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Wie der Adam starb.

Ich war dabei, als der Adam starb.

Zwei Tage vorher hatte man mich zu dem Bauern gerufen. Ich spannte meinen Schimmel ein, fuhr hinauf auf die rauhe Höhe, auf der des Adams Hof zwischen den schlechten Föhrenbeständen liegt, sah mir den Mann an und wußte, was es geschlagen hatte.

Am andern Tag fand ich den Kranken besser. Er hatte soeben vom Bett aus für zweitausend Mark Papierholz aus seinen Wäldern verkauft, das wirkt auf einen Bauern von Adams Sorte stimulierend.

Am dritten Tag kam ich just zum Sterben.

Still und verlassen lag das Haus, nur das jüngste der Adamskinder, das auch wieder ein Adam war, umtanzte in der Stube des Vaters Bett und merkte nicht, daß ein anderer Tänzer mit Hippe und Stundenglas im Begriff war, anzutreten.

»Guck', Vatter, guck!« jubelte der flachsköpfige Bub und zeigte dem Mann eine selbstgefertigte Peitsche. Aber der andere, der Unsichtbare, schien dem Bauern auch etwas zu zeigen.

Was es war, weiß ich nicht. Ich weiß nur, daß der Mann auf der Bettstatt, in der er die langen Beine nicht vollständig ausstrecken konnte, an die niedrige, getünchte Decke starrte mit ganz großen, glasigen Augen und für seines Jüngsten Peitsche keinen Blick übrig hatte.

Da hieß ich den Buben hinausgehen. Aber er reckte nur die rote Zunge heraus und ging nicht. Neben dem weißgestrichenen Schränkchen in der hintersten Stubenecke kauerte er sich auf den Boden, holte aus den Schrankfächern Würfelbecher und ein schmieriges Kartenspiel, schlug mit der kleinen Faust auf die Diele und schrie, sein helles Kinderstimmchen zu seltsam heiserem Ton zwingend: »Trumpf raus!«

Der Mann auf dem Bett grinste. Ein volles Lachen kam nicht mehr heraus.

Es ist auch keine Sache zum Lachen, mit 46 Jahren davon zu müssen und acht mutterlose, noch nicht versorgte Kinder dahinten zu lassen. Besonders, wenn man, wie der Adam, ein Mann war, groß, stark und gerade wie ein Wiesbaum, mit einer derben Lebenskraft und Lebensfreudigkeit und der brutalen Welt- und Daseinsliebe eines eisernen Bauernkörpers.

»Vor dem Adam so't sich Tod und Teufel fürchte,« sagten die Dorfleute, als sie hörten, daß er auf dem letzten Lager liege. Aber diese beiden sind nicht furchtsam. Wenigstens der Tod nicht. Das kann ich bezeugen. Unerschrocken ging er dem Bauern zuleib. Ich stand daneben, hatte meine paar Mixturen zur Hand und kam mir vor wie ein winziger Zwerg, der den heranschreitenden Riesen in die Stiefelschäfte zwickt, um ihn im Laufe aufzuhalten.

Wie es dann der Teufel mit der Nachlese gehalten hat, kann ich nicht sagen. Der Pfarrer, den ich sonst als einen Mann von Wort kenne, hat am Grab behauptet, des Toten Seele ruhe in Gottes Hand.

Aber so weit sind wir noch nicht.

Also der Adam lag und starrte an die Decke. Ich kramte am Tisch lautlos in dem armseligen Arsenal, das unsereinem zur Verfügung steht, wenn es gilt, den letzten Fußtritt, den letzten Hieb und Stoß des Gewaltigen vielleicht ein wenig abzuschwächen: ein bißchen Äther, und ein bißchen Kampfer und ein bißchen viel von dem Gefühl elendester Unzulänglichkeit – wie das eben so ist, wenn ein Doktor soll leben helfen und nicht einmal weiß, wie man sterben hilft.

Da verlangte der Adam plötzlich nach dem Pfarrer.

Nichts lieber als das.

