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Damals fiel Pfingsten früh und der Jahrgang hatte einen strahlenden, warmen Mai gebracht, wie man ihn sich schöner nicht ausdenken kann.
Schon am Samstag Abend waren unsere Ränzlein gepackt und wir zwei jungen Burschen fahrtbereit. Aber dann ging ein schweres Gewitter nieder, das uns zurückhielt auf dem Gutshof, auf dem wir seit bald einem Jahr der Landwirtschaft oblagen.
Früher hatten wir zwei uns nicht gekannt, obgleich wir aus der gleichen Großstadt stammten und in einem Stadtteil gewohnt hatten. Um so schneller lernten wir uns bei der gemeinsamen Arbeit kennen. Wir waren beide des Lernens aus Büchern in langen Schuljahren bis an den Hals satt geworden und hatten den starken Durst in uns, das Leben mit den Fäusten zu packen.
Aber unser Sinn war durchaus nicht aufs Abenteuerliche gestellt. Nur an allem Abstrakten hatten wir für eine Weile genug und freuten uns am Greifbaren.
So wurden wir Freunde, was ja bei den Neunzehnjährigen nicht schwer fällt.
Nach der von nahem und fernem Donner durchgrollten Nacht war der Pfingstmorgen leuchtend heraufgezogen. Die Frühe fand uns schon weit weg 66 von der heimischen Markung auf einem der sandigen Wege, die durch prachtvollen Tannenhochwald führen. Allenthalben flimmerten goldene Sonnenlichter, die jetzt anfingen, den Weg durch die stillen Wipfel zu finden. Eine große Feierlichkeit und zugleich eine lachende Heiterkeit lag über der Welt, man vermochte es kaum mehr zu glauben, daß sie in der Nacht von so schweren Kämpfen und Stürmen durchschüttert worden war. Finken und Spottdrosseln riefen im Wald, und manchmal erklang in der Ferne der klare, flötende Ruf des Pirols. Ein leises knisterndes Tropfen aus Bäumen und Buschwerk erinnerte noch an die böse Nacht; aber über den Wipfeln leuchtete die Himmelsbläue, als seien nie drohende Wolken dort oben gezogen.
Wir fingen zu singen an. Ein Marschlied, wie es Wandernden geziemt. Aber seltsam: es war, als lege sich uns eine unsichtbare Hand auf den Mund. Wir verstummten wieder und taten alle Sinne auf für die Schönheit der Frühe.
Aber lang zu schweigen ist nicht Sache der Jugend. Bald kamen wir in ein Gespräch. Auch in das Gespräch herein wirkte die feierlich-heitere Stimmung des strahlenden Morgens. Von dem Ursprung und der Bedeutung des Pfmgstfestes redeten wir, von jenem ersten Pfingsten, von dem die seltsame Kunde durch so viele Jahrhunderte hindurch sich erhalten hat. 67
Wir waren Kinder der Großstadt und Kinder unserer Zeit. Ich kann nicht sagen, daß die uralte Erzählung besondere Saiten in uns schwingen machte. Mit dem Rationalismus unserer Jugend strichen wir uns diese, wie so viele andere Geschichten mühelos glatt und freuten uns unserer klaren Einsicht. Immerhin fanden wir es beachtenswert, daß das Fest sich bis auf den heutigen Tag erhalten und immer noch eine nahezu geheimnisvolle Wirkung auf die Menschen hat.
Das »nahezu geheimnisvoll« war ein Zugeständnis an das Irrationale, zu dem uns die herrliche Frühe verleitete.
Der Weg ging jetzt bergab in eine ziemlich tiefe, enge Schlucht, in der man noch den Winter zu spüren vermeinte. Ein kleiner Bach sprang da über rötliche Felsen; die kaum aufgerollten Farne und junggrünes Heidelbeergestrüpp begleiteten ihn auf seinem steilen Abstieg zwischen den Tannen. Ein Stück weiter unten sammelten sich die kalten, klaren Wasser und wurden in einem von Menschenhand zugerichteten kleinen Kanal fortgeleitet. Wohin, das konnten wir erst übersehen, als wir im raschen Absteigen um eine felsige Ecke gebogen waren und froh überrascht vor einem saftgrünen Wiesenabhang standen, der zwischen zurücktretenden Wäldern und Felsenstürzen wie eine Märcheninsel im vollen Sonnenglanze lag.
