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Sie haben sie ins christliche Versorgungshaus gesteckt, haben ihr ein blaugewürfeltes Bett, ein warmes Kleid und gute, sichere Kost zugewiesen, haben ihr den welken Leib vom Landstraßenschmutz reingebadet und ihr eine Arbeit in die Hand gedrückt: ein grobes Wollstrickzeug mit blanken, stählernen Nadeln – – – was Wunder, wenn da das Alte vergangen ist, wenn sie jetzt zahm und ehrbar neben dem Holunderstrauch im Anstaltsgarten sitzt, wie andere Spittelweibchen auch.
Einstmals hat sie in ihrer wunderlichen Art über alle Ortsgenossen aufgeragt wie eine blühende Nessel über das Krautbeet.
Wenn das Weib dann und wann unter den weißbewimperten Lidern aufblickt, dann scheint es fast, als hätten die abgeblaßten, schwimmenden Augen etwas vom einstigen Wesen bewahrt. Kurz und scheu ist der Blick. Aber diese Scheu ist nicht der Unaufrichtigkeit oder der Feigheit entsprossen, es ist nur, als wisse die Alte, daß ihre Augen für ein reingebadetes, strickendes Spittelweib nicht passen.
Die tiefen Falten und Linien, die das fahle Gesicht mit dem tiefeingefallenen, fast lippenlosen Mund furchen, sehen nicht aus, als habe sie die Not des Lebens gegraben. Sonne, Regen und Wind scheinen daran gearbeitet zu haben, wie sie an allem arbeiten, was ihnen jahraus, jahrein preisgegeben ist.
Niemand im Städtchen weiß, wie alt das Weib ist. Früher sagte sie, sie sei geboren, als ein Komet am Himmel stand, und sie werde sterben, wenn der Komet wieder am Himmel erscheint. Seit sie im Versorgungshaus ist, spricht sie nicht mehr von ihrer Geburtsstunde, und von den andern strickenden Weiblein hat sie gelernt, die Sterbestunde in Gottes Hand zu stellen.
Früher sagte sie auch, sie könnte Bände erzählen aus ihrem Leben, ganze Bände.
Jetzt ist sie schweigsam geworden. Wenn aber der Holunder blüht und die Sonne der Alten auf den gelbsträhnigen Scheitel brennt, wenn die stählernen Stricknadeln in den ungeübten Fingern heiß werden, so daß kein Fortgang mehr ist in der Arbeit, dann kann es kommen, daß die schwimmenden Augen über die Gartenhecke nach der Landstraße schweifen, daß der eingesunkene Mund zu murmeln anfängt. Dann gären die Geschichten im Herzen und Hirne der Alten, sie heben das Ventil und drängen zutag, gegen den Willen des Weibes. Sie weiß ja so gut, daß die sichere Kost und das Bett und das warme Kleid im Versorgungshaus verpflichten. Aber blühender Holunder und Sommersonne haben schon manchen zum Schelmen an Vorsätzen und Pflichten gemacht.
Die andern Weiber rücken dann von der Bank, ja sie schleichen ins Haus, in die Stube mit den sandbestreuten Dielen, wo der Haussegen hängt, der gegen Hexenkünste feit. Wohl hören sie gerne Geschichten, aber nicht solche, bei denen die Seele Gefahr läuft.
Das Weib hat nie anders als »die Hexe« geheißen. Erst im Versorgungshaus lernte sie auf den Namen »Christiane« hören. Sie sieht ein, daß das so in Ordnung ist.
Sie weiß nicht, ob und wo sie in einem Taufregister steht, sie hat sich niemals darum gekümmert und niemand hat es ihr gesagt.
Auf der Landstraße oder hinter dem Zaun mag sie geboren sein, dazumal, als der Komet am Himmel stand.