Ich sehe in den geistlichen Herren schon so wie so allezeit unsere natürlichen Angrenzer; aber an Sterbebetten lasse ich ihnen unbedingt den Vortritt. Besonders wenn einmal mit Kampfer und Äther usw. nichts mehr zu machen ist.

Ich sage also zu dem kleinen Adam in der Stubenecke, er soll schnell seine Geschwister und die Magd rufen.

Der blondköpfige Spieler wirft erst noch mal Pasch, dann schleudert er unwillig dem imaginären Spielkumpan den Becher hin, ruft: »Du kommst, Michel!« springt auf und streicht sich über die Lederhosen.

Patzig steckt er dann die Hände in die Taschen und erklärt: »D' Gret und 's Annemeile und d' Kätter send in de Krummbire, der Michel und der Frieder schneidet Haber, und der Hannes holt mit 'em Jakob Stange im hintere Wald!«

»Und die Magd?« frage ich dringlich.

»Die ischt vorig mit ihrem Schatz hinter der Dreschmaschin' g'stande.«

Das ist alles ganz in der Ordnung so. Zum Kartoffelholen, zum Haberschneiden und Stangenführen gehören die rüstigen Kräfte der sieben Geschwister. Den todkranken Vater einige Nachmittagsstunden hindurch hüten, das kann der Adam mit der Magd, die so wie so nicht vom Hause weg darf, weil das Vieh im Stall auf die Stunde hin sein Futter braucht und gemolken sein will. Man wird doch in einem rechten Bauernhaus dem Vieh nichts abgehen lassen. Nicht einmal im »Heuet« oder in der Ernte; viel weniger, wenn nur der Bauer sterben will.

Ich ging ans Kammerfenster und rief der Magd. So tüchtig der kleine Adam schon im Karten- und Würfelspiel ist, so wenig bringt man ihn dazu, etwas zu tun, zu dem ihn der Geist nicht treibt.

»Bärbele,« rief ich in den Hof hinunter, »hole schnell den Pfarrer, dein Vetter will sterben.«

»Vetter« nennen die Dienstleute dort oben den Herrn des Hauses.

Unmutig sah das Bärbele auf. Wer wollte ihr den Zornesblick verargen. Nicht jeden Nachmittag konnte sie so ungestört bei ihrem Frieder stehen, und gerade heute mußte der Bauer nach dem Pfarrer verlangen!

Aber sie ging trotzdem. Das Bärbele ist noch lange keine von den Schlimmsten.

Langsam breiteten sich Abendschatten über die Höhe draußen. Von weit her, vom östlichen Horizont rückten sie herüber. Wie dunkle Nebel kamen sie angewallt, ungeheuer, unfaßbar mit leisem, schleichendem Katzentritt. Ich stand am Fenster und sah sie kommen. Hinter mir ächzte der Bauer, rollten die Würfel und tickte die alte Uhr.

Meinen dicken Schimmel, der über der Straße drüben in des Ochsenwirts schmutzigem Gaststall stand, hörte ich mit den Hufen scharren und schlagen, als wolle er zum Aufbruch mahnen. Aber ich redete mir ein, ich könne den Bauern, dessen sieben ältere Kinder so ordentlich bei der Arbeit waren, nicht allein lassen, um nun auch meinerseits meiner Arbeit weiter nachzugehen. Und überdies interessierte mich der Fall. Dieser Fall, in dem einer, der mit der letzten Faser, der letzten Wurzel seines ganzen Seins und Wesens am karten- und würfel-, wein- und weibdurchsetzten Leben hing, sich mit dem Tod und dem Pfarrer auseinandersetzte.

So blieb ich denn und sah die Abend- und die Todesschatten näherrücken.

Im Hof wurde es jetzt laut. Die Geschwister kamen heim vom Acker und Wald.

Ich sah und hörte, wie die Söhne die Ochsen ausschirrten und sorglich unter Dach brachten; aber ich hörte nicht, daß einer den kleinen Adam, der aus dem Kammerfenster blickte, nach dem Vater fragte.

»Der Doktor ist do,« schrie der Bub. Da murrte die Gret, indem sie sich die kotigen Schuhe mit dem Stallbesen säuberte: »Scho wieder!«

Sie hatte recht. Ich hätte können ruhig den Gang sparen; ihr Vater wäre auch ohne mich in der Nacht, die jetzt rasch heraufzog, gestorben.

