Auguste Supper
Auf alten Wegen
Auguste Supper

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Sein Signal

Er war, wie alle in der Sommerkolonie, Maler. Aber während sich die andern längst gekannt hatten, war er wie ein fremder Vogel zu dem Schwarm gestoßen. Sie nannten sich alle du. Auch mit ihm, von dem sie nichts wußten als den Namen, den er ihnen genannt hatte.

Aelter war er als alle und zurückhaltender. Wenn er – meist unerwartet – gesprächig wurde, dann war seine Rede etwa so wie sein mächtiger, von üppigwildem Haarschopf umwallter Kopf: scharf herausgearbeitet in den Linien, kantig, großzügig; aber zuletzt immer von etwas überflutet, was den andern unentwirrbar schien.

Sie wurden dann still. Nicht gerade aus Bescheidenheit, sondern weil sie eine Art Atemnot fühlten, wenn sie so rasch von dem fremden Sprecher in eine fremde Luftschicht gehoben wurden.

Es war ihnen nicht ganz behaglich. Seine unruhigen, tiefen Augen, die dann oft wieder so verträumt in eine Ferne blicken konnten, schienen ihnen zu viel zu sehen. Sein fast frauenhaft feiner Mund unter der starken Nase hatte einen Zug, den sie als Ueberlegenheit empfanden und der sie scheuchte, auch wenn er zu locken schien. 77

So blieb er der Schar, die sich sonst über Gott und Welt klar zu sein meinte, undurchsichtig, und nur darüber waren sie sich einig, daß sie, falls sie seinen Kopf hätten, längst durch ein Selbstporträt zu Ruhm und Geld gekommen wären. Als er in ihren Kreis eintrat – es war an einem strahlenden Sonntagmorgen, und die Schar lagerte daseinsfroh und nichtstuend wie die Eidechsen an dem besonnten Hügel, von dem aus man das glitzernde Moor übersah – da hatte er sich kurz und selbstverständlich, als sei er eingeladen und erwartet, den Aufblickenden vorgestellt: »Lassin«.

So hatten sie wenigstens den Namen verstanden, der knapp und schneidig aus seinem Munde kam, und so nannten sie ihn, ohne daß er widersprach oder berichtigte.

Es war merkwürdig: sie wollten sich ärgern, daß er sich eingedrängt hatte, und fühlten sich dann bald schon fast geehrt, daß er da war. Sie wollten ihn erst wegekeln und fürchteten dann, er könne verschwinden, wie er aufgetaucht.

Sie sahen seine Lässigkeit, seine Abgerissenheit in Gehaben und Kleidung und vermuteten heimlich, daß er beides nur wie eine Maske trage, um etwas zu scheinen, was er nicht war.

Von seiner Kunst sprach er ironisch, wie die andern etwa von der Kunst eines unbeliebten Professors.

Aber die Wenigen, die ihm einmal auf die Leinwand 78 gesehen hatten – er liebte, wie er sich ausdrückte, nicht, den Evangelisten Lukas zu spielen, dem ein Ochse über die Schulter sehe – diese Wenigen redeten ganz anders.

Zwar waren es immer nur Skizzen, oder, wie er sagte, Skizzen von Skizzen, die er hinwarf und meist bald wieder vernichtete; aber es war etwas daran, was keiner von den andern so herausbrachte, und was sie auch nicht recht zu benennen wußten, denn mit den üblichen Schlagworten war es nicht zu treffen.

Einmal saß er draußen am Bach, der dunkel und schwer durch das Moorland hinzog. Seine Staffelei stand nicht weit von der eines jungen Rheinländers, der in der Kolonie den Namen »der Geißbub« führte, weil er für ein Bild mit kletternden Ziegen einen Preis bekommen hatte.

Der Rheinländer konnte nicht auf des andern Staffelei sehen; aber wenn er von der Arbeit aufblickte, sah er den Fremdling untätig sitzen und ins weite, von merkwürdig düsteren Farben übergossene Land hinausstarren.