Gabriel, der Milchmann, sagt, sie sei auch einmal jung und schön gewesen. Aber Gabriel ist halb kindisch. Er spricht immer von der Hexe, als ob er mehr von ihr wüßte, als andere Leute. Ein Halbnarr ist der Alte. Wenn ihm die ganze Jugend des grünen Tales »Erzengel Gabriel« nachbrüllt, so sieht er sich höchstens mit freundlichem, fragendem Blick um und rückt an der schwarzen Zipfelmütze, als gelte es, für eine Huldigung zu danken. Auf eines solchen Menschen Zeugnis ist nicht viel zu geben.
Da ist in dem weitläufigen Anstaltshaus ein hochaufgeschossener Junge mit hellerem Blick, als seinen Jahren zukommt; seinen Jahren und dem nüchternen, reingefegten Haus, dem er entstammt. David, des frommen Hausvaters Sohn, sitzt bei der Hexe in der Sonne, streckt die Beine über den Rasen und schneidet Pfeifen aus Holunderholz.
Er hört dabei, was aus des wunderlichen Weibes Mund überquillt. Er hört, aber er horcht nicht. So liegt man wohl im Wald und hört das Bächlein rauschen. Der Junge schnitzt nur immerzu an seinen Pfeifen, das Weib murmelt das wirre, krause Zeug, das ihr langes, heidnisches, ungebundenes Leben aufgehäuft hat in ihrem Innern.
Der Junge hat ein gutes Gewissen. Sein Vater will, daß er nicht immerzu mit der Hexe rede. Er redet nicht, er horcht auch nicht, er glaubt auch nicht. Er liegt nur auf dem Rasen und hört ein Bächlein rauschen.
Vom Schatzgraben spricht die Alte, zu dem sie hundertmal ihre kundige Hand und das Wissen ihrer Seele geliehen.
Drei Schimmel mit schwarzen Schweifen kennt sie. Um Mitternacht in der Zwölfnächtezeit stehen die Schimmel vor den Ruinen am Waldeck. Dreimal stampfen sie den Boden, daß Flammen sprühen, dreimal jagen sie rund um die zerstreuten Trümmer der Burg, dreimal wiehern sie auf, daß es wie Donner durchs nächtliche Tal dröhnt und weit im Umkreis sich christliche Schläfer auf die andere Seite legen in unruhigem Traum. Dann verschwinden die Zauberpferde dort, wo der vermoderten Burgherren Schatz begraben liegt.
Der Junge zu der Hexe Füßen bläst bedächtig durch sein Pfeifenrohr. »Lüg' nicht so!« sagt er dann ruhig. Ein gleichgültiger, vielleicht unbewußter Blick aus den verblaßten Hexenaugen streift ihn. »Lüg' nicht so«, das ist ein Einwurf, den die Alte längst richtig zu bewerten weiß. »Lüg nicht so« heißt für sie und ihre Erfahrung: »weiter, weiter!«
Die Christiane packt ihr grobes Gestrick zusammen. Ihr ist, als ob die grauen Wollstrümpfe den Hexenrossen und all dem andern im Wege stünden. Sie breitet ihren Rock aus und setzt sich so, daß sie das Anstaltsgebäude und die Spittelweiblein nicht mehr sehen kann. Das tut sie nicht, weil ihr Gewissen spricht, nur weil sie sich gestört fühlt, wie ein Schläfer, dem ein Lichtstrahl auf die geschlossenen Lider fällt.
»Lügen,« sagt sie, und die zahllosen, schwammigen Falten ihres Mundes ziehen sich auseinander, als ob ein Lächeln werden sollte, »lügen, schöner, junger Herr? – Wenn die Sonne über den Heidenstein geht und drei grüne Eidechsen aus den Löchern huschen, dann sage du rasch dreimal: Erlenbusch, Buscherle. Acht Rappen mit goldenen Hufen werden sogleich vor dir stehen. Schwinge dich auf welchen du willst und reite, wohin es dir gefällt. Aber«, der Alten Stimme sinkt, daß sie kaum noch zu verstehen ist, »reite über keines unschuldigen Kindleins Grab, sonst verlernst du für ewige Zeiten das Lachen.«
»Lüg' nicht so!« sagt der Bub und schnitzelt weiter.
