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Wenn er unter seiner niedrigen Tür stand, der Sägmüller und Wirt »Zur Liebenau«, die roten, schwieligen Hände über dem runden Bäuchlein gefaltet, das noch viel rötere und rundere Gesicht vom Ausdruck satten Wohlbehagens überflogen, die kurzen, borstigen Haare in die Höhe stellend wie ein angegriffener Igel die Stacheln, die etwas unruhig und zugleich ziemlich dumm blickenden Äuglein talauf und -ab wandern lassend, dann brachte es der Johannes Mehl niemals fertig, an der Liebenau vorüberzugehen, obgleich er von Haus aus kein Wirtshausläufer, sondern ein sparsamer, fleißiger Steinhauer und Akkordant war.
Einsam und weltfern, an wenig begangener Straße in einem engen Schwarzwaldtal liegt die Liebenau. Zu dem verrosteten Schild, auf dem üppiges Rosengeranke saftgrüne, früchtebeladene Sträucher und Bäume umschlingt, war jedenfalls das Motiv nicht aus der Nähe geholt, denn rings um das verwahrloste Gehöft rauschen nur düstere Tannen, und in dem schmalen Gärtchen mit dem windschiefen Lattenzaun kommen die Rosen nur an einem einzigen Strauch zu voller, üppiger Blüte. Das ist dort, wo vor fünf Jahren der Feldmann verscharrt wurde, der fleckige Jagdhund, der seinem großen Kropf zum Trotz eines schönen Abends so lange ein flüchtiges Reh verfolgte, bis er außer Atem umsank und alle viere von sich streckte.
Heute wäre Johannes Mehl an der Liebenau nicht vorübergegangen, selbst wenn der »dicke Andres«, der Wirt, nicht unter der Tür gestanden hätte.
Wenn man bei einem richtigen Bindfadenregen zwei Stunden lang durch handhohen, kalkigen Landstraßenschmutz gewatet ist, wenn man zudem nichts im Leibe hat als einen Fruchtschnaps dritter oder vierter Güte, dann sieht ein Wirtshaus am Wegrand einladend aus, auch wenn kein Wirt im rotgestreiften Baumwollflanellhemd westenlos und in Schlappschuhen unter der Tür steht.
Mit einem Seufzer, der einige Ähnlichkeit mit einem Fluch hatte, nahm Johannes Mehl die Ledertasche mit dem Deckel aus Dachshaut von der Schulter. Die Pfeife, deren Duft und Qualm bei der unbewegten, schweren Regenluft sicher noch eine Stunde weit zurück auf der Landstraße lag, nahm er aus dem Munde, spuckte weit hinüber in die Stubenecke, fuhr sich mit dem rotgetupften Taschentuch über die Augen, über die schmalrückige, etwas zu lang geratene Nase und zuletzt über den borstigen Schnurrbart, dessen lange Enden schlaff und trübselig herabhingen, denn Johannes Mehl hatte in seinem Leben noch nichts von Bartwichse vernommen, viel weniger etwas damit erreicht. Nachdem er alle diese Verrichtungen mit der abgemessenen Ruhe eines Menschen, der weder Nerven noch Nervenkrankheiten kennt, besorgt hatte, nahm er einen der schweren, lackierten Stühle unter dem runden Tisch hervor, zog die weißgrauen Drellbeinkleider an den spitzen Knien etwas in die Höhe und ließ sich so bedächtig und zielbewußt nieder, daß man sofort sah, diesem hageren, arbeitsgewohnten Menschen ist der Besuch des Wirtshauses eine feierliche, eine nicht alltägliche Sache.
Und jetzt erst, als er seinen unbestrittenen Platz hatte, sah der Johannes sich in der Runde um, schob den schmierigen, vom Regen durchweichten Filzhut etwas zurück, streckte die langen, in schmutztriefenden Schaftstiefeln steckenden Beine aus und sagte bescheiden: »Grüß Gott beieinander auch!«
Der halblaute Gruß, der beinahe schüchtern klang, paßte wenig zu dem gebräunten, knochigen Gesicht und der wetterfesten Gestalt des Steinhauers oder Akkordanten, wie er sich lieber nennen hörte. Die zwei Männer, an die der Gruß gerichtet war, schienen ähnlich zu denken. Prüfend, beinahe erstaunt sahen sie dem Ankömmling ins Gesicht, dann spuckte der eine aus, stützte den Kopf vom rechten Ellbogen auf den linken, nahm einen Schluck des schwarzbraunen, schaumlosen Gebräues, das unter dem Pseudonym »Lagerbier« in der Liebenau verschenkt wurde, und erwiderte mürrisch: »Grüß Gott!« Der andere der Tischgenossen schob seinen Teller mit Käserinde weg, steckte beide Hände in die Taschen seiner Lederhose und murmelte etwas, was vermutlich auch ein Gruß sein sollte.
