waren, bat ich die Hausmutter und Baldur, nach dem Ausgang mitzugehen.

Sie taten es. Wir gingen Gudmund nach, und so standen wir bald wieder draußen im kleinen Vorraum, während die vier Männer die verriegelte und verrammelte Türe aufzureißen suchten.

Die Hausmutter hielt mich aber beständig beim Arme fest, bereit, mit mir durch den Gang zu entfliehen, sobald uns eine Gefahr von draußen drohen würde.

Als die Türe den Hammerschlägen der Leute nachgegeben hatte, sprangen Gudmund und seine Gefährten rasch ins Freie hinaus.

Der Ausgang wurde eiligst wieder geschlossen und fest verrammelt. Ein paar Männer mit Stäben und Stangen hielten dort Wache.

Nun konnten wir nichts mehr sehen. Wir standen daher ganz still und horchten gespannt nach jedem Laut, der von draußen zu uns hereindringen würde.

Lange brauchten wir nicht zu warten. Denn bald ertönte lautes Rufen und Schreien der kämpfenden Männer.

Ein markerschütterndes Heulen und Brüllen der zähen, starken Raubtiere mischte sich dazwischen.

Gudmunds Kampf mit dem noch fast unverwundeten Bären mußte hinter den Gebäuden stattfinden, denn von dort her schien uns seine starke Stimme zu kommen.

Die drei andern dagegen kämpften vor dem Haus.

»Es ist doch fürchterlich!« sagte die Hausmutter erschauernd, »besonders da der Ausgang des Kampfes doch immer noch ungewiß ist.«

»Gudmund sagte, daß er den Bären ganz sicher töten werde«, tröstete ich sie.

»Das wird er auch sicher tun«, fügte Baldur hinzu.

»Ja, möge es ihm nur gelingen!« versetzte die gute Frau; »beten wir doch ein Vaterunser für die armen Menschen draußen.«

»O ja, das wollen wir tun«, erwiderte ich, »besonders für Gudmund.«

Wir zogen uns ein wenig in den Gang zurück und beteten dort alle drei halblaut ein Vaterunser.

»Jetzt wird Gott ihnen ganz sicher helfen«, sagte ich, als wir fertig waren.

»Ja, das wird er, mein gutes Kind«, fügte die Hausmutter leise hinzu.

Das unheimliche schauerliche Heulen und Schreien draußen in der prachtvollen Polarnacht wollte aber kein Ende nehmen.

Es regte uns auf die Dauer sehr auf. Schließlich konnten wir es kaum mehr aushalten.

»Mein Gott, mein Gott! Wie wird es enden!« wiederholte die Hausmutter ein um das andere Mal.

»Aber es wird sicher gut enden. Wir haben zu Gott darum gebetet«, suchte ich sie zu trösten.

»Ja, ja, Nonni, du hast recht, es wird gut enden. Ich bin nur immer etwas bange.«

Doch plötzlich schien das Heulen und Schreien vor dem Hause schwächer zu werden. Hinter dem Hause aber schien es zuzunehmen.

»Gehen wir nach der Wohnstube zurück«, bat ich. »Dort werden wir besser hören, wie es Gudmund geht.«

Schweigend gingen wir durch den langen Gang nach der Wohnstube hin.

Je weiter wir gingen, desto stärker wurde das Kampfesgeschrei Gudmunds.

Als wir in den großen Raum hineintraten, horchten alle in atemloser Spannung dem Kampfgepolter zu.

Gudmund mußte mitten im blutigen Ringen stehen; denn hier drang seine tiefe Stimme und ab und zu auch das unheimliche Heulen des Eisbären klar und deutlich durch das offene Fenster zu uns herein.

Der schwere Kampf mußte ganz in der Nähe stattfinden. Das konnte man deutlich hören.

Auf einmal aber entfernte sich das Kampfgetümmel.

»Der Eisbär entweicht«, sagten einige.

»Gudmund läuft ihm aber nach«, bemerkten andere.

So mußte es auch sein, denn seine Stimme drang aus einer immer größeren Entfernung zu uns herüber.

Schließlich konnte man ihn kaum mehr hören.

»Wenn ihm nur nichts Schlimmes zustößt!« äußerte die Hausmutter.

Der Mann, der auf dem Tische unter dem zerbrochenen Fenster stand, sagte:

»Ich will doch einmal hinausschauen.«

Er schwang sich in die Höhe durch das Fenster hindurch und stand einen Augenblick später auf dem Dache.

