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In seinen rüstigen Jahren war Jakob Hilber Totengräber gewesen.
Nicht hauptamtlich natürlich. Die paar Gräber, die jährlich im Dorf zu machen waren, hätten den Mann nicht ernährt. Sein Holzmacher- und Kohlenbrennerberuf war der eigentliche Broterwerb, die Totengräberei nur Nebensache, schmückendes Beiwerk, vom Vertrauen der Dorfgenossen dem schweigsamen Mann übertragen, weil erstens kein anderer den Posten wollte, und weil zweitens der alte Schulze sagte, zum Totengräber müsse man einen machen, der starke Arme und Fäuste, einen schwachen Geldbeutel und ein faules Mundwerk habe, und das alles treffe beim Jakob zu.
Die starken Arme – so begründete der Schulze seine Behauptung – seien nötig, weil der schwere Boden des Einsinger Kirchhofs hart sei wie Eisen; der schwache Geldbeutel, weil ein wohlhabender Mann niemals um eine Mark eine Grube machen würde, und der schweigsame Mund, weil es mit den Toten nichts zu reden gebe.
In diesem letzten Stück, das wird die Geschichte erweisen, hat sich der alte Schulze getäuscht; in den andern hat er recht behalten. Der Jakob machte um eine 36 Mark eine Grube für den stärksten Mann, selbst wenn es – wie bald schon bei des Schulzen Tod – Winter und die Erde gefroren war.
Für Kindergräber berechnete Jakob sogar nur die Hälfte. Vielleicht weil er beobachtet hatte, daß gerade den ärmsten Leuten die meisten Kinder sterben, vielleicht auch, weil er es selbst erfahren mußte, daß Kindersterben eine Sache ist, die man sowieso schon furchtbar teuer bezahlt, auch wenn es nicht an den Geldbeutel geht.
Fünf von den seinen waren ihm klein gestorben. Ein Sohn und eine Tochter wuchsen gesund heran. Der Sohn blieb im Kriege, die Tochter auf der Walstatt der Weiber: im Wochenbett.
Jakobs Weib, wortkarg und herben Wesens, machte sich im ersten Winter nach der Tochter Tod hinter ihrer Kinderschar her und ging nach drüben.
Ihr Grab war das letzte, das Jakob grub. – Es überfiel ihn ganz plötzlich die Erkenntnis, daß die Kirchhofserde hart wie Eisen sei. Früher hatte er das nie bemerkt. Sein Amt war ihm entleidet; er dankte ab.
Als dies sich zutrug, hatte das Kohlenbrennen längst aufgehört. Der Hauch einer neuen Zeit war auch am tiefen Wald vorübergestreift, und unter ihm waren die glimmenden Meiler zusamt dem kräuselnden Rauch erkaltet. Es blieb nur ein heimlicher Harz- und 37 Rußgeruch auf der einsamen Kohlstätte in der fernen Waldlichtung zurück, ein Gespenst der entschwundenen Wirklichkeit. Sonntags ging Jakob gern da hinaus. Mutterseelenallein saß er dann im Moos. Manchmal hob er schnuppernd die große Nase, weil ihm war, als rieche er schwelenden Rauch; manchmal weiteten sich seine kleinen, tiefliegenden Augen, weil er glaubte, auf das glostende, verdeckte Feuer im längstverschwundenen Meiler achten zu müssen. Und manchmal endlich sank ihm in der menschenfernen Einsamkeit der Kopf so tief, daß man nicht mehr wußte, drückte ihn der Schlaf oder scheue, verschämte, herzzerfressende Trauer nieder, die ja da außen niemand sehen konnte, und die er vor niemand zeigen wollte.
Eines schönen Tags ging dem Gealterten auch das Holzmachen nicht mehr von der Hand. Die Axt kam ihm stumpf und doppelt so schwer, die Stämme und Klötze doppelt so hart vor. Dunkle Jahre gingen jetzt über den Mann. Wie in einem Käfig war er, und die unerbittlichen Gitterstäbe hießen Leid, nagendes Heimweh, bittere Verlassenheit, grinsende Not.
So gut wie einer, der sich mit seinem Hirn an den Rätseln und Problemen des Lebens zermartert und zerschunden hat, stand dieser Alte mit den schwieligen Fäusten oft ratlos vor erschöpften Möglichkeiten und sah keinen Weg mehr.