Draußen rieselte es weiter, eintönig, langsam, unaufhörlich. Es war, als habe selbst der Regen hier in dem fernen, stillen Tal mehr Zeit und Muße, bedächtig herniederzuströmen, als draußen in der zivilisierten Welt, wo alles eilt und haftet, wo es Nerven gibt und Eisenbahnen und Präzisionschronometer, die nicht den Bruchteil einer Sekunde hinuntersinken lassen ins Meer der Ewigkeit, ohne ihn zuvor zu markieren.
Der Wirt ließ sich jetzt hinten am Ofen vor einem Teller gebratener Fischchen nieder. Die klaren Wasser, die das Räderwerk seiner Sägemühle trieben, lieferten ihm auch den Schmaus, an dem er sich den Appetit für Würste mit Knoblauch und Käse zu schärfen liebte.
Ein alter, tüchtiger Sägknecht und ein Eheweib, das nicht zu kränklich war, um vom Morgen bis zum Abend zu arbeiten, und doch kränklich genug, um vor dem robusten Eheherrn in steter schweigender Ängstlichkeit und Scheu dahinzuleben, – sie sorgten dafür, daß der Wirt zur Liebenau seine ausgesprochenen Anlagen zum ländlichen Gourmand mit Muße ausbilden konnte, ohne sich dazwischenhinein durch tüchtige Arbeit einen tüchtigen Hunger, diesen absoluten Feind aller Gourmandise, holen zu müssen.
Das Knacken der zerbrochenen und zerbissenen Gräten, das Ticktack der verstaubten Uhr und das Rieseln des Regens, das waren die einzigen Geräusche, die in der niederen Stube lange Zeit zu hören waren.
Plötzlich, als fahre er aus einem Traume auf, schlug der Mann, der so mürrisch gegrüßt hatte, mit der Faust auf den Tisch, daß es wetterte.
Johannes Mehl zog erschrocken die Beine an sich und langte nach dem Henkel seines Glases. Der andre nahm die Hände aus den Hosentaschen und starrte mit offenem Munde über den Tisch. Der Wirt aber rollte zürnend seine runden Augen, und er hätte vielleicht etwas gesprochen, wenn er nicht Angst gehabt hätte, bei dieser Gelegenheit eine Gräte in den Schlund zu bekommen.
So ging der unmotivierte Faustschlag ungerügt durch, und der Mann, der ihn geführt hatte, richtete sich strammer auf und schaute sich um. Er hatte ein fahles Gesicht und einen langen, hängenden Schnurrbart, weit länger und hängender, aber weniger struppig als der des Steinhauers. An einem der trüb blickenden Augen war das Lid gelähmt, so daß es sich niemals vollständig hob, was dem ganzen Gesicht einen widerlich energielosen Ausdruck gab. Der Hut saß dem Mann tief hinten im Genick, und die eckigen Schultern waren etwas hochgezogen wie bei Frierenden oder bei Schwindsüchtigen.
»Himmeldonnerwetter,« fing er jetzt an, »sind denn dahinten bei euch die Leut' von Holz, daß keiner ein Maul auftut, als wenn er was hineinschiebt?«
Der Steinhauer nahm die Pfeife aus dem Mund, spuckte zwischen seinen Knien hindurch und sagte ruhig: »'s gibt au Schwätzer bei uns dahinte, aber i be keiner davon.«
Der andre fuhr auf, schlug zum zweitenmal auf den Tisch und kreischte mit seiner heiseren, offenbar durch den Trunk verdorbenen Stimme: »Wenn das ein Stich auf mich ist, soll Euch 's Maul zuwachsen.«
Der Johannes Mehl lachte kurz auf, daß seine gelben, verrauchten Zähne einen Augenblick hinter dem Bart zu sehen waren, wodurch sein Gesicht mit einem Male viel jünger und viel weniger hager wurde.
»Wär' mir scho manchmol recht gewese, wenn's so wär',« sagte er; »i hätt' daheim no Mäuler g'nug, die Futter brauchet, und 's Futter ist oft so knapp.«
Dem dritten am Tisch mochten bei solchen Reden wohl seine zwei Gäule im Gaststall draußen einfallen. Er griff nach der langen Geißel, die neben ihm an der Wand hing, brummte etwas, das vielleicht Adieu hieß, und stapfte hinaus.