»Der Bär flieht nach dem Flusse, und Gudmund setzt ihm nach«, verkündete er. Dann wandte er sich an die Männer, die in der Stube waren.

»Jetzt könnt ihr sicher ohne mich fertig werden. Ich laufe zu Gudmund hin und suche ihm zu helfen.«

Er sprang vom Dache hinunter und lief Gudmund und dem Bären nach.

Da man fast nichts mehr von Gudmund hören konnte, sagte ich zur Hausmutter:

»Sollten wir nicht wieder nach dem Ausgang gehen, um zu sehen, was die andern machen?«

Sie willigte ein, und so zogen wir wieder durch den langen Hausgang bis nach der Außentür.

Als wir dort anlangten, wurde von draußen an die Türe gepocht.

»Wer da?« riefen die Wachtleute.

»Macht nur auf. Der Bär ist tot.«

Die Türe flog auf, und ganz mit Blut überströmt traten die drei Männer ein, welche mit dem verwundeten Bären gekämpft hatten.

»Seid ihr verwundet?« fragte die Hausmutter.

»Nur wenig. – Aber wo ist Gudmund?«

»Man hört nichts mehr von ihm«, erwiderte sie. »Er hat hinter dem Hof gekämpft. Der Bär scheint aber fortgelaufen zu sein, und Gudmund verfolgt ihn.«

»Dann wollen wir ihn aufsuchen«, sagten die drei. »Vielleicht können wir ihm noch helfen.«

In meinem Eifer für die Rettung Gudmunds wollte ich den kurzen Bericht der Hausmutter noch vervollständigen.

Ich lief daher zu den drei Männern hin und erzählte ihnen, was ich in der Stube erlebt hatte:

»Gudmund hat hinter dem Haus lange gekämpft«, sagte ich. »Dann lief der Bär fort und Gudmund hinter ihm. Seither haben wir nichts mehr gehört.«

»Nach welcher Seite sind sie fortgelaufen, Kleiner?« fragten sie.

Ich zog sie mit mir hinaus, und indem ich ihnen mit der Hand die Richtung andeutete, sagte ich:

»Von dort haben wir zuletzt die Stimme Gudmunds gehört.«

»Dann ist der Bär nach dem Fluß hinuntergelaufen?«

»Ja, nach dem Fluß. Gerade denselben Weg, den wir gekommen sind. Aber etwas nach rechts. – Und einer von den Männern aus der Wohnstube ist soeben dem Gudmund nachgelaufen«, fügte ich noch hinzu.

»Jetzt wissen wir genug, kleiner Nonni.«

Zur größeren Sicherheit wandten sie sich aber noch an die Hausmutter und Baldur. Und als diese alles bestätigten, was ich ihnen erzählt hatte, machten sie sich auf, liefen nach dem Fluß hinunter und verschwanden in der Ferne.

»Jetzt wird aber alles gut gehen«, sagte ich voll Freude zu der Hausmutter, »denn jetzt sind sie im ganzen fünf Mann gegen den Bären.«

»Ja, wir können nun das Beste hoffen, Nonni«, sagte die gute Frau.

Baldur schaute immer nach dem Flusse hin. Plötzlich wandte er sich zu der Hausmutter und rief aus:

»Ich möchte auch hinlaufen, um Gudmund zu helfen. Meinen Sie nicht …?«

»Nein, Baldur. Um Gottes willen tu es nicht! Man kann noch nicht wissen, wie es mit dem Bären steht. Diese sind fürchterlich zäh und gefährlich.«

Auch die Türhüter, welche diese Worte gehört hatten, mahnten uns, wieder hineinzugehen.

»Wir sind dafür verantwortlich«, sagten sie, »daß kein Unglück geschieht.«

Wir folgten ihrem Rat und gingen hinein. Die Türe wurde wieder verrammelt, und dann begab ich mich mit Baldur und der Hausfrau nach der Wohnstube.

»Der Bär vor dem Hause ist erlegt«, erzählten wir den Leuten, »und jetzt sind vier Männer bei Gudmund, um ihm zu helfen.«

War das aber eine Freude, besonders unter den Frauen und Kindern! Jetzt war man des Sieges sicher. Alle Gefahr würde bald vorbei sein. Einer der Leute, die in der Wohnstube waren, kletterte nun, wie vorher der Bewaffnete, auf das Dach hinauf, um Ausschau zu halten.