Aber dann kam der Tag, da an der scheinbar 38 fugenlosen Mauer seines schweigend getragenen Elends ein Spalt aufging und ein Pfad ins Freie sich zeigte.
Niemand, und er selbst am wenigsten, merkte, wie es eigentlich zuging. Die Erlösung kam, wie sie fast immer kommt: in unscheinbarem Kleid und im Schritt der Alltäglichkeit, so daß niemand ihr etwas Besonderes ansah oder Besonderes von ihr erhoffte.
So fing es an: das Weib des Bauern, bei dem der Einschichtige wohnte, seit die Seinigen gestorben waren, kam ins Wochenbett.
Und natürlich, wie das ja immer so ist bei den Bauern, zu einer ganz ungelegenen Zeit!
Man muß wissen, daß für diese Sache bei den Bauern nur die Zeit zwischen Weihnachten und Neujahr gelegen ist. Aber manchmal besieht sich der Storch den Kalender nicht genau und so geschah's, daß jenes Wochenbett in den Frühsommer fiel.
Und dazu – was soll man da sagen! – kamen Zwillinge! –
Man kann sich wohl denken, daß die beiden kleinen Buben die beginnende Heuernte empfindlich störten. Sie wurden in einen umfangreichen Wagen gepackt und in den Hof gestellt.
Aber als die erste Heufuhre hereinkam, waren sie auch da im Weg. Da schob Jakob, der gerade über den Hof ging, den Kinderwagen hinaus auf einen 39 Feldweg und – eigentlich ohne es recht zu wollen – weiter und weiter dem Wald zu.
Von diesem Tag an wuchs der alte Mann in ein Amt hinein, das ihn nährte und erlöste.
Um den Wagen der Zwillinge scharten sich bald die Hosenmatze der Nachbarschaft und die kleinen, bezopften, scheuen Mägdlein der Gasse, ja des Dorfes.
Jakob wurde stillschweigend als allgemeine Kindsmagd bestellt und fand sich gut in die Rolle.
Als sei die frühere Schweigsamkeit nur ein Sammeln und Sparen für das Amt seines Alters gewesen, so floß ihm jetzt die Rede, wenn er mit seinen Schutzbefohlenen allein war.
Vielleicht spürte er, daß er hier nicht mißverstanden wurde, auch wenn er von den seltsamsten und undurchdringlichsten Dingen redete. Und daß es solche Dinge auf der Welt gibt, das wurde ihm immer deutlicher und gewisser.
Keine der Mütter kümmerte sich um die Hüte- und Erziehungsmethode der Dorfkindsmagd. Man brachte ihm jenes Vertrauen entgegen, das billig und bequem ist. Kaum, daß man sich über seine Erfolge bei den Kindern wunderte.
Wäre man diesen Erfolgen nachgegangen, so hätte man auf manche bunte und wunderbare Geschichte stoßen müssen. Aber dafür hatte man nicht Zeit, und so blieb Jakobs Reichtum den Klugen und Weisen 40 verborgen und wurde nur den Unmündigen offenbar, wie viel anderer Reichtum auch.
Zwei Schauplätze waren's, auf denen die Geschichten zumeist spielten: auf der abgelegenen, waldeskühlen Kohlstätte oder oben auf dem sonnigen Kirchhof.
Die einen waren schillernd, wie schöne Schmetterlinge, die andern dunkel, wie nächtliches, einsames Wandern.
Die Kinder horchten, horchten und wurden immer stiller. Es waren beileib nicht Geschichten zum Verstehen, sondern solche von einer viel schöneren Sorte. Sie klopften nicht erst um Einlaß bei dem mürrischen Hirn, das so selten »Herein« ruft, sondern sie stürmten geradewegs aufs Herz zu, das immer weit offen stand und Platz für alles hatte.
Einmal lagerte der Jakob mit seiner Schar auf dem grasigen Rain, der vom hochgelegenen Friedhof sacht gegen die Landstraße herabzieht. Oben lagen sie, wo dicht an der Mauer ein mächtiger Apfelbaum seine Aeste reckt.
Es war Frühling, der Baum stand noch in Blüte und war so schön, daß sogar die Kinder, die sonst Schönheit nur spüren, es jubelnd sahen. Die Sonne warf eine Handvoll Gold zwischen den Schatten auf dem grünen Rasen, und das Summen der Bienen lag in der Luft wie süßer Orgelton.