Der mit dem fahlen Gesicht rückte den Hut in die Stirn und meinte:
»Drum 's Heiraten bleiben lassen! Ich bin kein solcher Narr und füttere fünf, sechs Mäuler und bind' mein eignes hinten hinum. Hab' schon manche am Bändel g'habt – aber heiraten – das ist zwei Paar Stiefel.«
Der Wirt zur Liebenau war eben mit seinen Fischen fertig. Er lachte, wie die recht Satten lachen, schob durch das kleine Schiebfensterchen zu seiner Rechten den gebrauchten Teller seinem Weib in die Küche zum Abspülen und stimmte bei: »Do hent Ihr recht! Ehestand – Wehestand!«
Der Johannes Mehl sah vor sich hin, und in seinem Gesicht zuckte es, als wolle ein Gedanke sich ans Licht ringen; aber außer mächtigen Rauchwolken kam nichts unter dem struppigen Bart hervor.
Bei dem Fremden war offenbar das Eis jetzt gebrochen.
Eintönig wie ein plätschernder Bach kam ihm über die Lippen, was er alles schon an schlauen, bösen und gewagten Streichen verübt hatte draußen in der Welt. Solch einen Kerl wie ihn gab es nicht zum zweitenmal.
»Wenn man zwölf Jahre in der Fremde ist, dann lernt man 's Leben kennen. Ihr dahinten in eurem Schwarzwald, ihr habt's wie die Schildläuse; ihr sitzt fest und werdet immer grüner. Ihr seid rechte und wahrhaftige Esel, denn ihr traget nicht allein schwere Säcke, sondern ihr freßt auch Disteln. Oder ist's was andres, wenn Ihr, Wirt, eine Stunde lang Weißfische abnagt und immer in der Angst lebt, ob Ihr nicht erstickt? Ich hab' meiner Lebtag schon mehr Forellen gefressen, als ihr dahinten zu sehen kriegt.«
Der Geruch der frischgebackenen Fische war es gewesen, der den Fahlen vorhin aus seinem stumpfen Brüten geweckt hatte, und das Krachen der zahlreichen Gräten hatte das Feuer entzündet, das jetzt in dem hungrigen Menschen flammte. Ein um das andre Mal zuckte das gelähmte Lid, und in dem gesunden Auge glühte es wie Haß, als der Fremde fortfuhr:
»Ich bin schon bei allem dabei gewesen, bei allem. Z' Karlsruh' vor dem Schwurgericht, das war meine erste Sach'. Neunzehn Jahr alt bin ich gewesen, und wegen einer Schlägerei war's. Ich kenn alle Paragraphen von A bis Z. Den zweihundertundzehnten, den soll der Teufel holen. Aber ich hab's ›runter bracht‹ von vier Monat auf zwanzig Mark, ohne Anwalt, verstanden – ohne Anwalt.
Der Staatsanwalt, das ist auch so ein Rindvieh gewesen, so ein elender Tropf; aber ich hab's ihm gesagt, – ich hab's ihm gut gegeben. Und der Kerl, der mich 'neingeritten hat dazumal, der hat heutigentags nur noch ein Aug'! ›Herr Staatsanwalt,‹ hab' ich g'sagt, ›der Mann ist mein, und wenn mich drüber der Teufel holt.‹
Und nachher wegen der Brandstiftung. – Von der Arbeit weg haben sie mich geholt, mich, einen Familienvater; und zwei Jahr Zuchthaus hätt's kosten sollen – zwei Jahr!«
Der Johannes Mehl hörte zu und blies die Rauchwolken gedankenvoll gegen den Sprecher.
Jetzt nahm er die Pfeife aus dem Mund: »Hänt Ihr net vorich g'sagt, daß Ihr ledig seiet?«
Es klang so ruhig, fast schläfrig, was der Steinhauer da fragte; aber das lahme Lid des Fremden begann plötzlich stärker zu zucken.
»Ja, wisset Ihr,« begann er; aber er stockte wieder.
»Andres, gucket nach Eurer Säge, 's Rad steht!« sagte der Steinhauer und stand langsam auf.
Der dicke Wirt schlüpfte hinaus; aber er blieb am Schiebefensterchen stehen, denn für das Rad am Sägewerk sorgte der Knecht.
Des Fremden schmieriges Hütlein flog unter den Tisch, und richtig: Johannes Mehl, der stille Akkordant, dem für gewöhnlich nur Waldwege und Straßenbauten durch den Kopf gingen, er hatte den vielgereisten Fremdling beim Wickel und schüttelte ihn erst ganz sachte und bedächtig.
»Passet auf, Mann, wie so e Schildlaus vom Schwarzwald zulangt,« sagte er, und wieder zeigte er beim Lächeln die gesunden Zähne, und wieder war sein Gesicht jünger und hübscher.