Wie durch Zauber waren wir aus der kühlen, 68 winterlichen Schlucht in den leuchtendsten Frühling geraten. Hochstengelige, goldene Schlüsselblumen, wie man sie sonst nur selten findet, standen hier in unglaublicher Menge. Dazwischen das zarte Lila des Wiesenschaumkrautes, das leuchtende Gelb des scharfen Hahnenfußes, die lachenden Sterne der Margueriten. Wo der Bach seinen Weg nahm, wucherten Vergißmeinnicht und dickkopfige Ranunkel mit ihrem saftglänzenden Blattwerk.
Wir zwei verhielten wie auf Kommando den Schritt. So unwahrscheinlich schön war dieser entlegene Winkel, daß es uns an die Stelle bannte.
Und nun sahen wir drüben am jenseitigen Waldsaume ein kleines Haus, ein Sommerhaus vielleicht, das irgendein Bevorzugter sich in diese tiefe herrliche Einsamkeit gestellt haben mochte.
Es beunruhigte uns. Wir mutmaßten, wir seien, über unseren Gesprächen des richtigen Weges nicht achtend, in ein Privateigentum eingedrungen, ohne es zu wollen.
Unsicher standen wir und schauten und tranken die strahlende Schönheit in uns hinein, wie etwas heimlich Entwendetes, das uns gar nicht zustand.
Auf einmal erhob sich, gar nicht weit von uns, ein Mann aus dem Gras, in dessen sonnenwarmer Ueppigkeit er ganz versteckt gelegen hatte. Jetzt stand er da in einem sonderbaren, langen, um die Mitte gegürteten Gewand, mit langen Haaren, die an den 69 Schläfen und über der Stirne weiß überflogen waren, und mit einem sonngebräunten, hageren Gesicht, aus dem ein Paar dunkle Augen fragend und, uns wollte fast scheinen, drohend blickten.
»Guten Tag,« sagte er laut und klingend, ehe wir ein Wort fanden. Wir erwiderten den Gruß in der Befangenheit unseres schlechten Gewissens und ich ermannte mich zu der Frage: »Sind wir hier wohl auf dem rechten Wege nach F.?«
Er lachte mit tiefem Klang. »Alle Wege führen hier herum nach F. Ob ihr den richtigen habt, den besten für euch, muß sich erst ausweisen. Man sieht das immer erst hinterher.«
Wir waren verdutzt. Die Anrede verblüffte uns ebensosehr wie die merkwürdige Antwort.
»Dürfen wir hier weitergehen, dort hinüber?« fragte mein Gefährte nach einiger Zeit und deutete gegen den Wald hinter dem fernen Häuschen.
»Gewiß dürft ihr das. Wer sollte es euch wehren?« kam der Bescheid.
»Nun, der Besitzer des Hauses. Der Wiesenpfad könnte Privatweg sein.«
Der Mann warf seine Haare von der Schulter zurück. »Der Besitzer des Hauses bin ich, soweit und sofern man besitzen kann, wo alles fließt und vorüberwirbelt.« Er winkte kurz mit der Hand und schritt vor uns aus, als wollte er uns führen. 70
Wir folgten, als müsse es so sein. Der Pfad war so schmal, daß wir nur einer hinter dem andern gehen konnten. Still zogen unsere Schatten neben uns über den Wiesenhang. Unzählige Grillen, die vor unseren nahenden Tritten verstummten, lärmten hinter uns her, als verspotteten sie uns. Der schreitende Fuß streifte lachende Blüten zur Seite, Schmetterlinge umgaukelten uns, Heuschrecken hüpften uns auf die Kleider. Unwirklich war mir der Gang, als träume ich alles. Nahe am Haus verlief sich die Wiese in einen sandigen, wohlgehaltenen Platz, zu dem ein paar Stufen von der offenen Haustüre herabführten.