Klappernd, als hätten sie Holzschuhe an den müden Füßen, kamen jetzt die Geschwister nacheinander in die niedere Stube. Sie brachten Stalldüfte und den scharfen Geruch von frischer, feuchter Erde mit. Das ist kein guter Geruch für Sterbende. Die leise, ferne Ahnung ewig sich erneuernden Lebens, die darin liegt, fassen sie nicht mehr; nur vom nahen Grab redet zu ihnen der Erdgeruch.

Unruhig drehte der Bauer auf seinem Lager den Kopf.

»So, send ihr do?« fragte er gleichgültig.

»'s Bärbele holt de Pfarrer,« erzählte wichtig der Jüngste.

Da ging es durch die sieben andern wie ein wuchtiges, plumpes Erschrecken.

»Stoht's denn e so?« fragte auch der Frieder, der fast schon so lang war wie sein Vater und mit seinen zweiundzwanzig Jahren in kurzem der Hofbauer sein würde.

»Könnet Se ihm denn nix meh gea?« wandte sich das Annemeile an mich.

Ich sagte das alte Sprüchlein vom Tod, gegen den kein Kraut gewachsen ist; aber mir entging nicht, wie trotzdem die Augen der Sieben einen Moment lang sich voll Geringschätzung auf mich richteten. Die Gret entzündete jetzt die Lampe über dem Tisch, nahm dem kleinen Adam Würfel und Karten aus den Händen und legte beides auf den hohen Bord über der Türe, wo die Töpfe mit saurer Milch standen. Ratlos, verlegen und verscheucht standen die Geschwister. Weit weg von dem schmalen Bett an der Wand hielten sie sich, als drohe von dort her Gefahr.

Durch die warme Nacht zog jetzt dünner, müder Glockenklang.

»D' Betglock' läutet,« sagte das Annemeile.

»D' Betglock' läutet,« wiederholte jetzt leise der Frieder.

Es war, als seien plötzlich alle dieser Ablenkung froh. Im Kreis umstanden sie den Tisch. Die schwieligen, jungen Hände schlangen sich ineinander, tief neigten sich die Köpfe.

»Adamle, bet'!« sagte die Gret.

»Bet' du!« gab der Bub zurück.

Und die Gret betete: »Liebster Mensch, was mag bedeuten dieses späte Glockenläuten? Es bedeutet abermal deines Lebens Ziel und Zahl! Dieser Tag hat abgenommen, bald wird auch der Tod herkommen. Drum, o Mensch, so schicke dich, daß du sterbest seliglich.«

»Amen,« sagte ich. Es kam mir so in die Kehle in dieser Stunde. Sie sahen wieder alle zu mir her. Ich glaube, mein Amen hat sie aus der Andacht gebracht. Der Bauer liebt keine Improvisationen.

Jetzt klang des Pfarrherrn wuchtiger Schritt im Flur. Ich habe diesen Schritt in manchem Bauernhaus auf der Höhe gehört, und jedesmal hat er mir ein innerliches Lächeln abgenötigt. War es doch eigentlich nicht des Mannes Schritt, sondern nur der Schritt seiner breiten, plumpen, nägelbeschlagenen Bauernstiefel, die ein armes Schuhmacherlein der Gemeinde nach bestem Wissen und Können machen durfte, dem pfarrherrlichen Geldbeutel ebenso zulieb, wie dem alten Männlein, das wenig Arbeit fand in einer Gegend, wo die goldene Jugend fast das ganze Jahr hindurch barfuß lief.

Des Pfarrherrn eigentlicher Schritt hätte leicht, sicher, seelenruhig, schlicht sein müssen, ein Schritt, der nie strauchelt, nie eilt und nie in die Irre geht.

Der Pfarrer klopfte und trat ein. Er wartete kein Herein ab. Er wußte, daß man ihm das als eine ganz unnötige, ja ungeistliche Vornehmtuerei angerechnet hätte.