»Lassin,« rief er ihm da zu, »jener violette Streifen wäre deines Pinsels würdig. Dort leuchtet das Moor selbsttätig.«

»Du bist ein Narr,« gab der andere unwirsch zurück; »in einer halben Stunde ist alles wieder anders.«

Der Geißbub lachte laut. »Dafür sind wir doch da, 79 daß wir den flüchtigen Schein der Dinge auffangen und ihm Dauer geben.«

Der andere warf Pinsel und Palette ins Gras und grollte: »Ach so, dafür sind wir da! Solche Possenreißer sind wir!« Er stand auf und lief hinter des Rheinländers Staffelei grimmig auf und ab. »Wenn der Herrgott deinem flüchtigen Schein der Dinge Dauer geben wollte, wäre er selber der Mann dazu und wartete nicht auf die Maler.«

Dagegen war nun nichts zu sagen, und der Geißbub begnügte sich, eine Grimasse zu schneiden, wie oft, wenn der Fremdling Dinge vorbrachte, auf die kein Vers zu machen war.

Aber in dem andern schien heute allerlei zu gären. Das Schweigen des Rheinländers besänftigte ihn nicht. Er trat her und blickte auf dessen Leinwand. Spottend begann er: »Da, dieser Weidenstrunk! Ein Gesicht hast du ihm gegeben, als hättest du in den Spiegel gesehen zu deinem Selbstbildnis. Weil du von der Weidenseele nichts weißt und nichts wissen kannst, versorgst du den Strunk aus deinen eigenen Beständen. Und so malst du die Wolken, die Bäume, das Moor, den Himmel und die Erde, und, wenn du alt und fromm genug bist, alle Heiligen und den Herrgott selber. Das heißt man dann Kunst! –«

Der Geißbub wollte auffahren; aber der andere drückte ihn nieder. »Lüge ich vielleicht? Spürst du 80 nicht selber, daß du in die heilige Fremdheit der Welt dein Eigenes gießest? Daß du alles vergiftest und verfälschest mit dir selber? Und das tust nicht du allein, du verhältnismäßig harmloser Säugling, das tun auch die ganz Großen. Soll ich dir Namen nennen?«

»Lassin etwa?« spottete der Geißbub.

»Lassin ist kein Name,« entgegnete merkwürdig schwer der andere, »Lassin ist eine Sache für sich.«

»Ach so,« lachte der Rheinländer, »eine neue Epoche, ein Programm –«

Da stieß der andere plötzlich so heftig mit der Stiefelspitze in den feuchten Rasen, daß Erde und Gras hoch aufspritzten und des Geißbuben große Palette beschmutzten. »Wenn du's wissen mußt, du Fürwitz: Lassin ist kein Name, Lassin ist ein Imperativ, wenn du weißt, was das bedeutet.«

Der andere sprang auf und hielt ihm die beschmutzte Palette unter die Augen. »Putze sie! Wenn du weißt, was das bedeutet.«

Sie lachten beide. Der Große nahm die Palette und besah sie eindringlich. Zuletzt roch er sogar an den Erdklümpchen, die daran klebten. Dann reichte er sie zurück und sagte spottend: »Bedanke dich bei mir! Besseres hast du nie darauf gehabt. Erde, Erde – das ist gerade das, was dir allein noch zum Landschafter fehlt!«

Der Rheinländer riß die Palette an sich und drohte 81 mit der Faust. Da rief von jenseits des Baches die fröhliche Stimme eines vorübergehenden Wanderburschen: »Laß ihn halt! Laß ihn! Prügelt euch nicht, Kinder!«

Es war ein Scherz, und der Geißbub trat, hellauf lachend, zurück und sah dem Rufer nach, der drüben seines Weges ging. Aber als dann sein Blick auf den Großen fiel, erschrak er.

Zwei Augen starrten hinter dem Wanderer her, als hätten sie gesehen, was sie nicht glauben konnten und wollten. Ein hilfloser Schrecken lag darin, wie bei einem Kind, das einen gefürchteten Popanz erblickte. Ja, die ganze Gestalt des Mannes hatte etwas Gebrochenes. Mit einem Aechzen setzte er sich jäh ins Gras.

Der Geißbub trat herzu: »Was ist?«

»Vorbei ist's – es heißt wandern,« murmelte der Große. Dann stützte er den Kopf in die Hände, und dem Rheinländer war's, als höre er ein Schluchzen.

