Auguste Supper
Auf alten Wegen
Auguste Supper

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Die Kapelle

Zwischen ausgedehnten Schafweiden und weithingebreitetem Moränenschutt steht wie verirrt und verloren die Kapelle.

Es weiß in der Gegend niemand mehr, wem sie geweiht war, oder wann und wie sie in die Einöde kam.

Ihr graues, uraltes Mauerwerk zerbröckelt, ihr winziges Dachreiterlein hängt schief, wie vom Sturm halb umgeblasen, die Türe zu dem einst heiligen Raum ist längst verschwunden; es ist völlig leer und öd da drinnen, nur die Nesseln wachsen in den Ecken.

Fremd, ja unheimlich liegt sie auf der windüberstrichenen Hochfläche, und selbst wenn die stillwandernde Sonne durch die Löcher ihres Gemäuers und ihres Daches scheint, wird es nicht warm und nicht hell in ihr.

Jedem, der eintritt, ist, als ob er in einen Keller käme. Die grauen Steine hauchen Kühle und Moder aus, schädlich allem Lebendigen.

Auf der Oede dort oben bläst der Wind rauher als anderswo. Er fährt den Schafen, die da jahraus jahrein weiden, ins dicke Vließ, er zaust die Wacholderbüsche, die wie kümmerliche Zypressen da und dort zwischen Geröll stehen, er heult und winselt in dem 125 löcherigen Mauerwerk der Kapelle. Weil er so brutal und unduldsam ist, kann kein rechter Baum auf der Höhe gedeihen.

Wenn der Winter naht und die Finken, die Emmerlinge, die Haubenlerchen sich zu Scharen zusammentun, dann schwirrt es auch manchmal um die Mauern.

Aber noch niemand hat erlebt, daß die Vögel sich wirklich niederließen. Vielleicht sitzen sie einen kleinen Augenblick, um dann, als sei ein jäher Schrecken in sie gefahren, blitzschnell davonzuschwirren.

Nur die großen, schwarzen Käfer – Böcke heißt man sie kurzweg in der Gegend – wagen sich in die Kapelle, ja es scheint ihnen zu behagen da drinnen.

Und dann ist da auch noch Herrn Lorenz', des reichen Schafhalters Lorenz etwa zwölfjähriger Sohn Herm, der dann und wann in dem Heiligtum auftaucht und sich vor Kühle und Moderduft nicht fürchtet.

Hermann hieß er eigentlich. Aber schon als Kind hatte er nur ungern und nur notdürftig gesprochen, als halte er diese Menschensache für etwas Unnötiges.

Damals kürzte er seinen Namen auf ein Mindestmaß und dabei blieb es auch späterhin.

Einmal war er krank. Hinterher sprach er fast gar nicht mehr und scheute die Menschen, wie ein verschüchtertes Tierlein.

Sein Geist habe gelitten, sagten solche, die nicht wissen, daß der Geist nicht leiden kann. Daß ihm nur 126 die eine oder die andere der Tasten, darauf er seine Melodie spielen muß, entzogen werden kann durch Krankheit.

Herms liebstes Tun, das ihm um so weniger jemand wehrte, als er längst keine Mutter mehr hatte, war das Herumstreichen auf den Schafweiden seines Vaters.

Die Oede und Stille da draußen war etwas, was er verstand und was nicht drohend, wie so vieles, gegen ihn herkam.

Mit der ganzen, fast wilden Kraft seines Herzens, die sich nicht, wie bei andern Leuten, mit dem Verstand in alles teilen mußte, liebte er die Einöde. Sie wurde ihm die eigentliche Heimat, wo ihm am wohlsten war. Hier sammelte er Kostbarkeiten, von denen niemand eine Ahnung hatte.

Die uralte Moräne, auf der er, sehnsüchtig nach Schätzen, dahinstreifte, gab ihm ihre schönsten Steinchen heraus. Geäderte und gestreifte, silberglänzende und dunkelschimmernde, alabasterweiße und glasgrüne, wie sie in verwitterter Nagelfluh sich finden.

Ein ungeheurer Reichtum war für den Knaben ausgebreitet; so vermißte er die Menschen nicht.

Und doch – als er dann den einen, den rechten fand, da trat vor diesem alles andere in den Hintergrund.

Zu einer der Schafherden war ein neuer Schäfer gekommen. Ein ganz junger, vielleicht sechzehn- oder siebzehnjähriger. 127

Dionys hieß der Neue, oder kurzweg Donisl.