Es saß da ein kleiner, verwachsener Bub im Gras, 41 der vielleicht fünf, vielleicht auch fünfzehn war, daneben ein blasses Mägdlein mit einem mißgestalteten Fuß und ein anderes mit schrecklich schiefem Hals und zitterndem Kopf.
Hinter diesen dreien stand eine aufrecht. Sie mochte etwa achtjährig sein, hatte ein seltsam hartes, unkindliches, aber sonst schönes Gesicht, aus dem zwei schwarze Augen glühten.
In diesen Augen war etwas Bangemachendes. Etwas, das wie eine böse Möglichkeit drohte. Aber man hätte nicht schließen mögen, daß das Kind, des Kronenwirts Agnes, böse sei; viel eher, daß Böses auf sie warte.
Des kleinen Mädchens Augen erzählten vielleicht, daß der Vater der größte Säufer des Dorfes war. Man weiß ja nie so genau, was Kinderaugen erzählen.
Außer diesen vieren, die den Kern von Jakobs Schar bildeten, waren noch ein halbes Dutzend Mitläufer dabei, die aber bald schon einem Schmetterling nachstürmten. Hätten sie gewußt, daß die Agnes heute einen Krampf bekommen würde, so hätten sie dieses oft gesehene, aber immer mit gleichem Grausen betrachtete Schauspiel vorher abgewartet.
Jakob hielt das kreideweiß gewordene Kind dann in seinem Arm, ihr Kopf lag an seiner Schulter, und wenn es vorbei war, dann zitterte die Agnes noch 42 lange, und ihre Augen waren wie große schwarze Löcher, die ins Bodenlose gehen.
Heute also waren nur die drei Kranken Zuschauer des Anfalls. Sie starrten und schwiegen und auf ihren blassen Gesichtern lag Mitleid und der heimliche Gedanke: mein Buckel, mein Klumpfuß, mein schiefer Hals ist mir lieber – –!
Jakob setzte die Kleine jetzt behutsam auf den Rasen. Legen ließ sie sich nicht. Sie wollte nie liegen nach dieser Sache und auf ihrem schönen, weißen Gesicht stand dann etwas wie harter und zäher Trotz oder verbissener Grimm.
Sonnenflecken spielten über die bleichen Hände der Kranken, da zog sie sie weg und steckte sie unter die Schürze.
Nach dem Mann schaute sie mit unkindlichem Blick und befahl: »Verzähl ebbes!«
Da fing er an, zuerst mit bedeckter Stimme, denn die Krämpfe der Agnes würgten ihn wie ein Knäuel im Hals; dann nach und nach freier. In den blühenden Baum schaute er hinauf, als lese er dort herunter, was er erzählte.
Ach, er wollte so gerne etwas recht Schönes sagen heute, etwas, was die Krämpfe der Kleinen und das Elend der andern drei zudeckte oder aufhellte. Aber aus sich allein heraus konnte er das nicht; der schimmernde Baum und das Bienenvolk und die 43 goldstreuende Sonne mußten ihm helfen. Und sie halfen ihm auch.
»Wisset ihr au',« fing er an, »daß der Baum, unter dem ihr sitzet, aus eme kleine' Aepfelkern worde' ischt? –«
Die vier nickten stumm.
»Und wisset ihr au', daß des e' Kern g'we' ischt, den der alt' Schultes über d'Mauer g'spuckt hot in der erschte Nacht, wie er in sein'm Grab g'lege' ischt?«
Niemand wagte etwas zu entgegnen.
»Ja freile; i' selber han ihn nunterg'schaufelt, den alte Ma' – er ischt 93 worde'; aber immer no' rüstig g'we', wie e' junger – i' han die Kränz' und Sträuß', wo-n-er g'kriegt hot, schö' obedrauf aufs Grab g'legt und han alles sauber g'macht, wie sich's g'hört^ Und wie i' no heim bin, han i mei' Schnupftabaksdos' auf d'r alte Ochse'wirte ihrem Grabstein – hinter'm Kirchle drumme, ihr wisset's jo, liege lasse. 's ischt scho' Nacht g'we', wie i's g'merkt han. Also i' gang no' emol uf de' Kirchhof – d'r Mond hot g'scheint, 's isch' so um Ostere rum g'we', i' weiß no – guet – und was ischt d'? – Der alt' Schultes sitzt auf sein'm Grab, ißt en' Aepfel und spuckt d' Kern über d' Mauer. – – –
Des muß i' au' no sage: zu seine' Lebzeite' hot er d' Aepfel immer mit Haut und Hoor g'gesse, bis auf d' Stiel; er ischt gar e' sparsamer Ma' g'we'. Und 44 so hot er's in dere Nacht au' g'macht. Aelles hot er g'gesse', bloß de Stiel hot er wegg'schmisse' und d' Kern hat er über d' Mauer g'spuckt.