»Kannst du etwas sehen?« rief man zu ihm hinauf.

»Ich sehe nur die drei, welche nach dem Fluß hinunterlaufen. Sie werden bald dort sein.«

Wir warteten nun geduldig eine Zeit lang und hofften, daß Gudmund und seine Freunde bald als Sieger zurückkehren würden.

Es dauerte aber länger, als man es sich gedacht hatte. Wir froren, denn durch das zerbrochene Fenster strömte die eiskalte Luft in die Wohnstube hinein.

So verstrich eine geraume Zeit.

Da auf einmal ruft der Mann zu uns herunter:

»Jetzt ist wieder ein Geschrei vom Flusse her zu hören.«

Alle fuhren auf und drängten sich unter dem Fenster zusammen.

Wir horchten hin.

Bald drangen die grauenhaften Laute auch zu uns herein.

»Es ist erstaunlich«, bemerkte einer, »wie lange dieser Bär sich verteidigen kann; es muß ein furchtbar wildes Tier sein. Und doch ist Gudmund so stark und so tapfer. Und jetzt sind sie fünf Mann im ganzen gegen das eine Tier.«

Das laute Schreien der fünf Männer und das Heulen des Bären wurde stärker.

Die Leute schauten einander verständnislos an.

»Unbegreiflich!« riefen einige aus.

Doch bald wurde es drüben etwas ruhiger, und endlich hörte das Heulen des Eisbären gänzlich auf. Auch die kämpfenden Männer schrien nicht mehr.

»Jetzt wird er wohl erlegt sein«, sagte der Hausvater. »Danken wir Gott dafür!«

Nach einiger Zeit rief der Mann auf dem Dache in die Stube hinein:

»Sie kommen jetzt vom Flusse zurück.«

»Gott sei Lob und Dank!« riefen alle.

Nach einiger Zeit fragte der Hausvater:

»Sind sie alle fünf beisammen?«

»Ich kann sie noch nicht voneinander unterscheiden«, entgegnete der Mann. »Sie halten sich dicht beieinander und bewegen sich nur langsam voran.«

Bei diesen Worten bekamen einige der älteren Leute bedenkliche Gesichter und schauten einander an.

Kurz darauf rief der Mann:

»Es kommt mir vor, als wenn sie etwas mit sich schleppten.«

»Das wird wohl der tote Bär sein. Den schleppen sie mit nach Hause«, rief ich voll Freude aus.

Baldur, der neben mir stand, flüsterte mir sachte ins Ohr:

»Das kann man noch nicht wissen, Nonni. Es könnte auch einer der Männer sein.«

»Einer der Männer? Warum sollten sie denn einen der Männer …«

»Weil der Bär ihn vielleicht verwundet oder getötet hat«, erwiderte Baldur ganz leise.

Bei diesen Worten ging es mir wie ein Stich durch das Herz.

»Das wird doch nicht Gudmund sein, Baldur?« fragte ich ganz entsetzt.

»Wir wollen hoffen, daß er es nicht ist, Nonni«, war seine Antwort.

Ich war so niedergeschlagen, daß ich nichts mehr sagen konnte. Auch die Leute schwiegen und schienen in bangen Gedanken versunken zu sein. Nach einer Weile rief der Mann vom Dache wieder:

»Jetzt sehe ich, was sie mitbringen.«

In der Stube herrschte tiefes Schweigen. Keiner wollte eine Frage tun. Alle warteten in atemloser Spannung. Auch der Späher droben schien nichts weiter melden zu wollen.

So vergingen einige qualvolle Augenblicke.

Dann aber kroch auf einmal der Mann vom Dache durch das Fenster wieder in die Stube hinein. Er ließ sich vorsichtig auf den Tisch hinuntergleiten und sprang dann von dort auf den Boden.

»Was ist's?« rief man ihm von allen Seiten mit gedämpfter Stimme zu.

»Sie kommen alle zurück. Aber nur vier sind auf den Beinen. Der fünfte wird von ihnen getragen.«

»Hast du nicht gesehen, wer der Verwundete ist?« fragte der Hausvater.

»Nicht genau. Aber soweit ich unterscheiden konnte, war es Gudmund.«

Diese Worte machten mich vor Schmerz und Entsetzen erstarren. Ich ergriff Baldur beim Arm und hielt mich an ihm fest. Ich wollte ihm etwas sagen, aber die Kehle war mir so zusammengeschnürt, daß ich keine Silbe herausbringen konnte.