Er grüßte auch die Geschwister nur kurz, reichte mir nur flüchtig die Hand. Der Adam wollte sterben; – alles andere ging ihn nichts an.

Dieser Dorfpfarrer in den unmöglichen Stiefeln und dem vertragenen Anzug, dieser derbe, knochige Mann mit dem rötlichen Bocksbart, der aussieht, als werde er nur stehen gelassen, um das Rasieren zu vereinfachen, er ist einer von denen, die nie das Unnötige unter das Nötige mengen.

Er zog sich den Stuhl an des Kranken Bett, nahm die schwielige, schon erkaltende Bauernhand in seine zwei großen, lebenswarmen Hände und fragte: »Kennst mi no, Adam?«

Ich weiß, daß dieser sterbende Bauer in seinem derben Leben den Pfarrer nur dem Rock und dem Namen nach gekannt hat. Ich weiß, daß er ihm nur eine Art beiläufiger Achtung entgegenbrachte, dieweil der geistliche Herr nie durchs Dorf ging, ohne daß die langen Flügel seines Rockes aufgebauscht waren von allerlei guten Gaben, die Kranken und Armen bestimmt und zugedacht waren. Was ein Pfarrer, was insonderheit dieser Pfarrer sonst noch zu geben hat, das hatte den Adam nie viel gekümmert.

Aber jetzt sah ich am Blick der trüber werdenden Augen, daß der Bauer beim Pfarrer etwas suchte, das mit aufgebauschten Rocktaschen nichts zu tun hatte.

»O, Herr Pfarrer,« sagte er leise und schwer, wie ein angstgequältes Kind »o Mutter« sagt.

Da setzte sich der Rotbärtige zurecht. Mir sah es aus, als legte sich ein gutes Pferd ins Zeug, weil es den Berg ahnt, über den die schwere Fuhre gebracht sein will.

»Adam,« sagte er, »jetzt heißt's durch e dunkles Gäßle gehe! Aber no z'friede, Adam, 's geht alleweil der Heimat zu! Wisset Ihr no von der Kinderlehr' her, wie und wem wir Christemensche lebe und sterbe sollet?«

Der Bauer starrte mit seitwärts gewendetem Kopf am Pfarrer vorüber ins Lampenlicht.

Lautlos still war's in der dumpfen Stube.

Da klang es noch einmal eintönig von des Pfarrers Mund: »Wisset Ihr nemme von Eurer Kinderlehr' her, wie und wem wir Christemensche lebe und sterbe sollet?« – – –

Warum soll ich's leugnen? – Mir lief ein leises, kaltes Grauen über den Rücken. Meine Mutter suchte ich hervor, die fromme, tote, alte, und meine eigene »Kinderlehre«, und ich besann mich, ich wühlte blitzschnell mein eigenes Innere auf, ob denn etwa ich an des erkaltenden Adams Stelle dort gewußt hätte, was dieser Bauernpfarrer so zäh erfragen wollte.

Meine Augen hingen an Adams Mund; mir war, als müsse der Antwort geben, auch für mich.

»'s ischt lang'her, Herr Pfarrer!« klang es jetzt ganz müde.

»Lang' ist's her,« rief auch etwas in mir.

Der Pfarrer schüttelte unmerklich des Bauern Hand. Nicht wie ein Vorwurf oder wie eine ärgerliche Erregung sah es aus, viel eher wie eine Ermutigung.

»'s ischt lang' her; aber's gilt immer no wie's damals golte hot: Herr Jesu, dir leb' ich, dir leid' ich, dir sterb' ich!«

Ganz schlicht sprach der Pfarrer, ohne jedes Pathos, wie man Wahrheiten spricht, nicht Worte.

Am Tisch drüben schluchzte auf einmal das Annemeile laut auf. Der kleine Adam fragte: »Annemeile, worum heulst?« Aber er bekam keine Antwort und machte sich näher her ans Fußende von seines Vaters Bett.

Der Kranke stützte plötzlich den Kopf auf den Ellbogen und blickte mit aufflackernder Kraft hell in des Pfarrers Gesicht.