I' han ihm lang zug'guckt und han g'meint, er seh' mi' net. Uf ei'mol ruft er: ›He, Totengräber! I' muß d'r ebbes sage‹« – –
Der Erzählende schwieg. Er sah aus, als suche er in seiner Erinnerung. Der kleine Verwachsene fragt fast unhörbar: »Hot er laut g'schriee'? –« Jakob schüttelte den Kopf. »Was denkst au'! Des ischt gar net zum sage', wie leis die Tote schwätzet. Höre' tust do nix; bloß verstehe'! Des gäb' jo sonst e' anders G'schrei uf de' Kirchhöf'«
»Sag' jetzt doch weiter!« drängte ungeduldig die bleiche Agnes und lehnte den müden Rücken an den Apfelbaum.
»Glei', glei',« beschwichtigte der Alte, »lass mi' no z'erst schnupfe'« – und er nahm umständlich eine Prise; vielleicht um Zeit zur Sammlung zu gewinnen. Auf sein Niesen sagten die Viere: »Helf Gott!«
Er nickte mit dem Kopf. »Ja, ja, helf Gott! han i' domols au' g'sagt. Helf Gott, Herr Schultheiß, was wöllet Sie von mir?«
Er guckt mi' an, ganz lang und g'späßig und sächt: ›Jakob –‹« – »Was hot er für Auge' g'hät?« fällt das Mädchen mit dem Klumpfuß ein.
»Auge'?« – Der Jakob zögert ^ »Auge' hänt 45 die Tote' keine; sie gucket ein' ohne Auge' an – des ka' mer net so sage' –« er schweigt und schaut wieder in die Blüten hinauf nach heimlicher Hilfe.
Die Viere sitzen verstrickt in das dunkle Geheimnis, daß die Toten ohne Augen gucken.
Jetzt fängt der Alte gekräftigt wieder an: »Also der Schultes sächt: ›Jakob, i' will, daß do an der Mauer a Aepfelbaum wachse' soll. I' brauch' im Sommer Schatte' über mei'm Grab; die hell' Sonn' de' ganze Tag tut mir net guet. Aber des ischt net älles. Der Aepfelbaum soll au' blühe', wenn sei' Zeit do ischt, und d' Biene' sollet komme', und d' Kinder sollet ihr' Freud' han, und du sollst in Schatte' sitze' könne', wenn du e'mol alt bischt und 's Totegräberg'schäft aufg'steckt host und nemme Holz machst und keine Kohle' meh' brennst.‹ –
Ja, sag i' drauf, Herr Schultheiß, von was soll i' denn no lebe?
Er lacht und meint: ›Aelleweil vom Esse' und Trinke'! Des braucht Dei' Sorg' net sei'; aber des braucht Dei' Sorg sei', daß, wenn e'mol d' Aepfel an dem Baum reif werdet, älles in de' rechte' Händ' kommt!‹ –
Do muß i' lache' und sag': 's wird halt so werde', Herr Schultheiß: die größte' Lausbube' werdet die meiste' Aepfel stehle' und die kleinere nehmet des, was übrigbleibt. 46
Er guckt mi' an und brummt: ›Des ischt e' alte G'schicht, daß d' Bube' d' Aepfel stehlet. Aber es handelt sich um des: äll' Johr' wächst unter de' feuerrote Aepfel e' einziger, der wo e' ganz b'sondere Kraft hot. Er ischt goldgelb und er hängt – – –‹.