»Lügen, schöner, junger Herr? – Bin ich doch selber über eines Kindleins Grab geritten und habe das Lachen verlernt. Frage den Erzengel Gabriel, ob ich ihm die Rappen nicht vorgeführt habe, droben am Heidenstein, dazumal, als das Wetter am Himmel stand und die ganze Luft schwer war. Aber der Gabriel kann ja nicht aufsteigen, der kommt nicht mit, wenn ich ausreite, der muß Milchflasche schleppen.« »Lüg' nicht so,« sagt der Junge.
»Aber er kommt doch nicht los, der Gabriel! Wenn er erst einmal drunten liegt, wo die Würmer im Recht sind, dann kann ich ihn rufen, dann muß er, dann muß er! Hab' schon manchen Werwolf gerufen, schöner, junger Herr!«
Fertig ist jetzt die Holunderpfeife. Gellend zieht ihr erster Ton über die Krautbeete und des Hausvaters großer Junge springt vom Rasen auf.
»Lüg nicht so!« ruft er noch einmal. Dann schwingt er sich dicht neben der offenen Gartentüre über die Weißdornhecke und läuft dem Berghang zu, wo zwischen Brombeerranken und wirrem Felsgeröll der Heidenstein aus den Bergesrippen ragt und die Eidechsen aus den Löchern huschen.
Hoch her über den Stein geht die Sonne. Lautlos rückt sie vor, über die Ecken und Kanten hin und im Steine flimmert es wie eingesprenktes Gold. Hausvaters David liegt auf dem Bauch im Geröll. Er wartet auf die Zauberrosse und er sucht die Brücke, die geheimnisvoll von der Hexe zum Erzengel geht. Auf seiner braunen Stirne steht der Schweiß und in den Augen lodert etwas, was zu der heißen, stillen Mittagsstunde paßt.
Eine Blindschleiche schiebt den stählernen Leib über den Stein, dann eine braungraue Echse. Aber die grünen? – In heißer Gier werden des Jungen Züge starr – jetzt müssen sie kommen! – Da schallt vom Tale her ein blecherner Klang. Das Mittagsglöckchen ist's von daheim, das Anstaltsglöckchen, das die Spittelweiber zu Mehlsuppe und gekochten Pflaumen ruft. Nüchtern und aufdringlich schettert es. Bei solchem Ton wird nimmermehr ein Hexenroß erscheinen. Hausvaters David ballt beide Fäuste gegen das Tal hin. Wie Verbitterung, ja wie heißer Haß geht es über sein Gesicht. Er haßt das Mittagsglöcklein, er haßt die Spittelweiber, er haßt Mehlsuppe und gekochte Pflaumen. Sie werden immer, immer zwischen ihm und den Rappen mit den goldenen Hufen stehen.
Der Junge drückt das erhitzte Gesicht in die zerbröckelnden, sonnenglühenden Steine, auf denen er liegt, und schluchzt laut auf.
*
Über dem Anstaltsgarten und den Weißdornhecken liegt tiefer Schnee. An den Berghängen rumort Tag und Nacht ein splitterndes Krachen, wenn die weiße Last die brüchigen Äste der alten Tannen zusammendrückt. Tage-, ja wochenlang findet die Sonne den Weg nicht mehr ins enge Tal, und die Spittelweibchen umhocken frierend den Ofen.
Langsam und mühselig schieben sich in Christianens ungelenken Fingern die Maschen weiter. Selten hebt die Alte den Blick. Was hat solch ein schwimmender Hexenblick in einer Stube zu suchen, wo weißer Sand weißgraue Dielen deckt, Holzbänke rundum laufen und auf den schweren Tischen die irdenen Teller stehen? Nur den Ofen schaut Christiane bisweilen an. Sie läßt dann die Arme sinken und starrt und starrt. Vielleicht träumt ihr dann, der schmale, rötliche Feuerschein, der aus dem eisernen Türchen bricht, sei die Mittagssonne, die über den Heidenstein geht.