Herm und Donisl gehörten von Stund an zusammen, wie David und Jonathan, oder Kastor und Pollux, oder sonst ein untrennbares Paar, von dem die Menschheit weiß.

Von den Zweien wußte man nichts. So unauffällig und selbstverständlich, wie sich draußen in der Natur gar viel Wichtiges und Folgenschweres vollzieht, vollzog sich das Bündnis zwischen ihnen.

Wo seither den streifenden Herm sein Finderglück allein geleitet hatte, da führte ihn jetzt das unbegreifliche Wissen des Donisl zu allen Herrlichkeiten.

Es war, als kämen Vögel und Käfer, Schnecken und Blindschleichen, ja Fuchs und Hamster zum Donisl, um ihm mitzuteilen, wo sie bauen und legen, Junge werfen, brüten, säugen und füttern wollten, und wann die Zeit sei, sich das alles mitanzusehen.

Dazu wußte der Schäfer mit Wind und Wetter Bescheid und kannte sich aus unter den Sternen, die dem Herm das große Rätsel waren, das er nicht müde wurde zu bestaunen; sei's, daß er den einsamen Abendstern im blassen Himmel funkeln sah, sei's, daß die zahllose Schar der Goldenen aus der dunklen Stille droben heruntergrüßte.

Herm wurde nicht von Zweifeln gequält. Was der Schäfer sagte, war ihm die Wahrheit schlechthin.

Weil Donisl nie Ansprüche stellte, fühlte Herm eine 128 grenzenlose Hingabe für ihn, wie sonst für niemand. Er gehörte ihm zu den geliebten Dingen der Einsamkeit, die immer gleich verläßlich und beglückend waren und denen man nie irgendein Mißtrauen entgegenbrachte.

An einem heißen Sommertag, als er ihn lang vergeblich gesucht hatte, fand Herm den Schäfer im verfallenen Chor der Kapelle.

Durch ein Mauerloch konnte man die Herde sehen, die zwischen dem grünen Gestrüpp draußen weidete.

Als Herm hereintrat, winkte Donisl mit der Hand, als wolle er nicht gestört sein. Gehorsam drückte sich Herm an die Mauer, schwieg und wartete.

Doch geschah vorläufig nichts weiter, als daß der Schäfer ein Stückchen roten Glases mit hochgestreckter Hand in die Sonne hielt, die dort einströmte, wo einmal ein kleines, jetzt leeres Fenster gewesen war.

Lang sparte Herm in geduldiger Erwartung seine Worte. Zuletzt aber fragte er doch: »Donisl, was tust?«

»Ich tu probieren.«

Wieder ein langes stummes Warten.

Dann: »Donisl, was tust probieren?«

Es kam keine Antwort. Ein rotes Flirren und Glänzen lief jetzt auf dem Steinboden hin und her, als suche es etwas. Und dann blieb es über einem großen Käfer, einem schwarzen Bock, stehen. 129

Der feierlich schreitende Geselle verharrte sofort wie festgebannt. Nach einer Weile zeigte er Unbehagen, tastete vorwärts und seitwärts, um dem Lichtkreis zu entkommen und war plötzlich verschwunden, als hätte ihn der Boden eingeschluckt.

Jetzt ließ Donisl den Arm sinken und lachte das kurze, seltene Lachen, das Herm nur dann zu hören bekam, wenn man besonders Glück gehabt, etwa einen Igel beim Mäusefang oder gar eine Schnecke beim Eierlegen erwischt hatte.

»Ich hab mir's gedacht,« kam es halb träg, halb befriedigt aus des Schäfers Mund, und er steckte die Glasscherbe so zwischen lose Steine, daß man wohl sah, hier sei für gewöhnlich ihr Platz.

Dann kletterte er durch das Mauerloch hinaus zu seinen Schafen und winkte Herm, zu folgen.

Es dauerte eine Weile, bis er den geeigneten Platz gefunden hatte, wo sie sich nebeneinander niederlassen konnten.

Es waren da vielerlei Dinge zu bedenken: man mußte die Herde übersehen und dem Hund pfeifen können. Dann mußte man Schatten haben, aber nicht den Kapellenschatten, denn der taugte nichts, weil er Ohrenweh machte, was die beiden schon ausprobiert hatten an sich und dem Hund.

Endlich saßen sie und endlich wurde es auch dem Herm unmöglich, seine Fragen länger zurückzuhalten. 130

»Sag' doch, was war's denn?«

Der Donisl nahm eine Schippe und wühlte den körnigen Sand vor ihrem Sitzplatz durcheinander. Dann winkte er mit dem Kopf nach der Kapelle hinüber. »Weißt d' nicht, daß da drin einer begraben ist?«

Ja, das wußte Herm freilich. Er senkte den Kopf wie schuldbewußt, daß er so Unnötiges gefragt habe.