Schweigend führte mich Baldur nach der innern Wand der großen Stube hin. Es standen dort ein Tisch und einige Stühle. Ich setzte mich. Baldur nahm Platz an meiner Seite.

Jetzt bedeckte ich mein Gesicht mit beiden Händen, lehnte mich vornüber und fing bitterlich an zu weinen. Wie im Traume hörte ich den Hausvater sagen:

»Für uns wird wohl keine Gefahr mehr da sein. Wir können den Leuten entgegengehen, um ihnen zu helfen.«

Die Augen voll Tränen schaute ich auf und sah, daß einige Männer eine große getrocknete Ochsenhaut hergeholt hatten. Sie banden Taue an den vier Ecken fest, rollten dann das Ganze zusammen und gingen damit hinaus.

Baldur strich mir teilnahmsvoll mit der Hand über die Haare.

Die Stube war fast leer geworden. Nur einige Frauen und kleine Kinder waren noch da. »Sollen wir nicht auch hinausgehen, Nonni?« sagte Baldur. »Gudmund wird sich freuen, wenn er dich sieht.«

»Glaubst du, daß er noch lebt, Baldur?« fragte ich.

»Ich hoffe es, Nonni«, tröstete er mich. »Er wird nur von dem Bären etwas gestoßen und gekratzt worden sein.«

Ich sprang auf und wollte, so wie ich war, in die grimmige Nachtkälte hinauslaufen. Baldur aber hielt mich zurück, holte unsere Schneehauben und half mir, sie über den Kopf zu ziehen.

»Jetzt zieh auch deine wollenen Handschuhe an, Nonni«, mahnte er.

Ich holte sie aus der Tasche und zog sie an, worauf wir rasch hinausgingen.

Draußen glühte und flammte es über unsern Köpfen in einem feenhaften Schimmer. Der ganze Nachthimmel stand wie in Feuer und Flammen und sah aus wie ein unermeßliches, hin und her wogendes, helleuchtendes Lichtmeer.

In Strömen regnete es glühendglitzernde Feuerfunken aus der Luft herunter auf die in goldigem Glanze strahlende Schneelandschaft. Unaufhörlich warf das Nordlicht seine blitzschnellen Feuergarben über den ganzen Himmel von einem Horizont zum andern.

Doch auf diese Herrlichkeit achteten wir jetzt nicht.

Wir liefen um das große Hofgebäude herum auf eine erhöhte Stelle, von wo aus man die Umgegend überschauen konnte, und entdeckten sofort in nicht weiter Ferne die kleine Gruppe.

Wir sahen deutlich, wie die vier Männer den Verunglückten mühsam trugen.

Die größere Schar, die ihnen vom Hofe entgegenschritt, hatte die traurige Gruppe fast erreicht. »Komm, Nonni, wir laufen auch hin«, sagte Baldur.

Er nahm mich bei der Hand und zog mich mit sich vorwärts.

Wir liefen rasch über die harte Schneedecke dahin und erreichten die Leute gerade in dem Augenblick, als die beiden Gruppen aufeinanderstießen.

Gudmund wurde sanft auf den Schnee niedergelegt. Mit Baldur drängte ich mich durch die Leute und kniete neben meinem treuen Beschützer auf den Schnee.

Blutüberströmt lag der große Mann da. Er rührte sich nicht und sah aus wie ein Toter. Wieder schnürte sich meine Kehle zusammen. Ich konnte weder sprechen noch weinen. Nur mit Mühe gelang es mir, Atem zu schöpfen.

Während die Ochsenhaut neben Gudmund auf den Schnee ausgebreitet wurde, ließ sich nun auch der Hausvater neben ihm auf die Kniee nieder, um zu untersuchen, ob er noch am Leben sei.

»Er atmet noch«, sagte er, als er aufstand.

Rasch zog mich Baldur aus dem Gedränge heraus und flüsterte mir leise zu:

»Hast du gehört, Nonni? Er lebt ja. Du wirst sehen, er wird bald wieder gesund sein.«

Diese Worte meines guten Freundes richteten mich wieder auf und gaben mir neuen Mut. Ich griff nach seiner Hand und blieb bei ihm stehen.