Unser Begleiter blieb hier stehen und deutete nach zwei Seiten gegen den nahen Wald. »Da könnt ihr gehen und dort könnt ihr gehen. Ihr kommt auf beiden Wegen nach F. Welches der beste für euch ist, kann und will ich nicht entscheiden.«
»Welches ist wohl für Sie der beste?« wagte ich in halber Ungeduld zu fragen.
Er sah mich so sonderbar an, daß ich ganz klein wurde.
»Was nützt es dich, das zu wissen?« sagte er, »was mir gut ist, kann dir schlecht sein.«
Wir zwei Jungen wechselten Blicke, aber wir schwiegen.
Da klang wieder das tiefe Lachen: »Ihr mögt mich gern und ruhig einen Narren heißen, ihr Knirpse. Es 71 kann mir nicht mehr schaden. In der Einsamkeit ist der Narr so viel wie der Weise.«
Wir wollten etwas vorbringen. Er wehrte ab. »Nicht lügen! Es wäre schade um den schönen Tag. Ihr wißt doch, was heut für ein Tag ist?«
Von unserm Gutshof her waren wir gewöhnt, hart angefaßt zu werden. Aber wie dieser Alte mit uns umsprang, das hätte uns wohl das Blut zu Kopfe getrieben, wenn nicht die Seltsamkeit seiner Erscheinung und seines Wesens allem den Stachel genommen hätte. Wir waren uns darüber klar, daß man hier nicht mit dem sonst gebräuchlichen Maß messen dürfe, und so verwand unser jugendliches Selbstgefühl den schweren Stoß.
»Wir haben unterwegs davon gesprochen,« gab mein Gefährte zur Antwort. Der Alte schritt auf ein Bänkchen zu, das an der Seite des Häusleins in praller Sonne stand. Es war nur ein gehobeltes Brett auf vier Pfosten; als Lehne diente die weißgekalkte Hauswand. Er winkte uns, etwa so, wie man einem klugen Hund winkt, wenn er kommen soll. Gehorsam folgten wir und setzten uns ihm zur Rechten und zur Linken, weil anders kein Platz für uns war.
Er zog seinen langen, hellen Kittel vorne zusammen und fragte vergnüglichen Tones, als erwarte er, eine kindliche Dummheit zu hören: »Was habt ihr zwei denn da gesprochen?« – 72
Es ist mir jetzt, nach langen Jahren, verwunderlich, wie wir damals loslegten. Vielleicht wollten wir ihm die Beschämung bereiten, daß er spüren und begreifen sollte, daß er es mit Männern, nicht mit Knaben zu tun hatte. Den Wortlaut unserer Darlegungen weiß ich heute nicht mehr, besonders da wir eifrig durcheinander redeten. Aber ich weiß, daß wir uns verausgabten, als sei eine Examensfrage gestellt worden und die größte Beredsamkeit habe die größte Aussicht auf eine gute Note. Von der heißen und sehnsüchtigen Erwartung der damals versammelten Schar jüdischer und hellenistischer Gläubigen sprachen wir, von ihrem Ueberschwange und ihrer Inbrunst, die sie Dinge erleben ließ, wie die Trunkenen sie erleben. Auch das vergaßen wir nicht als merkwürdig, um nicht zu sagen als »wunderbar«, hervorzuheben, daß das Andenken an die Sache sich noch erhalten hat. Auf jene versammelten Männer habe das Erlebte beziehungsweise Erträumte tatsächlich so gewirkt, als ob ein neuer Geist in sie gefahren wäre, also habe es auch heute noch seine Berechtigung, von Pfingsten als dem Fest der Ausgießung des Heiligen Geistes zu reden, wenn man schließlich jetzt auch andere Gedanken und Vorstellungen damit verknüpfe.
Wir glaubten, sehr pietätvoll gesprochen zu haben, und waren fast andächtig gestimmt.
Der Alte zwischen uns gab dem langen Flügel seines 73 Kittels mit dem Fuß einen Stoß. »Das ist ja ein heilloser Quatsch,« schrie er uns an. Verständnislos starrten wir. Hatte er unsere Pietät mißverstanden und hielt uns schlankweg für kritiklos?