»So soll's sei, Herr Pfarrer; wenn's aber äll meiner Lebtag bei mir net so g'wese ischt, wie soll's no im Sterbe werde?« – – –

Ich sah den Rotbärtigen an und war froh, nur der Doktor zu sein, von dem man über Kampfer und Äther hinaus nichts mehr verlangen kann.

Aber der Rotbärtige zuckte nicht. Seine Augen blickten klar wie zuvor hinter der Brille, und statt in Bausch und Bogen eine gute probate Verhaltungsmaßregel für solch ein Bauernsterben zu geben, sagte er ganz einfach: »Euch drückt ebbes, Adam. Ladet ab, Freund, ladet no ab. Wenn Ihr bei mir ablade wöllet, na sollet die Bube und Mädle aus der Stub' gehe; wenn Ihr aber beim liebe Herrgott direkt ablade wöllet, könnet Ihr's ganz in der Stille abmache, und i will halt mit Euch bete.«

Um den, von schwarzen Bartstoppeln umgebenen Mund des Bauern, flog ein Zug von Stolz.

»Die Bube und Mädle und au der Doktor sollet no dobleibe! I han meiner Lebtag nix do, wo mer net wisse derf. No g'rad g'spielt han i hie und do, oder über de Durst trunke. En d'Kirch bin i au net oft gange. 's hot mi immer g'schläfert do drinne. No han i äls denkt: Adam, schlofe kannst daheim besser. Aber sonst han i nie nix a'g'stellt, was mer net wisse derf.«

Der Pfarrer sah vor sich hin. Ich sah seine großen, weißen Finger unruhig sich bewegen, wie es bei Leuten zutrifft, deren Hirn rasch und intensiv arbeitet.

»So, so,« sagte er, und er sprach plötzlich, und wie mir schien unbewußt, hochdeutsch: »Ihr habt also nichts Besonderes abzuladen. Aber Adam, ich bitte Euch, besinnt Euch, habt Ihr nie lieblos gedacht, geredet und gehandelt? Denn Ihr müßt wissen: die Sünden, die gegen die Liebe gehen, das sind zumeist die verborgensten und immer die schwersten in eines Menschen Leben. Das sind die Sünden, die nicht ruhig sterben lassen, denn ›die Liebe ist die größeste unter ihnen‹; und wer dieser Größesten ins Gesicht schlägt, der kann nimmer zum Frieden kommen, nicht im Leben und nicht im Sterben.«

Tief und voll klang des Pfarrers Stimme, wie Glockenton.

Die Gret, das robuste Wesen mit dem Stallduft in den Arbeitskleidern, schob sich an mir vorbei zum Sterbelager, nahm den Zipfel ihrer leinenen Schürze auf und trocknete dem Bauern, der immer noch auf den Pfarrer starrte, den Schweiß von der Stirn.

»Vatter,« schluchzte das Annemeile, und die Buben standen mit seltsam hilflosen Gesichtern beisammen.

Nur den kleinen Adam sah ich auf einen Stuhl klettern und nach den weggelegten Würfeln fingern. Er kam offenbar am Totenbett des Vaters nicht auf seine Kosten. Der Bauer legte sich zurück und stöhnte auf.

»So, so,« sagte er zweimal, »so, so!«

Dann, als sei ihm jetzt ein richtiger Gedanke gekommen, kehrte er sich wieder dem Pfarrer zu. Was in seinen weit offenen Augen geschrieben stand, schien mir eher eine Art naiver Neugierde zu sein, als brünstiges Heilsverlangen. »Mei Weib, d'Kätter, han i ällbott Dann und wann. g'haue! Meinet Sie des, Herr Pfarrer?«

Der Rotbärtige nickte kaum merklich.

»I han se au immer härt nag'lasse mit der Ärbet.«

Wieder nickte der Pfarrer.

»Geld han i ihre au net viel gebe.«

Der Pfarrer nickte.

»I han ihre net oft a G'wand kauft.«

Der Pfarrer nickte.

»I hann se au nie mitg'nomme, wenn i z'Märkt oder sonst über Feld be.«

Der Pfarrer nickte.

Des Bauern Stimme wurde mit einem Male ängstlicher und weinerlicher.