Die Leute sprachen leise miteinander. Die vier Gefährten Gudmunds erzählten, wie das Unglück gekommen war. Doch ich konnte nichts davon verstehen. Gudmund wurde nun mit der größten Vorsicht auf die Ochsenhaut gelegt. Vier der stärksten Männer ergriffen die Taue und legten sie über ihre Schulter, beugten sich, zogen fest an und hoben Gudmund vom Boden auf.

Die meisten der andern Leute gingen voraus und erreichten bald den Hof. Baldur und ich folgten dem traurigen Zuge, der nur ganz langsam vorankam.

Als wir endlich am Hof anlangten, wurde Gudmund mit großer Mühe durch die etwas enge Türe und den schmalen Gang bis in das kleine Zimmer hineingetragen, wo der andere Verwundete lag.

Hier hatte man schon alles bereit gemacht, um ihn zu empfangen.

Wir Knaben durften nicht hineingehen, denn jetzt sollten seine Wunden untersucht, gewaschen und verbunden werden. Wir begaben uns deshalb mit den meisten andern in die Wohnstube.

Als alles drinnen zur Ruhe gekommen war, wurden die Gefährten Gudmunds von den Leuten, die zu Hause geblieben waren, gebeten, ihnen zu berichten, wie es bei dem Kampfe zugegangen war. Sie kamen dem allgemeinen Wunsche nach und erzählten ausführlich den Verlauf des aufregenden Kampfes.

Ich drängte mich zu ihnen hin und hörte den ganzen Bericht von Anfang zu Ende.

»Als Gudmund«, so erzählte der eine von ihnen, »eine kurze Zeit mit dem Bären, der auf dem Dache gewesen war, gekämpft hatte, ergriff dieser die Flucht und lief nach dem Flusse hinunter.

Gudmund lief ihm sofort nach und setzte unten im Flußbett den Kampf fort.

Bald kamen drei von uns ihm zu Hilfe und etwas später auch der vierte. Zu unserem Staunen sahen wir aber, daß der alte Bär spurlos verschwunden und daß statt seiner zwei neue erschienen waren! Mit diesen beiden fanden wir Gudmund in einen sehr gefährlichen Kampf verwickelt.

›Gott sei Dank, daß ihr kommt!‹ rief Gudmund, sobald er uns sah. ›Es ist hier Arbeit für alle.‹

In der Tat schienen die zwei neuen Bestien noch gefährlicher zu sein als die zwei ersten.

Gudmund kämpfte wie ein Held und stach mit seinem Messer auf sie los, sooft er nur dazu Gelegenheit fand. Doch sie wichen nicht zurück, wie die zwei ersten es getan hatten, sondern schlugen, kratzten und bissen trotz der vielen Wunden, die sie immerfort von ihrem tapferen Gegner bekamen.

Gudmund bekam wiederholt von ihnen so harte Schläge, daß wir kaum begreifen konnten, wie er sie aushalten konnte, ohne zu fallen.

Sie bissen ihn auch wiederholt in Arme und Beine, doch die Taue, womit er umwunden war, schützten ihn. Wir halfen ihm, so gut wir konnten.

Die Bären aber sahen ihn als ihren Hauptfeind an und richteten ihre ganze Wut gegen ihn. Und jetzt kam plötzlich das Unglück:

Während er mit dem einen beschäftigt war, gelang es dem andern, ihm einen furchtbaren Schlag mit seiner Vordertatze auf den Kopf zu versetzen … Gudmund sank sofort wie tot nieder.

Jetzt aber verdoppelten wir unsere Anstrengungen und brachten den Bären von allen Seiten so viele Stichwunden bei, daß auch sie schließlich umsanken.

Es gelang uns, sie vollends zu töten, wonach wir uns beeilten, Gudmund Hilfe zu bringen. Er lag noch immer wie tot da. Zwischen den Tauen, mit welchen seine Arme und Beine umwunden waren, sickerte das Blut in den weißen Schnee hinunter, ein Zeichen, daß die scharfen Zähne der Raubtiere auch durch die Taue ihren Weg gefunden hatten … Doch was Gudmund zu Fall brachte, waren nicht diese Wunden, sondern der Schlag auf den Kopf …«

»Glauben Sie, daß Gudmund wieder gesund wird?« unterbrach ich jetzt den Erzählenden.

»Ja, kleiner Nonni«, tröstete mich der Mann. »Denn hätte ihm dieser Schlag das Genick gebrochen, müßte er schon längst tot sein. Da er aber immer noch atmet, wird er sicher zu retten sein.«

Damit war der Bericht zu Ende.