Aber dann lief dem Schäfer Herz und Mund von selbst über und die Schwalben, die in blauer Luft über der Kapelle schrillten, freuten sich wohl, daß die alte Geschichte einmal aus ihrem Moder erwachte und in der Sonne ausgebreitet wurde.

»Weil er viel Geld bei sich hatte, als er von Rohrbach heraufkam, vom Schafmarkt, haben ihn Strauchritter erschlagen. Es ist schon lang her, wohl tausend Jahre. Daß er da drin liegt, das weiß man, aber die Stelle weiß man nicht. Ich weiß sie jetzt.«

Er schwieg und spielte mit der Schippe im Sand.

Herm sah ihn mit seinen stillen, hilflosen Augen, die an ein Tier gemahnten, so lange an, bis er fortfuhr:

»Früher hat man die Stelle gewußt. Da war Glas in dem Fenster, das jetzt leer ist, und darauf war ein roter Stern gemalt. In der Mitte. Du glaubst doch auch: in der Mitte?« wandte er sich an den stillen Freund, und seine Frage klang fast wie eine Bitte.

Herm besann sich lange. Er verstand gut, daß man 131 etwas sehr Wichtiges von ihm wollte. Dann nickte er bestätigend mit dem Kopf.

Donisl seufzte erleichtert auf und erzählte mit hellerer Stimme weiter: »Wenn am ersten August, nachmittags um fünf Uhr, die Sonne durch den Stern schien, dann gab's einen roten Fleck auf dem Boden, und dort liegt er.«

Wieder das große Schweigen. Dann stieß der Schäfer mit der Schippe nach einem Stein.

»Mir hat's mein Müllervetter gesagt, und der weiß es,« klang es so barsch, als sei irgendein Zweifel oder Widerspruch erfolgt.

Und dann, als Herm still blieb: »Heut ist der erste August, und fünf Uhr war's vorhin auch, und wenn der rote Stern in der Mitte am Fenster war, dann stimmt alles. Du sagst es ja selber, daß er in der Mitte war, nicht? Sagst du das nicht?«

Herm dachte über den Stern nach. Es gab da sehr viel zu überlegen. Er konnte nicht so schnell zurechtkommen, wie der Freund es von ihm erwartete. Er ließ den Kopf hängen.

Da warf Donisl eine Schippe voll Sand so hoch, daß er ihnen beiden in die Haare rieselte. »Ah bah,« sagte er, sich selbst beschwichtigend, »wenn du's auch nicht sagst, der schwarze Bock ist doch da in den Boden; also stimmt's schon.«

Sie saßen bedrückt nebeneinander. Der Schäfer 132 von den vor sich selber geleugneten Zweifeln bedrängt, seine Berechnungen und sein Versuch mit dem roten Glas könnten eine Fehlerquelle enthalten, der schweigsame Herm überwältigt von dem dunklen Wissen seines Genossen.

Von der Herde herüber kam mit dem durchdringenden Geruch der warmen, fettigen Wolle das leise Knistern und Rupfen in Gras und Gestrüpp.

Nach langer Zeit streckte sich der Donisl, als hätte er geschlafen.

»Jawohl,« sagte er, ein richtiges oder ein markiertes Gähnen unterdrückend: »Wo ein schwarzer Bock in den Boden geht, liegt ein Toter.«

Er stand auf und pfiff seinem Hund. Das hochbeinige, dürre Tier mit dem herrlich klugen Kopf, der ganz Aufmerksamkeit war, kam herbei. Donisl grub ihm für einen Augenblick die Finger ins dichte schwarze Rollenhaar und befahl dann, nach dem Kapellenschatten zeigend: »Tyras, leg dich dort!«

Der Hund zog den Schweif ein, schlich ein Stück weit hinüber, kam zurück, winselte und blickte auf seinen jungen Herrn mit der heißen Bitte: verlange nur das nicht von mir!

Donisl schickte ihn zur Herde. Mit einem Freudengeheul stürmte er davon, als sei er einer großen Gefahr entronnen.