Mit der ganzen Wärme seines zutunlichen Wesens setzte er sich jetzt dicht neben den andern. Mitleidig schaute er auf diesen mächtigen, vornübergeneigten Kopf. »Du, Lassin, was ist dir denn?« –

Es kam lange keine Antwort. Dann richtete der Große sich auf und strich sich den Haarschopf aus dem Gesicht.

»Weil's doch hier zu Ende ist, kann ich dir's ja sagen. 82 Wenn du dann meinst, ich sei ein Narr – meinetwegen! Ich habe euch, so lang ich hier war, oft für Narren gehalten, da dürft ihr mir auch die Ehre antun, wenn ich fort bin.«

»Warum sollen wir Narren sein?« fragte, mehr verwundert als empfindlich, der Geißbub.

Der andere machte mit seiner großen, knochigen Hand eine Geste, als schleudere er etwas weg. »Kindlein, das hat keinen Zweck, einem Narren zu sagen, warum und wiefern er ein Narr ist.

Aber das andere, das sollst du wissen: ›Lassin‹ – ich hab dir's schon einmal gesagt – ist kein Name, sondern ein Imperativ. ›Laß ihn!‹ bedeutet es, das Wort, mit dem ihr mich immer genannt habt. Wenn du meinen Namen wissen willst – hier!«

Er gab dem andern eine Karte, auf der ein Name von gutem, ja stolzem Klang geschrieben stand. Doch war's kein Maler, sondern ein bekannter Soldatenname.

Der Rheinländer saß stumm und überrumpelt; der andere aber fuhr in einer merkwürdig eintönigen, fast gleichgültigen Weise fort: »Du weißt wohl nicht, was du draus machen sollst. Kann dir's auch nicht zumuten. Also die Sache ist kurz die: so oft ich den Ruf: ›Laß ihn‹ höre, muß ich weiter, ich mag wollen oder nicht. Seit wann das so ist und bei welcher Gelegenheit ich erstmals den Teufel merkte, geht dich nichts an.«

Jetzt lachte plötzlich der Rheinländer. Die Sache 83 war ihm durchsichtig: der andere hatte einen »Vogel«, wie mehrere in dieser Familie einen »Vogel« haben sollten, einen berühmten Vogel sogar.

»Du weißt wohl nicht,« fuhr der Große unbeirrt fort, »daß es Signale gibt, auf die man achten muß? Es wissen's die wenigsten. Ich hab's gelernt. In früher Jugend schon hab ich's gelernt. Da war ein Onkel – doch das brauchst du ja nicht alles zu wissen.« Er schwieg, wie in Erinnerungen verloren.

Der Geißbub legte die Arme um die Knie. »Wenn aber dein Signal ›Laß ihn‹ heißt, und wenn du jedesmal wandern mußt, dann kann ja kein Stuhl unter dir warm werden.«

Der Große blickte ihn von der Seite an, wie einen Jungen, der Torheiten verzapft. »Wie lange bin ich jetzt bei euch hier? Ich schätze, fünf, sechs Wochen. In den Kalender seh ich so wenig wie in den Spiegel. Also in fünf, sechs Wochen hörte ich heut das Signal zum ersten Male. Du hast wohl noch nie darauf geachtet, wie selten der Ruf ist. Du hast auch noch nie darauf geachtet, wie wenig der Mensch auf die meisten Dinge achtet. Ich sage dir: Jahre hat es schon gedauert, bis ich den Ruf hörte. Aber« – seine Stimme wurde leiser und klang bekümmert – »die Intervalle werden immer kürzer.«

»Wir haben dich täglich ›Lassin‹ gerufen, galt das nicht?« fragte spottend der Geißbub. 84

Der andere lachte. »Ich stelle mich überall so vor. Mein Ohr will ich an den Klang gewöhnen, wie man einen schieferigen Gaul gewöhnt. Aber wenn der echte Ruf laut wird, dann gibt es doch ein Bocken und Aufbäumen.«

Der Geißbub schüttelte den Kopf. »Du, das versteh ich nicht. Ein Kerl wie du –«

»Sei froh,« murmelte der Große, »daß du es nicht verstehst.« Sie schauten stumm hinaus aufs leuchtende Moor; es war, als sei aller Glanz, alle Farbe, alle Froheit der Welt erloschen bis auf dieses einsam-düstere Leuchten.