»Was ist aber aus dem Bären geworden, den Gudmund nach dem Fluß verfolgte?« fragte einer der Leute.

»Von ihm wissen wir nichts anderes, als daß er spurlos verschwunden ist«, erwiderte der Erzähler.

»Dann müssen wir aber noch immer auf unserer Hut sein!«

»Gewiß müssen wir das«, antwortete der Mann. »Der Hof wird die ganze Nacht hindurch bewacht werden müssen. Morgen wird man dann die Umgegend durchsuchen, bis man ihn findet.«

Jetzt hatte ich alles gehört, was geschehen war. Ich suchte daher meinen Freund Baldur wieder auf und schlug ihm vor, mir in das kleine Zimmer zu folgen, wo Gudmund lag, um zu sehen, wie es ihm gehe.

»Gut, Nonni«, sagte Baldur, »wir wollen versuchen, zu ihm hineinzukommen. Man hat gewiß alle seine Wunden schon verbunden.«

»Dann läßt man uns auch sicher hinein, Baldur.«

Wir gingen also nach dem kleinen Zimmer. Langsam und geräuschlos öffneten wir die Türe und traten ein.

Eine drückende Stille herrschte im kleinen Gemach. Auf dem Tische stand ein Leuchter mit einer brennenden Kerze. Eine Frau saß daneben und las in einem Buch. Es waren zwei Betten da: in dem einen lag Gudmund, in dem andern der vorher verwundete Mann.

Die Frau schaute von ihrem Buche auf, und als sie sah, daß wir uns still und ruhig verhielten, ließ sie uns gewähren.

Die beiden Männer lagen mit geschlossenen Augen da und schienen zu schlafen.

Wir gingen zu der Frau hin und fragten sie, wie es den Verwundeten gehe. Ganz leise antwortete sie:

»Sie sind bis jetzt noch nicht zum Bewußtsein gekommen. Man kann deshalb noch nichts mit Sicherheit sagen. Aber ich hoffe, daß sie durchkommen werden.«

»Auch Gudmund?« fragte ich.

»Ja, mein kleiner Freund.«

Ich ging nun zum Bette Gudmunds.

Er lag unbeweglich da und atmete unregelmäßig und kurz.

Ich strich sanft mit der Hand über seine Haare, in der Hoffnung, daß er vielleicht die Augen öffnen werde.

Doch das geschah nicht. Er war vollständig bewußtlos. Ich ging zur Frau zurück und fragte:

»Wie sind die Wunden Gudmunds? Sind sie groß?«

»Er hat mehrere tiefe Bißwunden in den Armen und Beinen. Dabei ist das Fleisch dort ganz zerquetscht worden. Die Knochen sind aber unverletzt. Dann ist er noch an den Seiten ziemlich böse gekratzt worden. Seine schlimmste Verletzung aber ist am Kopf und Hals. – Doch ich hoffe, daß er wieder zu sich kommen wird.«

Ich ging noch einmal zu Gudmund und schaute mir seinen Kopf und Hals an. Es war aber keine Verletzung dort zu entdecken, nur war der Hals stark angeschwollen.

Wir gingen auch zum andern Verwundeten. Auch bei ihm war kein anderes Lebenszeichen zu entdecken als der kurze, unruhige Atem.

Wir blieben noch eine Weile bei der Frau und sprachen mit ihr über die Verwundeten. Dann aber stand sie auf, holte aus einer Schublade drei neue Weihnachtskerzen heraus, zündete sie an und sagte in einem etwas feierlichen Tone:

»Jetzt aber, kleine Freunde, vergeßt trotz all der Schrecken nicht, die wir in dieser Nacht erlebt haben, daß es die Weihnacht ist. Es ist zwar eine traurige Weihnacht für uns gewesen, aber eine kleine Andacht wird wohl gleich in der Wohnstube gehalten werden. Ich würde euch raten, hinzugehen und die Weihnachtsandacht mitzumachen.«

»Ja, das wollen wir tun«, antworteten wir. »Und dann wollen wir auch für die beiden Verwundeten beten.«

»Da habt ihr einen schönen Gedanken gehabt«, sagte die Frau. »Gott hört am liebsten das Gebet der Kleinen.«

Wir verließen das Zimmer und gingen in die große Wohnstube zurück.