»I han ihre nie en Wei' ins Haus to und sie hot doch so viel Kinder hau müsse.«

Ganz reglos saß der Pfarrer.

»In jedem Kindbett hot se müsse am dritte Tag wieder 'raus.« – –

Der Pfarrer rührte sich nicht. Mir ballten sich die Fäuste. Ich kenne sie allzugut, diese Bauernregel mit allen ihren Folgen.

»Ihr waret ein Unmensch, Adam,« sagte ich laut.

Sie sahen alle zu mir her, erstaunt über die weltliche Einmischung.

Nur der Pfarrer blickte nicht auf. »Weiter,« murmelte er.

Adam fuhr unruhig mit der Hand auf dem rotgestreiften Deckbett hin und her. Seine Stimme klang jetzt wie ein heiseres Schluchzen. »Wie der letzt' Bu komme ischt, mei Adamle, hot se am dritte Tag' net ufstehe wölla. No ischt mir der Zorn komme, ins Rößle bin i nunter, ins Unterdorf, und wie i dort sitz' und kartl', kommt d' Gret und sait: – – –«

»Michel, du Herrgottslump, du bist am Stich!« rief in diesem Augenblick der kleine Adam von der Ofenbank her, wo er vertieft in sein Spiel mit den wiederergatterten Karten stand.

Ich sah des Pfarrers Gesicht einen Augenblick lang verzerrt, wie wenn ein großer Schrecken oder ein jäher Schmerz darüber hingezuckt wäre. Der Bauer aber deckte die Hand über die Augen und stöhnte: »O Kätterle!« Eine Welt von Gewisssensqual lag in dem Wort. Ich wandte mich um und sah in die Nacht hinaus, die in schwerer, schwarzer Wucht sich an die kleinen Scheiben herdrängte. Und in der Schwärze da draußen sah ich das Weiblein mit dem dünnen Haarzopf, dem Kropfansatz, dem faltigen, reizlosen Gesicht. Ich sah sie stehen mit ihrem schmächtigen, zu Tod' geschundenen Leib, und ich sah sie auf einmal wachsen, wachsen zu einer Riesin, die Unmenschliches durch ein Menschenleben schleppte.

Ich bin kein reicher Mann; aber ich hätte in jenem Augenblick hundert Mark gegeben, wenn ich des Adams Kätter, die ich bei meinen Fahrten über die Höhe so dutzendmal im Krautacker oder im Kornfeld hantieren sah, nur ein einziges Mal ein gutes, ein anerkennendes, ein bewunderndes Wort gesagt hätte. Aber das Weiblein hatte mich nur immer scheu gegrüßt, ich ihr nur gleichgültig gedankt. Scheußlich, dieses Gefühl, ein blöder Rohling gewesen zu sein, und nichts mehr gut machen zu können.

Der Pfarrer stand auf und fuhr sich durch die langen, vollen Haare, die in einem braunen Schopf über der breiten Stirne lagerten.

»Ich weiß,« sagte er traurig, leise, »d' Kätter ist ganz allein gestorben.«

Die Geschwister am Tisch und Gret neben ihrem Vater weinten mit einemmal laut auf. Als sei ihnen der halbvergessenen Mutter Tod plötzlich in ein ganz neues Licht gerückt, so gebärdeten sie sich. Dem Bauer auf jener Höhe gilt nur der laute Schmerz für echt.

Der Pfarrer winkte abweisend mit der Hand. Er beugte sich über den Sterbenden: »Saget Ihr immer noch: ›i han doch nix do, was mer net wisse derf?‹ Wisset Ihr jetzt, was das heißt, gegen die Liebe sündigen? Adam, Adam, Ihr seid wohl ein belasteter Mann und tut gut, abzuladen vor Gottes Thron. Denn es ist wahrlich ein schmaler Durchlaß, durch den einer beim Tod hindurch muß, und wer solch ein Bündel von Lieblosigkeit Huckepack trägt, wie Ihr, der mag leicht steckenbleiben.«

Der Bauer stierte vor sich hin. Ich glaubte bei dem schlechten Licht die beginnende Agonie zu erkennen. Nicht mehr die brennende Qual lag auf dem Gesicht. Mir schien fast, als rauschten die hochdeutschen Worte des Pfarrers an dem Ohr des Kranken vorbei.