»Was wäre, wenn du bleiben würdest?« fragte endlich leise und ohne Spott der Rheinländer.

Der andere lächelte schwermütig. »Das, was kommt, würde mich dann eben hier ereilen, wie es mich anderwärts ereilt, wenn ich lossause.«

»Dann bleibe doch!«

»Sag einem scheuenden Gaul, er soll bleiben.«

Wieder wurde es still. Man hörte das leise Rauschen des aufkommenden Windes in den Schwarzerlen am Bach.

Dem Rheinländer war es auf einmal, als sei er dem andern, der seither immer ein Fremdling war, ganz nahegerückt.

Aber ehe er sich dieser neuen Wärme recht bewußt wurde, stand der Große mühsam auf, als seien ihm alle Glieder steif. 85

»Leb wohl,« sagte er kurz, packte sein Gerät mit noch mehr Lässigkeit als sonst zusammen und schritt gegen das Wirtshaus hin, wo die Kolonie hauste.

Diese Herberge – sie ist übrigens vom Erdboden verschwunden, und es ist weiter nicht schade darum – lag an einem Föhrengehölz, das wie eine dunkle Wand den Blick auf das Moor verdeckte.

Im Rasen vor der niederen Türe waren Tische und Bänke gezimmert. Dort saß die fröhliche Gesellschaft meist nach der Arbeit und den Freuden des Tages, bis Mond und Sterne längst am Himmel wanderten. Die feuchten Nebel, die aus dem Moore wallten, und die kühlen Abendwinde wurden durch die tapferen Föhren von dem Platz abgehalten, so daß die Schwelgenden sich oft um Mitternacht noch kaum entschließen konnten, die harten Pritschen aufzusuchen.

Auch an jenem Abend war die Gesellschaft lange auf. Der Rheinländer saß nicht an Lassins Tisch, aber er ertappte sich immer wieder darauf, daß er hinüberhorchte, wo des Großen Stimme zwischen den anderen hindurchklang.

Vom Fortgehen war nicht die Rede; desto mehr schien sich der Fremdling in jenen Paradoxen zu gefallen, die er mit kühler Ruhe vorbrachte, und auf die so selten etwas zu sagen war.

Der Geißbub hätte sich einreden mögen, es sei alles wie sonst, wenn nicht in ihm selbst eine 86 Unruhe, eine sonst nicht vorhandene Spannung gewesen wäre.

Er, der sonst einer der Lustigsten und Lebhaftesten im Gespräch war, mußte heute beständig aufpassen, ob nicht irgendwo »das Signal« ertöne.

Aber, so laut es zuging, niemand sagte: Laß ihn! Es schien wirklich, als ob das Wort selten sei, wie ein weißer Rabe. Zuletzt legte es der Geißbub darauf an, die verhängnisvollen Laute hervorzurufen; aber es gelang ihm nicht.

Und dann zum Schluß war er selbst es, der das Wort gebrauchte. Aber er hätte schwören können, daß es nicht mit Willen geschah.

Sie waren aufgestanden, weil die Schläge der Mitternacht vom fernen Dorf herüberschallten. In Gruppen gingen sie dem Haus zu, aus dem ein schmaler, heller Lichtstreif auf den sandigen Weg fiel. Da sahen sie in diesem Sand einen der schönen gefleckten Molche, die drüben am Rand des Föhrengehölzes ihre Siedlung zu haben schienen. Schon bückte sich einer nach dem nachtwandelnden Gesellen, da rief der Geißbub, der ein großer Tierfreund war und dem Molch ein vielleicht schönes nächtliches Abenteuer nicht stören lassen wollte, hell und befehlend: »Laß ihn!«

Kaum war ihm das Wort entfahren, da griff ihm Schrecken ans Herz. Seine Augen trafen in die 87 Lassins, der dicht neben ihm stand und mit dem mächtigen Kopf nickte.

Sie krochen jetzt alle in ihre Schlupfwinkel. Mehr war ihre Unterkunft in dem alten. morschen Hause nicht.