Und wenn es für den Ofen zu sorgen gilt, dann ist Christiane die regsamste unter den Weibern. Sie stößt die Glut zusammen und wirft neue Scheite hinein, und zu jedem Wurf murmelt sie: »Da! da!« als füttere sie ein lebendiges Tier.
Abend für Abend sitzt sie in der dämmerigen Küche und schnitzelt freiwillig Späne für sämtliche Öfen. Bei dieser Arbeit zittern ihr die Hände nicht wie beim verhaßten Stricken. Zwischen das leise splitternde Krachen des dürren Tannenholzes hinein bewegt sie den Mund, als kaue sie etwas, zuweilen auch spricht sie wie zur Sommerszeit, wenn ihr die Sonne auf den Scheitel brennt. Hausvaters David soll lernen, viel lernen; aber er schnitzt so gern Späne, wenn es dämmerig ist in der Küche, wo die uralte Funzel brennt, die zu solcher Arbeit genugsam leuchtet und das Öl nur tropfenweise frißt.
Er hat ein gutes Gewissen, der David: Die Hexe spricht so leise, daß man nicht alles versteht, und er selber horcht gar nicht, er hört nur, wie er auch des dürren Tannenholzes leise splitterndes Krachen hört.
Von der Zwölfnächtezeit, die vor der Türe steht, spricht das Weib, und daß sich da etwas ereignen werde, etwas ganz Besonderes. »Lüg' nicht so,« murmelt der Bub.
»Frag' den Gabriel, den Erzengel. Heissa, Hussa geht's durch die Lüfte. Den Kopf weg dann, Bub, wenn er dir lieb ist! Knie nieder, wenn du hörst, daß etwas mit Brausen daherkommt! Aber der Gabriel muß dabei sein, der Gabriel!« »Lüg' nicht so!«
»Vom Betglockläuten bis um den Hahnenschrei dauert's, dann ist alles zu Ende. Frag' den Gabriel! Der ist schon einmal dabei gewesen.«
Eisiger brausen die Stürme durchs Tal und ums Haus, und die Spittelweiblein am Ofen sprechen vom Christkind. Die Christiane steht vor der Ofentüre und schleudert Scheite hinein: »Da, da, da!«
Hausvaters David tritt unter die Stubentüre. Scharf, erwartungsvoll blickt er auf das faltige Gesicht, das vom Feuerschein rötlich begossen, anders, ganz anders aussieht als sonst.
»Christiane,« ruft der Bub, »der Gabriel ist heute nacht gestorben.« Zwei schwere Scheite, die die Alte in der Hand hält, fallen polternd zu Boden. Langsam bückt sie sich danach. Kein Blick streift den Jungen, kein Blick die fragenden, schwatzenden, jammernden Weiblein ringsum. »Da,« sagt sie lauter als sonst und »da«! Damit schleudert sie das letzte Holz in die Glut, daß stiebende Funken die Röcke der Nahesitzenden gefährden und ein unwilliges Gemurmel rundum läuft.
Am Abend sitzt das Weib wie immer im Küchenwinkel, und wie immer schnitzelt sie dürres Tannenholz. David hockt daneben auf seinem Schemel. Er räuspert sich, scharrt mit dem Fuß, schaut wieder und wieder auf den eingesunkenen Mund; aber der bewegt sich heute nicht. Ein paarmal steckt die Christiane einen schönen, glatten Span in die Tasche. Das ist zwei Tage vor Weihnachten.
Am Fest trägt man den Gabriel hinaus an die Berglehne, wo im Sommer die Sonne so heiß brennt und der alte Heidenstein ferne herübergrüßt. Heut ist's zum erstenmal, daß die Buben des Städtchens nicht »Erzengel Gabriel« hinter dem Alten herbrüllen, und daß er nicht freundlich an der Zipfelmütze rückt, als danke er für eine Huldigung.