Auf einmal verzerrte sich der Stoppelmund, als wollte er lächeln. »Bündel trage, des ka' mei' Kätter, die nemmt en scho,« sagte er ganz langsam, wie aus einem Traum heraus.

»Er stirbt,« schrie die Gret plötzlich auf.

Der Bauer riß die Augen weit auf, als habe ihm dieser Ruf ein Traumbild verscheucht.

»O, Herr Pfarrer,« seufzte er.

Der Rotbart fuhr in die hintere Rocktasche. Ich glaube, das war bei ihm ein ganz instinktiver Griff, wenn er jemand seufzen hörte. Ein Döschen Fleischextrakt brachte er hervor, steckte es wieder ein und kramte weiter. Endlich schien er das Rechte erwischt zu haben. Er hielt mir eine kleine Flasche hin mit tiefdunklem Wein.

»Ich darf doch? Es ist mein Sterbwein. Zehnjähriger Tokaier.« Ich nickte. Wer wollte diesem armen Dorfpfarrer wehren, einen Wein zu verschenken, von dem die Flasche fünf österreichische Gulden oder noch mehr kostet. Als »Sterbwein« konnte er sicher nichts schaden, so wenig wie mein Kampfer nützen würde.

Der Pfarrer goß ein Taschenbecherchen voll und führte es dem Adam an die Lippen, indem er ihm sorglich den müden Kopf hochhielt. Der Bauer schlürfte und schluckte.

»Ah!« sagte er, »ah,« als wache noch einmal alles Lebensbehagen auf. Dann wischte er sich mit zitternder Hand die Lippen ab und meinte:

»Des ischt mei Nachtmohl Das Abendmahl. gwe'.«

Auf der Ofenbank klapperten die Würfel und rollten kollernd zur Erde. Die Gret nahm die Schürze vom Gesicht und rief: »Jakob, nemm doch dem Büeble die Würfel.«

Da stützte sich der Bauer noch einmal auf den Ellbogen. »Lasset doch mei' Büeble,« murmelte er, »'s ischt scho so e g'scheit's Büeble! Adamle, komm' her, Adamle!«

Die Stimme des Mannes brach, seines jüngsten Kindes Name war der letzte Laut, der aus dem Stoppelmund kam.

 

Mit dem Rotbart schritt ich die steile, böse Treppe hinunter. Eine Stallaterne gab kümmerlichen Schein, und aus der Stube oben gellte das Weinen der Waisen hinter uns her.

Ich mußte wieder auf des Pfarrers genagelte Stiefel horchen, die so schwer und brutal auf dem Holz der Treppe knirschten.

Im Hof standen wir beide still, zögernd, verlegen fast, als wüßten wir nicht recht, wie man nach solchem Intermezzo auseinandergeht.

»Es muß auch solche Käuze geben!« sagte ich, nur um etwas zu sagen.

Der Pfarrer nahm meine Hand, ganz hastig, ganz impulsiv, wie aus einer großen, inneren Bewegung heraus, die er nicht mehr zurückdrängen konnte. »Gott sei Dank,« sagte er mit verhaltener Stimme, »Gott sei Dank, daß er das von seinem Adamle noch gesagt hat! Gute Nacht!« Damit stapfte der Rotbart durchs Hoftor hinaus in die Nacht hinein. Die ganze lange Gasse hinunter hörte ich seinen plumpen Schritt, bis ihn die Dorfhunde überkläfften.

Mein Schimmel trottete seinen Weg durch die Finsternis. Ich glaube, ich ließ ihm ganz und gar die Zügel. Über meinen Angrenzer an Kranken- und Sterbebetten mußte ich nachdenken. Um Karten und Würfel regte der sich nicht auf; aber wenn er ein Körnchen Liebe, nur solch ein armseliges Körnchen halbtierischer Vaterliebe fand, dann zitterten ihm die Hände.

Es muß auch solche Käuze geben.


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