Schon sprang er auf und schlug die Hände zusammen. »Daß man so jung sein kann und schon so vertrocknet, so völlig verkalkt an Herz und Hirn!« Er deutete nach dem Wald. »Dort, den unteren Weg müßt ihr nehmen, der ist wie geschaffen für euch. Voll Dreck ist er, löcherig, steinig, schmierig, krumm! So liebt ihr's doch, eurem Geschwätz nach! – Es gibt auch einen guten, schönen, kurzen. Aber der ist nicht für euresgleichen, der ist für die Dummen.«
Er lachte hellauf. »Geht nur, geht! An dem Dreckweg könnt ihr euren Mut und eure Kraft und euer Heldentum auslassen. Tappt in jede Pfütze und fallt in jedes Loch, damit ihr euch nachher um so bedeutender vorkommt. Glück auf die Reise!«
Er schritt um die Ecke und ließ uns maßlos verblüfft zurück. Lange konnten wir uns nicht entschließen, aufzubrechen. Es mußte doch noch etwas erfolgen, eine Erklärung, eine Verständigung, vielleicht eine Entschuldigung seinerseits.
Aber der Mann blieb verschwunden, als hätte ihn die sonnige Einsamkeit, die ihn vorhin ausgespuckt hatte, geheimnisvoll wieder eingeschluckt. Wir nahmen scheu, wie mit schlechtem Gewissen, den oberen 74 Weg. Ein Kind hätte ihn gehen können, so gut war er beschaffen. Es war ein schweigsames Wandern unter den herrlichen Tannen hin. Nach einer Weile erst fragte mein Freund: »Glaubst du, daß er verrückt ist?« Ich tat, als hätte ich nicht gehört.
Früher, als wir gehofft, kamen wir nach F.
Im Gasthaus, wo wir Mittag machten, zogen wir bei dem bedienenden Kellner vorsichtig Erkundigungen ein nach dem Besitzer des Hauses an der Waldwiese.
Er zuckte die Achseln in einer vielsagenden Weise. Sein bartloses Gesicht fing zu grinsen an. »Es soll ein ehemaliger Schauspieler sein. Merkwürdiger Kunde! Eine Schraube los! Aber Geld muß er haben, er wohnt im Winter in M.« – Und das Gesicht des Auskunftgebenden vergaß das Grinsen und wurde fast ehrfurchtsvoll.
Später, als wir draußen vor F. am kleinen Gottesacker vorübergingen, sahen wir eine weißhaarige Alte unter einem blühenden Baum sitzen. Wir kamen in ein Gespräch und sie fragte nach dem Woher und Wohin.
Als wir ihr Auskunft gegeben hatten, meinte sie, da müßten wir doch auch am »guten Josef« vorbeigekommen sein.
Wir brachten heraus, daß sie damit unsern Alten meinte. Aber als wir mit Fragen in sie drangen, war es, als ob eine Türe in ihr zugehe. Zuletzt wußten wir 75 nur, daß er gut sei, aber arm. Im Winter gehe er fort, – hausieren!
Daheim auf dem Hof stellten wir unsere Fragen noch an den Herrn, der in der Gegend genau bekannt war.
Er wußte sogleich, wen wir meinten. Der Einspänner sei ein früherer Priester, der ausgesprungen und dann in Amerika Journalist geworden sei. Er habe merkwürdige Schrullen; aber wie er sein Leben führe, das sei gar nicht uneben –.
Und der Hofbesitzer machte dabei ein Gesicht, als stelle er Vergleiche an und finde, daß der Einsame besser abschließe, trotz der Schrullen.
Es sind viele Jahre hingegangen seit jenem Pfingsttag.
Man muß alt werden, ehe man das Wort versteht von dem Himmelreich, in das man nicht kommen kann, man nehme es denn an, als ein Kind.
Was mein damaliger Freund in diesem Stück für Erfahrungen sammelte, weiß ich nicht. Er ist mir längst aus den Augen gekommen und sein Weg hat den meinen nie wieder gekreuzt.
Aber von mir weiß ich, daß ich heute jenen Mann auf der Waldwiese besser verstehe als damals. Man muß viel Quark, viel Schul- und Schulbubenweisheit dahintenlassen, ehe man vordringt zu jener Einfalt, die die letzte Krone ist. 76