Als wir hineintraten, prangte sie schon im schönsten Licht. Soeben waren alle Weihnachtskerzen angezündet worden; denn in Island ist es an Weihnachten in den Bauernhöfen Brauch, ebenso viele Kerzen die ganze Nacht hindurch brennen zu lassen, als es Menschen in dem betreffenden Hofe gibt.

Das zerbrochene Fenster war mit Brettern und Schnee zugedeckt worden. Bald hatten alle Leute sich eingefunden. Der Hausvater setzte sich an seinen Platz unter der Lampe. Die Gesangbücher wurden verteilt, und die Weihnachtsandacht begann.

Einige Strophen eines Weihnachtsliedes wurden gesungen. Dann las der Hausvater eine Weihnachtsbetrachtung aus der Hauspostille des isländischen Bischofs Vidalin. Nach dieser folgte ein zweites Lied, worauf ein kurzes Gebet gesprochen wurde.

Als die Andacht fertig war, wurde ein gutes Weihnachtsmahl von der Hausmutter und den Mädchen serviert. Während des Mahles sprach der Hausherr einige Worte über die schrecklichen Ereignisse dieser Nacht.

Sie seien, sagte er, eine große Prüfung, die der Herr über uns habe kommen lassen, aber Gott habe uns doch vor dem Schlimmsten bewahrt: es sei bis jetzt kein Menschenleben verloren gegangen. Er hoffe, daß das göttliche Kind, dessen Geburt wir feierten, seine schützende Hand über uns und die beiden schwer verwundeten Männer halten werde.

Wir saßen noch eine Zeit lang plaudernd in der großen Stube zusammen. Dann aber begaben sich die Leute allmählich zur Ruhe.

Die Weihnachtslichter aber brannten in allen Stuben des Hofes zu Ehren des Christkindes die ganze heilige Nacht hindurch.

Ich schlief bis weit in den Vormittag des andern Tages hinein. Doch als ich endlich erwachte, stand ich sofort auf und lief mit Baldur nach dem kleinen Zimmer, wo die Verwundeten lagen.

Wie groß war unsere Freude, als wir sie bei voller Besinnung fanden!

Gudmund erkannte uns gleich und war sehr gerührt über unsern Besuch. Auch der andere freute sich herzlich über die freundliche Teilnahme, die wir ihm zeigten.

Doch die beiden Männer waren so schwach, daß sie sich kaum bewegen konnten. Ihre Pflegerin aber war mit dem Zustand zufrieden und sagte, daß sie sicher genesen würden. Doch sie müßten Ruhe haben, und deshalb sollten wir nicht zu lange bei ihnen bleiben.

Wir folgten ihrem Rat und gingen bald wieder hinaus.

Es wurden nun am Vormittag ein paar mit Messern und spitzen Stäben bewaffnete Männer ausgeschickt, um nach dem verwundeten Bären zu suchen.

Schon vor Mittag kamen sie zurück und meldeten, daß sie ihn gefunden hätten. Er war aber schon tot und lag zwischen Eisschollen versteckt am Ufer des Hörgáflusses.

Früh am Nachmittag gingen die Männer wieder hinaus, diesmal mit großen Schlitten.

Sie luden alle die erlegten Tiere darauf und zogen sie nach Hause.

Die vier Eisbärfelle waren prachtvoll. »Schade«, bemerkte ich zu Baldur, als ich sie betrachtete, »daß sie so viele Löcher haben.«

»Das hat nicht viel zu sagen, Kleiner«, sagte mir einer der Männer; »diese Löcher werden bald von tüchtigen Näherinnen so schön zusammengenäht werden, daß man nichts mehr davon merken wird.«

Im Laufe des Weihnachtsfestes sagte mir der Hausvater:

»Könntest du nicht einen Brief an deine Mutter schreiben, mein kleiner Nonni, um ihr zu erzählen, was du alles erlebt hast?«

»Ja, das will ich tun«, erwiderte ich freudig. »Und ich will Baldur bitten, daß er mir dabei helfe.«

»Tue das, mein Junge. Vergiß auch nicht, deiner Mutter genau zu erzählen, wie es mit Gudmund steht.«

»Nein, das werde ich nicht vergessen. Ich will ihr alles erzählen, und ich will gleich anfangen.«

»Gut, mein Freund. Ich werde dann den Brief durch zwei Boten nach Mödruvellir schicken, sobald du fertig bist.«

Ich lief sofort zu Baldur und bat ihn, mir bei der schwierigen Arbeit zu helfen. Gleich erklärte er sich dazu bereit. Er verschaffte mir Papier, Feder und Tinte und führte mich in ein kleines, leeres Zimmer, damit wir nicht gestört würden.