So weit ischt der Schultes komme, no schlägt d' Uhr auf'm Kirchle Eins. Und weg ischt mei' Schultes. I' sieh nix meh' und hör' nix meh', als die Kränz und Sträuß und wie der Wind drin scheppert. –«
Schweigend sitzen die vier Zuhörer. Auf ihren kränklichen Gesichtern liegt ein Zug von Entsagung. So, als sei es ihre Erfahrung, daß auf der Erde nichts zu einem guten Ende kommen darf. Der Verwachsene hebt sein spitzes, bleiches Gesicht. Halb scheu und halb altklug fragt er: »Könnt's jetzt net sein, Jakob, daß dir's des älles halt träumt hot?« –
Der Alte fühlt deutlich, wie nun plötzlich aus vier Herzen harte Zweifel gegen ihn anbranden. Aber das bringt ihn nicht aus der Ruhe. Nachdenklich sagt er: »Der Gedank' ischt mir au' scho' komme'. Aber, Kinderle, saget selber: tät der Aepfelbaum do stehe', wenn net der alt' Schultes d' Kern' über d' Mauer g'spuckt hätt' –? Aus nix wird nix! –«
Alle schauen in die Blüten hinauf. In der Seele des Verwachsenen liegt vielleicht noch ein zäher Einwand; aber die schwere Zunge kann ihn nicht so rasch hervorholen. 47
Jakob fährt sich mit dem blauen Schnupftuch über die große Nase und steckt es dann umständlich wieder ein.
Wie aus schwerer Versonnenheit heraus sagt er: »Wenn mer des wüßt', was des für e b'sondere Kraft ischt in dem gelbe' Äpfel – – –«
Die Kleine mit dem Klumpfuß hebt schüchtern die Augen zu ihm. Heißer Wunsch, ferne, strahlende Hoffnung klingt auf, als sie stockend sagt:
»Vielleicht die Kraft, daß mer nach Unterzell zu meiner Ahne laufe' könnt' – –?« Es klingt so unsäglich sehnsüchtig, so inbrünstig bittend. Der Alte kann nur mit dem Kopf nicken.
Jetzt dreht schon die mit dem schiefen Hals das bleiche, sommersprossige Gesicht her. Sie muß sich ganz verrenken dabei und der Kopf zittert heftig. In ihren schönen goldbraunen Augen flackert der Eifer, vielleicht der Neid, und sie stammelt:
»Oder die Kraft, daß mer mein' Karle rumtrage' könnt? – –« Der Karle ist ihr neugeborenes Brüderlein, das sie mehr liebt als ihr eigenes Herz und das sie doch nicht auf den schwachen Armen halten kann. –
Der Verwachsene reißt Gras aus und streut es zwischen die gekreuzten Beine. Sein Gesicht bedeckt sich langsam mit dunkler Glut. Ohne aufzusehen wirft er mit rauher Stimme hin: »Oder daß mer Lehrer werde' könnt'?« – 48
Da blüht das große Schweigen wieder auf, durch das der Orgelklang des Bienensummens herabtönt.
Daß der Krüppel ein Lehrer werden möchte, das wissen alle längst. Aber es war seither etwas Fernes, Heiliges gewesen, das nie ganz mit den Füßen auf die Erde treten durfte. Etwas Schwebendes, Unwirkliches war es, ein goldschimmernder, fremder Schmetterling.
Und nun hatte sich dieser Schmetterling niedergelassen und klappte mit den Flügeln.
Beklemmendes Verwundern ist in den drei Mädchen, daß von dieser Sache am hellen Tag gesprochen wurde.
Raschelnd fällt ein Fink im Apfelbaum ein und fängt alsbald schmetternd zu singen an.
Da setzt sich die bleiche Agnes aufrecht und schaut hinauf nach dem Vogel, der so klein ist und doch eine so großmächtige Stimme hat. Ihr Gesicht ist abgewandt; niemand kann sehen, was darauf steht, als sie in den Baum hinauf sagt: »Oder daß mer mache' könnt', daß mei' Vatter kein' Rausch meh' hätt' –?«
Hat sie es leis gesagt –?, hat sie es geschrien? Man weiß es nicht, weil der Vogel so laut sang. Aber jetzt ist er jäh verstummt. Alles ist verstummt, sogar die Bienen. Oder hört man sie nur nicht mehr, weil des Kindes furchtbares Wort fort und fort in der Luft zittert? Der Fink im Laub dreht den Kopf und wundert sich – wundert sich; dann bekommt er's mit der Angst und fliegt weg. 49
Der Jakob läßt den Kopf sinken. Schwer ist ihm auf einmal. Etwas in ihm knurrt, er habe den Kindern nicht die richtige Geschichte erzählt, und wenn sie auch noch so wahr sei!