Plötzlich stand Lassin neben dem Geißbuben, der sich eben in seine Decke wickelte. »Du – ich muß diese Nacht noch fort. Wenn er zweimal die Peitsche kriegt, fällt mein Gaul in Galopp. Darf ich dir mein Gepäck dalassen, bis ich dir die neue Anschrift schicke? Es hält mich auf, wenn es auch nicht viel ist. Leb wohl! Male weiter, wenn du's nicht lassen kannst!«

Schon war er draußen, und der Rheinländer hörte seinen schweren Tritt auf der dunklen, schmalen Stiege, die sie alle »die Hühnerleiter« nannten.

Es gingen die Tage, es gingen die Wochen. Eine Anschrift schickte der Weggelaufene nicht.

Manchmal, doch nicht allzu oft, kam in der Kolonie die Rede auf ihn. Es war, als ob man sich jetzt erst bewußt würde, daß der Mann nicht in den Kreis gepaßt habe. Daß er auf irgendeine geheimnisvolle Weise eine Belastung gewesen sei, die man erst jetzt, da sie hinweggenommen, als solche empfand und von der man nicht reden dürfe.

Der Rheinländer sprach nie von jener Stunde am Bach. Er wußte selbst nicht recht, was ihm den Mund verschloß.

Schon war der sommerliche Kreis am 88 Auseinanderflattern, da fand man Lassin. Im Moor war er ertrunken.

Geschah's in jener Nacht, als er davonstürmte? Geschah's erst später? Moorwasserleichen sagen nicht aus, wie lang sie liegen.

Dem Geißbuben ging ein Frieren durch das junge Herz, als er die Kunde vernahm.

Als das Gepäck vom Gericht geholt wurde, steckte er heimlich jene Karte mit dem wahren Namen des Mannes hinein. Mehr wußte er nicht zu tun für den Entschwundenen.

Auf dem kleinen Friedhof des Dorfes im Moor wurde er beerdigt. An eines Hügels südlicher Flanke liegt das Gottesäckerlein, und man sieht von dort über das Moor, wie es aufglühen kann in tausend Farben und erlöschen in toter Stumpfheit.

Für einen Fremdling war das Geleit nicht klein. Auch was von der Kolonie noch da war, umgab die Gruft.

Ein alter, hochgewachsener Herr stand neben dem Rheinländer und verweilte, wie dieser, noch, als die anderen davongingen.

»Haben Sie ihn gekannt?« klang es jetzt leise, aber fast barsch aus seinem Mund.

Der Geißbub schaute auf in ein Gesicht, das in den großen, scharfen Zügen auffallend dem Toten glich.

Das war der gleiche mächtige Kopf, den sie sich alle für ein Selbstporträt gewünscht hatten, die gleichen 89 unruhigen Augen, die gleiche starke Nase über einem feinen Mund. Nur statt dem wilden Haarschopf war hier kurzgeschnittenes, steiles Soldatenhaar.

Und wie bei dem Entschwundenen konnte ein Träumen in die Augen kommen, die jetzt ins Moor hinausblickten.

»Fünf Wochen war er in unserer Kolonie.«

»Aber gekannt haben Sie ihn nicht?« Es klang fast höhnend; so, wie der Tote oft zu den andern zu sprechen liebte.

Der Geißbub wollte etwas sagen; aber der Fremde machte eine Geste mit der großen, behandschuhten Hand, die der Rheinländer oft genau so von einer unbehandschuhten gesehen hatte. »Wir kennen ja alle einander nicht! Jeder rennt durch die Welt einem andern Signal nach oder vor einem andern Signal davon, wie dieser da!« Damit schwenkte er seinen glänzenden Seidenhut gegen das Grab.

Dann verneigte er sich leicht gegen den Rheinländer. »Ich bin sein Onkel – ich kannte ihn.« – Er schritt davon und sah nicht zurück; nur den Kopf schüttelte er, wie ihn der Tote oft geschüttelt hatte.

Da war es dem einsam Zurückbleibenden, als ob er eben das kleine Satirspiel gesehen habe, das hinter einem erschütternden Drama nicht fehlen darf.

Lange noch blickte er aufs flimmernde Moor hinaus, ehe er sich zum Gehen wandte. 90



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