»Siehst du's!« sagte der Schäfer schwer und nickte 133 mit dem Kopf. »Auch kein Schaf geht dort. Einmal hat eines aus Versehen dort gelammt, da war das Lamm nach einer Viertelstunde tot, so groß und schwer war es. Und die Mutter trägt seitdem nicht mehr.«

Auch Herm stand jetzt vom Boden auf. Es lag eine große Trauer in seinem Blick. Erst klopfte er sich und dem Freund den Sand von den Kleidern, dann fragte er hilflos: »Donisl, warum?«

»Donisl, warum?,« äffte leise der Schäfer nach, »kann ich's denn wissen? Da kann ich gerade so gut sagen: Herm, warum?«

Sie standen bedrückt nebeneinander und blickten auf ihre Schatten, die vor ihnen gegen die Kapelle hinüberragten.

»Ich wüßte schon, wie es anders würde,« murmelte jetzt geheimnisvoll der Schäfer, »es dürfte nur einer hergehen und eine Glocke in das Türmlein dort oben hängen,« – er deutete nach dem winzigen, wie vom Sturm schiefgedrückten Dachreiterlein –, »eine Glocke gehört hinauf, das sagt auch mein Müllervetter.«

Der Müllervetter, den Herm nie gesehen, war in dessen Gedanken das, was bei den Griechen das Schicksal. Er stand noch über den Göttern, und sogar der Donisl war ihm untertan.

Stumm blickte Herm in die Weite, dem ehernen Willen des Müllervetters nachsinnend; ratlos und 134 keinen Widerspruch wagend, ohne die Möglichkeit, einen Weg aufzufinden.

Es lag an selbigem Tag wie ein Schatten über seinem Wesen.

 

In den nächsten Tagen hütete Donisl nicht bei der Kapelle. Er hatte sich mit der Herde hinunterverzogen zu dem Hohlweg von Mittelbeuren.

Wieder ein Tag, und man kam, ihn zu fragen, ob denn der Herm überhaupt nicht mehr heimkommen wolle? Seit gestern sei er fort und man habe gemeint, er habe beim Donisl im Karren geschlafen, wie schon öfter; aber jetzt sei's lang genug.

Da mußte Donisl sagen, daß er den Freund schon tagelang nicht gesehen habe.

Sie fingen an zu suchen und kein Mensch weiß, ob sie übermäßige Sorge hatten. Auf dem dicken und roten Gesicht des reichen Schafhalters war nicht leicht zu lesen, und die Mägde taten wohl verzweifelt, aber doch so, daß man hoffen konnte, sie würden sich auch wieder trösten.

Donisl aber, der seine Schafe in den Pferch trieb und dann dem Hund pfiff, daß der mit auf die Suche gehe, – Donisl sah aus, als sitze ihm Angst und Sorge bleischwer im Nacken.

Als er nach hastigem Lauf auf die Höhe kam, fuhr der Wind scharf von Norden, von der Kapelle her. 135

Tyras hob den Kopf und witterte. Bleichen Gesichts und mit angstweiten Augen ging Donisl auf die alten Mauern zu, die grau unter dem grauen Himmel lagen. Er sah aus, als erwarte er den Toten zu sehen, den vor tausend Jahren die Strauchdiebe erschlagen und dort drinnen verscharrt hatten. Denn daß der Herm nicht in der Kapelle sei, hatten die jammernden Mägde versichert.

Der Hund blieb jetzt stehen und winselte laut und kläglich. Aber sein Herr ließ sich nicht halten.

Ja, er nahm sich nicht Zeit, die zerbröckelnden Mauern zu umschreiten und durch die Türe einzutreten.

Durch das schmale Fensterloch, das ihm vertrauter Aus- und Eingang war, kletterte er hinein.

Und auf den Steinplatten lag, bewußtlos und eine große, blanke Kuhglocke in der blutbefleckten Hand, Herm, der Freund.

Er lag aber so, daß man ihn von der Türe aus schwerlich sehen konnte, wenigstens dann nicht, wenn man nur mit dem gleichgültigen Blick geheuchelter Angst hereinsah.

Eine Menge herabgestürzter Mauersteine lagen um und auf dem Besinnungslosen und deckten ihn gegen Sicht, wenn nicht die angstgeschärften Augen der Liebe suchten.

Bleich und erstarrt kniete der Schäfer neben dem Freund. 136

Der winselnde Hund scharrte im stäubenden Geröll.

Und es war dem reglosen Donisl, als erzähle der heulende Wind, daß der Herm habe auf das Kapellendach klettern wollen, um die Glocke, die er in der blutenden Hand hielt, ins Türmchen zu hängen, damit der dunkle Bann weiche, der über der Stätte lag. Und weiter heulte der Wind, der Herm sei nur ein Verkürzter an Hirn und Verstand; sein Herz aber sei so groß und rein, wie Erlöserherzen seien, die nicht das Ihre suchen und sich opfernd verströmen.