»Hent Ihr e Weib oder nicht? Hent Ihr Kinder oder keine? Zahlet Ihr Eure Steuere? Schämet Ihr Euch, daß Ihr e Spielratz send? Schämet Ihr Euch, daß Ihr zustechet? Schämet Ihr Euch, daß Ihr fluchet? Schämet Ihr Euch, daß Ihr e Haus a'zündet hent? Schämet Ihr Euch, daß Ihr trinket? Schämet Ihr Euch …« So ging es fort in unzähligen Fragen, auf die nie eine Antwort kam und nie eine erwartet wurde; und zwischen jeder Frage klatschte es wie von einem guten, kräftigen Hieb. Dazwischen fiel auch dieser oder jener Stuhl um; aber es tat keinen Schaden, denn die Stühle waren gut, und dem Johannes Mehl ging nichts auf die Nerven.
Und zuletzt, als der ganze Fragevorrat erschöpft und erledigt war, als dem Johannes Mehl und dem Fremden so ziemlich der Atem ausging, da flog mit einem kräftigen Schwung der weitgereiste Kenner aller Strafgesetzparagraphen hinaus in den leise und ruhig rieselnden Regen.
Der Steinhauer trat zurück an den Tisch. Seinen ledernen Zuggeldbeutel holte er bedächtig hervor, und mit ungelenken Fingern suchte er die zehn Reichspfennige zusammen, die er für sein Glas Braunbier schuldig war.
Dann hängte er die Tasche mit der Dachshautdecke um, nahm seinen Stock, schob sich den Hut zurecht und trat wieder hinaus, um neugestärkt den schmutzigen Heimweg fortzusetzen.
Der Strauch voll üppiger Zentifolien, der das Grab des toten Hundes überschattete, er nickte mit ungezählten Blüten regenschwer über den Gartenzaun. Johannes Mehl blieb stehen, zog sein umfangreiches Taschenmesser hervor und schnitt sich einen Strauß der duftenden Rosen. Von jenseits des Gartens, hinter einer hochgeschichteten Bretterbeuge hervor, erklang es jetzt: »Tropf, miserabler, einen am Kragen packen, daß einem der Atem ausgeht, das ist keine Kunst, das könnet ihr Schwarzwälder, ihr Lumpen, ihr Esel; aber Brust gegen Brust und Aug' in Aug' – da seid ihr zu feig, eine feige Bande seid ihr – da liegt der Hund begraben!« …
Hellauf wie ein vergnügtes Kind lachte der Steinhauer, und er schüttelte den Rosenbusch, daß tausend Tropfen in die Runde flogen. »Nei, Mann, do liegt 'r!« rief er hinüber gegen den Helden im Hintergrund, und dann schritt er fürbaß, den Strauß mit den altmodischen Rosen, deren herrlicher Duft die neuesten und prächtigsten Sorten überragt, in der schwieligen Faust voll Sorgfalt von sich haltend.
Nasse, dampfende Dächer tauchten auf drunten unter den Tannen. Des Wandernden Pfeife qualmte stärker und weitausholender wurde sein gleichmäßiger Schritt.
Am ersten Häuschen des weltfernen Weilers stand Johannes Mehl. Tief hinein in den duftenden Rosenstrauch steckte er die schmale, lange Nase. Und wie er jetzt wieder aufsah, da lachten seine Augen, und selbst der borstige Bart schien mit einem Male weicher. Und dann saßen ihm zwei auf den Knien, der Franz und der Emil, und zwei andre schleppten ihm die warmen, alten Schuhe her, und wieder zwei andere lüfteten den Dachshautdeckel an der verregneten Tasche.
Knoblauchriechende Würste, weißes Brot und Käse zogen die Schlingel hervor, und sie fielen darüber her wie die Wölfe.
Der Johannes Mehl aber preßte die Lippen aufeinander, als wären sie ihm zugewachsen, und er dachte an den frommen Wunsch des verprügelten Weltreisenden, an den Fruchtschnaps und das Bier, das er heute schon genossen.
Ein großes, robustes, starkknochiges Weib trat jetzt über die Schwelle. Der Mann setzte die Buben von den Knien auf den Boden, und er reichte dem Weib die Rosen, und es klang wieder so leise, fast schläfrig: »Grüß Gott beieinander auch!«
Aber die Zähne schimmerten wieder hinter dem Schnurrbart, jung und hübsch war des Johannes Mehl braunes, hageres Gesicht, Sonnenschein lag darauf, heller Sonnenschein, und das robuste Weib, es drückte schweigend das Antlitz in die altmodischen regennassen Rosen.