Die rüstigsten der Spittelweibchen und noch so manche verwitterte, wurmstichige Gestalt schreiten hinter dem Sarge her. Ein Gefolge, wie es eines steinalten Männchens würdig ist, das sich Rücken und Hände krumm gearbeitet, Leib und Seele lahmgedarbt hat ein langes, mühseliges Leben hindurch.
Die Christiane ist nicht dabei.
Der David schreitet neben seinem Vater einher und blickt einmal ums andere von dem schmalen Sarg, den Kränze aus Glasperlen und blecherner Lorbeer schmücken, zum Leichenzug zurück, der müd und stumpf am Berge hinschleicht. Sollte das der Zug sein, der mit Heissa und Hussa die Zwölfnächtezeit durchbraust, und bei dem der Gabriel nicht fehlen darf? Wäre das das Ganze, das Letzte?
Es würgt den Buben in der Kehle, ein Weinen will sich losringen, das nicht dem toten Gabriel, dem kindischen Milchmann gilt, um dessetwillen die keuchende, schwarze Schar da hinten zu Berg steigt.
Dem Jungen ist es, als werde seine Welt plötzlich leer und glanzlos. Hölzerne Bänke, weiße Dielen, irdene Schüsseln, Mehlsuppe und Pflaumen wo er hinsieht. – – –
Dann spricht der Herr Pfarrer von der Stimme Gottes, die die Toten einst rufen wird aus ihren Gräbern.
Davids blaugefrorene Hände, die im Gebet gefaltet ruhten, zucken plötzlich. Der Sommertag, als er zu Christianens Füßen im Garten lag und Pfeifen schnitzte, fällt dem Buben ein. Damals hat sie gesagt: »Wenn er erst einmal drunten liegt, wo die Würmer im Recht sind, dann kann ich ihn rufen, dann muß er folgen.«
Mit seinem christlichen Vater tritt der Bub mit den Heidenaugen an die tiefe, schneeverwehte Grube. Ein Händchen voll der gefrorenen Erde und ein frommes Wort wirft der Anstaltsvater hinunter. David aber starrt mit heißem Blick auf den schmalen Sarg in der Tiefe. »Folge, – komm, Gabriel, wenn sie dich ruft!« murmelte er so, daß nur der tote Erzengel es hören kann.
Dann geht er heimwärts und freut sich, daß ein blasser Strahl der langentbehrten Sonne eben jetzt den Heidenstein trifft, daß er flimmernd in seiner Schneekrone herübergrüßt.
In der Anstalt rüsten sie zur Christbescherung. Sie wird erst heute gefeiert; am heiligen Abend feiern andere Leute. Die Christiane kümmert sich um nichts, keine Hand legt sie an, nicht einmal das Feuer schürt sie wie sonst.
Wo steckt sie überhaupt? Niemand hat sie gesehen, niemand als der David, und der schleicht hinter ihr her, scheu, wie auf bösen Wegen, dem Kirchhof zu. Sie geht so langsam wie eine Schnecke, und doch steht dem Buben, der ihr folgt, der Schweiß auf der Stirne.
Die frühe Dämmerung sinkt, als sie hineintritt in den stillen Ort. Der eisige Wind weht ihr die Haare unter dem Kopftuch hervor, und das sonst farblose Gesicht ist bläulich von der scharfen Kälte und dem steilen Weg.
Hinter der Buchshecke kauert der David und läßt die Augen nicht von dem Weib. Ruhig und sicher, als brauche sie nicht lange zu suchen, schreitet sie dem frischgewölbten Hügel zu, um den die Bretter des Totengräbers noch liegen, wie am Mittag. Die blechernen Kränze und die Glasperlenpracht räumt sie beiseite. Langsam, mit verzerrtem Gesicht, als ob alle Gelenke sie dabei schmerzten, kniet sie hin an den Hügel. Zwei Späne aus dürrem Tannenholz zieht sie aus der Tasche und ein Bindfadenende. Mit den zitternden, fleckigen Händen bindet sie ein Kreuz zusammen, ein Kreuz, wie es der David einst auch gebunden, als ihm seine zahme Krähe starb und er sie im Garten verscharrte.