Ich setzte mich an einen kleinen Tisch. Baldur kniete sich neben mir auf einen Stuhl und lehnte seine Ellenbogen auf die Tischplatte.

Das Schreiben hatte ich vor kurzer Zeit gelernt. Im Rechtschreiben dagegen war ich noch zurück. Hier war aber Baldur ein Meister.

Ich fing an. Baldur half und schaute zu. Das Schreiben, das auf diese Weise zustande kam, lautete also:

 

»Skipalon, am 25. Dezember.

Meine liebe Mutter!

Ich schreibe Dir einen Brief und wünsche Dir ein schönes Weihnachtsfest und auch allen andern. Und auch Baldur wünscht ein schönes Weihnachtsfest.

Und ich schreibe auch diesen Brief, um Dir zu sagen, wie es mir geht, und auch, wie es Baldur und Gudmund geht, und wie es ging auf der Reise.

Meine liebe Mutter, die Reise war sehr gefährlich. Gudmund und Baldur liefen auf den Skiern. Und ich war sehr müde, weil ich keine Skier hatte und weil meine Beine zu kurz waren. Dann nahm Gudmund mich und setzte mich auf seine Schulter neben seinem Kopf. Und dann nahm er meine Füße und steckte sie in seine Tasche. Und als wir an den Fluß kamen, da kamen zwei Bären und wollten uns beißen. Aber Gudmund hat sie mit dem Stab gestochen, und dann haben sie uns nicht gebissen. Und dann schrien sie viel, und auch Gudmund und wir schrien sehr viel.

Und als wir nach Skipalon kamen, haben die Leute uns geholfen. Als wir in der Stube waren, schauten die Bären durch das Fenster, um die Leute zu beißen. Aber Gudmund hat sie gestochen mit dem Messer. Und dann konnten sie nicht mehr die Leute beißen. – Dann hat Gudmund und die Leute sie getötet, und dann waren es vier Bären. Aber sie haben Gudmund geschlagen, und jetzt liegt er im Bette. Und auch ein anderer Mann liegt im Bette, aber sie sterben nicht. Und wenn sie aufstehen, dann kommt Gudmund nach Mödruvellir. Und wenn ich einige Tage mit Baldur gespielt habe, dann komme ich zurück zu Dir, liebe Mutter. Von Deinem lieben Sohn

Nonni und Baldur.«

 

Als der Brief fertig war, übergab ich ihn dem Hausvater. Wegen der Eisbärengefahr mußten zwei bewaffnete Männer ihn nach Mödruvellir bringen.

Als sie zurückkamen, brachten sie Pulver und Blei samt zwei guten Flinten mit, die man ihnen für die Zeit der Eisbärengefahr geliehen hatte.

Auch übergaben sie mir einen kleinen Zettel von meiner Mutter Es war ihre Antwort auf meinen Brief.

Sofort ging ich mit Baldur in das Zimmer, wo wir unsern Brief verfaßt hatten, um dort ungestört den Zettel zu lesen. – Meine Mutter schrieb:

 

»Mein lieber Nonni!

Mit großer Freude habe ich Deinen schönen Brief gelesen. Vergiß nicht, Gott zu danken für Deine Rettung. Bringe Gudmund einen freundlichen Gruß von uns und unsern herzlichsten Dank für seine treue Sorge um Dich. Grüße auch alle unsere Freunde in Skipalon. Komme vor Neujahr zurück, und wenn Baldur mit Dir kommen darf, so ist er bei uns als unser Gast auf einige Tage willkommen.

Deine Mutter.«

 

Mit Freuden nahm Baldur die Einladung an. Im besten Wohlergehen blieb ich noch einige Tage in Skipalon.

Baldur und ich unterließen es nicht, während dieser Zeit Gudmund und seinen Leidensgenossen täglich mehrere Male zu besuchen. Gudmund war immer guten Mutes und zweifelte nicht an seiner baldigen Genesung.

Zwei Tage vor Neujahr verließ ich das gastfreie kleine Skipalon und kehrte mit meinem Freund Baldur unter Begleitung von zwei bewaffneten Männern glücklich nach Mödruvellir zurück.

Zu unserer großen Freude konnte auch Gudmund wenige Wochen später als vollständig geheilt zurückkehren.


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