Vielleicht verstand der Donisl nicht jedes Wort, das der Wind redete; aber die Hauptsache muß doch wohl in ihn eingegangen sein, denn laut aufweinend warf er sich jetzt über den Freund und der Hund fing kläglich zu heulen an.

 

Herm Lorenz, des reichen Schafhalters Sohn, lag in einer Klinik in der fernen Stadt.

Wenn die Aerzte vor dem Hingestreckten standen, sahen sie wohl eine schwerbeschädigte Hülle, aber von dem, was darin vor sich ging, ahnten sie wenig.

Sie sahen nicht, daß Herm beständig draußen auf der Oede bei der Kapelle war, wo der Donisl seines Vaters Schafe weidete; nicht, daß er das goldene Welken des Herbstes dort miterlebte und die Sturmnächte, die über den Pferch und den Schäferkarren hinfuhren.

Und auch davon wußten sie lange nichts, daß in dem 137 armen verbundenen Kopf des hingestreckten Knaben langsam und geheimnisvoll eine Wandlung sich vollzog.

Eine Wandlung, durch die jene Taste, die eine ferne Krankheit unbrauchbar gemacht hatte, wieder in Ordnung kam, so daß Herms langgehemmter Geist wieder vortrefflich darauf spielen konnte.

Der Sturz von der Kapellenmauer hatte vollbracht, was damals keine ärztliche Kunst hatte erreichen können, und die berühmten und erfahrenen Kliniker und Mediziner, die oft um des Schwerverletzten Bett standen, ahnten vielleicht gar nicht, daß, wer so heißen Erlöserwillen im Herzen trägt, wie dieser Knabe, daß der, wenn nicht andere, so zuletzt doch sich selbst erlösen darf.

Erst, als der Frühling kam, der überall das Verborgene ans Licht treibt, merkten die Aerzte das herrliche Wunder.

Herm Lorenz war ein an Leib und Seele und Geist Genesener.

 

Der Donisl wurde ein Einsamer auf seiner Weide; denn Herm Lorenz saß zumeist in der Schule.

Wenn er aber Zeit und Muße hatte, trugen ihn die Füße wie von selbst hinaus zu dem Schäfer. Und – ob es betrüblich ist –, es muß gesagt sein, daß dem Herm, der ein fleißiger, ja lerngieriger Schüler war, 138 doch das, was der Donisl wußte, lieber, reicher, schöner und wahrer vorkam als alle andere Weisheit.

Oder war das etwa nicht schön und wahr, wenn Donisl erzählte, daß seit Herms verunglückter Erlösertat manchmal ein ganz leiser, verirrter Glockenton vom Kapellentürmchen aus über die Oede klinge und vom Wind in die Weite vertragen werde?

Und daß seit jenem unglücklichen Sturz Vögel und Schmetterlinge den Kapellenschatten nicht mehr ängstlich mieden, daß die Mutterschafe ungestraft dort lammten und die geworfenen Lämmer besonders schön und groß wurden – sollte das alles nur Donisls Hirngespenst sein?

Sah Herm nicht selbst, daß Tyras, der Schäferhund, ohne Befehl und ohne Zögern, so oft nur sein Amt es erlaubte, in das alte Gemäuer ging und den heißen Leib wohlig ausgestreckt auf den Steinplatten kühlte, unter denen dereinst der schwarze Bock geheimnisvoll verschwunden war! –

Und endlich: ist das vielleicht Lüge und Betrug, daß Donisl einmal in einsamer Mittagsstunde, als nur die Sonne durch die Mauerlöcher schien, mit seiner Schippe die Steinplatten loskratzte und sie aufhob, dort, wo damals der rote Schein hingefallen war?

Und daß er von dem Ermordeten und Verscharrten kein Stäublein mehr fand, weil auch dieser Unselige nun erlöst war durch des Freundes erlösende Tat? 139

Das alles sollte Betrug und Selbstbetrug sein vom Donisl? –

Wenn alle das vermuten sollten – Herm wußte es besser. Er glaubte dem Schäfer, wie er keinem Menschen sonst glaubte.

Wenn aber einer eine Geschichte erzählt und es glaubt sie nur ein einziger Freund von ganzem Herzen, so ist sie in alle Ewigkeit wahr.

Das sagten auch die Schwalben, die in der blauen Luft über der Kapelle schrillten.

 


 


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