Atemlos, reglos verharrt der Bub. Sollte das alles sein? alles –?
Jetzt legt das Weib beide Arme über des Erzengels Grab, auf dem das Kreuzlein steckt. Den grauen, zerzausten Kopf bettet sie darauf, als sei's da warm und weich. Und dann weint sie auf, laut, wie ein – – – jawohl wie ein Hund, der seinen Herrn verloren hat.
Den Buben friert. Es friert ihn jämmerlich in Hände und Füße und auch tief innen, wo ihn sonst nie gefroren hat. Es graut ihm bei dem winselnden Weinen, das immer noch über die Hecke heraustönt. »Christiane,« ruft er, »Christiane!«
Die Alte steht auf, folgsam wie ein Hund, der weiß, daß er einem neuen Herrn zu gehorchen hat. Sie wundert sich nicht, daß Hausvaters David da ist, sie hat es gewußt.
Vom Schneesturm umwirbelt und umbraust kämpfen die zweie sich heimwärts. Hoch auf den Berghängen ächzen die Tannen, der angeschwollene Fluß donnert unfern über das Wehr. Großäugig schaut der Bub in das düstere Zwielicht. Das, was die Hexe an des Erzengels Grab getan hat, ist ihm ein Rätsel, an dem seine Gedanken klopfen und bohren. Wieder ahnt er die Brücke zwischen den beiden und findet sie nicht.
Er will fragen, warum die Christiane den Gabriel nicht gerufen habe; aber ihm ist, als müsse dann das heulende Weinen wieder losbrechen.
Im Anstaltssaal blinken schon die Weihnachtslichter. David tritt nicht mit der Hexe ins Tor. Der Vater hält nicht viel von solcher Gesellschaft.
Noch in der Zwölfnächtezeit wird Christiane krank. Sie hat sich erkältet, als sie sich am Christfest über Gebühr lange draußen herumtrieb.
Der Herr Pfarrer besucht die alte Heidin. Lange hält er des wunderlichen Weibes Hand. Er ist selbst ein wunderlicher, der meint, in Gottes Garten habe auch da oder dort eine blühende Nessel Platz und Lebensrechte.
Als er danach vom Hausvater begleitet über den Hof geht, steht Jakob, der alte Anstaltsknecht, unter der Scheunentüre. Der Herr Pfarrer sagt, die Kranke rede immer von Gabriel. Was es wohl mit den beiden für eine Bewandtnis habe? Der Hausvater schüttelt den Kopf, er weiß nichts von des Weibes verworrenem Leben.
Jakob, der sonst nie redet, wenn er nicht gefragt wird, will gern dem Herrn Pfarrer zu Diensten sein.
»Die Christiane,« sagt er und nimmt den Strohhalm, an dem er kaute aus dem Mund, »die Christiane ist au emol jung g'we' und hot e Kind g'hät vom Gabriel.«
Dann kaut er weiter am Strohhalm.
Als das Frühjahr kam und die Hügel am Berghang von neuem Leben grünten, da bestellte der wunderliche Pfarrer zwei gleiche, weiße Kreuze. Auf beiden steht in gleicher Schrift geschrieben: »Die Liebe höret nimmer auf!« Wenn er oben am Heidenstein sitzt, und auf die drei grünen Eidechsen wartet, dann kann David die Kreuze ragen sehen. Nur die Schrift darauf kann er von dort aus nicht lesen. Es ist zu weit vom Heidenstein bis zu des Pfarrers Spruch.
Aber immer wird der David auch nicht am Heidenstein sitzen: den Spruch wird er lesen und die Brücke finden von der Hexe zum Erzengel.