Er will sich verteidigen, will die Schuld von sich abwälzen. In den blühenden Baum hinauf schaut er. Aber der will auch nichts damit zu tun haben und lehnt jede Verantwortung ab.
Ein Seufzer entfährt dem Alten. Er müht sich, nachträglich abzuschwächen, seine Hörer von der aufreizenden Geschichte wegzuführen. Aber die bleiben zäh bei ihren eigenen Gedankenwegen.
In Jakobs ablenkende Rede hinein fragt der Verwachsene stillen Tons, aus dem ferne Bangigkeit klingt: »Glaubst, daß der gelb' Aepfel ganz z'oberst hängt? –«
Der Alte zuckt die Achseln. Ach, wäre es doch in seiner Macht gestanden, die Wunderfrucht so aufzuhängen, daß auch die Bresthaften sie hätten erreichen können! Aber das stand ihm nicht zu. Die Geschichte mußte bleiben, wie sie war und wie sie sich zugetragen hatte. Es kommt nie etwas Gescheites dabei heraus, wenn man der Wahrheit ein erdichtetes Schwänzchen anhängt.
Die Klumpfüßige reckt den dürren, unverhältnismäßig langen Arm. »I' kann weit 'nauflange'.« – Sie verkündet es triumphierend, als sei ihr der Goldgelbe schon sicher. 50
Aber die mit dem schiefen Hals sagt ruhig: »Vielleicht hängt er unte', und i' sieh älles, was unte an de' Aest hängt.« Dabei hält sie den Kopf so, daß man es ihr willig glaubt.
Ganz hart und hochmütig wirft da die bleiche Agnes hin: »I' komm auf d' höchste' Gipfel 'nauf, von mir aus kann er hänge', wo er will.«
Tiefes Schweigen. Das schreckliche Uebel der Agnes, an dem die andern drei sonst ihre Leiden messen und geringfügig finden, schrumpft plötzlich zusammen zu einer beiläufigen Sache, die offenbar nicht verhindern wird, daß Agnes den Apfel davonträgt. Man weiß, zwischen die Krämpfe hinein kann sie sein, wie eine Gesunde. –
Jakob steht jetzt auf. Es ist Zeit, daß er seine Schutzbefohlenen entläßt. Den Verwachsenen, der nicht sicher geht, führt er an der Hand. Unterwegs reden sie nicht viel. Einmal fragt der Krüppel, um welche Zeit die Aepfel am Kirchhof reif seien?
Der Alte muß sich besinnen. Zuletzt sagt er, das komme ganz auf den Sommer an.
*
Der Sommer jenes Jahres war voll Sonne. Wenn die Hitze überhand nahm, geleitete der alte Jakob seine Schützlinge auf die kühle waldumschlossene Kohlstätte hinaus, wo die kleinen, dunklen Schmetterlinge, die die Kinder »Waldteufel« nannten, ihr stilles Wesen 51 trieben, bei dem es immer aussah, als spielten unsichtbare Partner mit.
Ein Schmerz war's dem Hüter, daß der Verwachsene und die Klumpfüßige dort hinaus nicht mitkommen konnten. Für sie war es zu weit.
Auch das kleine Ding mit dem schiefen Hals und dem Zitterkopf fehlte. Ehe die letzten Apfelbäume verblüht hatten, war sie jäh gestorben. Ihren Bruder Karle, den heißgeliebten, hatte sie heimlich in einer unbewachten Stunde aus dem Wagen nehmen wollen. Mit einem furchtbaren Schrei war sie zusammengebrochen. Man fand sie tot, den lustig krähenden Karle über sich.
Auch die Agnes ging nur selten mit hinaus auf die Kohlstätte. Die gesunden und wilden Kinder, die Jakob in diesem Sommer zu hüten hatte, gefielen ihr nicht. Sie haßte sie beinahe. –
Je schöner ein Sommer ist, je schneller geht er zu Ende und wenn er bis zum Martinitag dauern sollte.
Manchmal meint Jakob, es sei gestern gewesen, daß der Apfelbaum an der Kirchhofsmauer blühte, und nun fangen schon die Früchte an, rotbackig zu werden. Die wurmigen oder die frühreifen liegen im nassen Gras, wenn man in der Morgenfrühe an den stillen Baumgärten vorübergeht, wie Jakob, der seine Schützlinge zusammenholt.
Ach, er muß so oft an die Viere denken, die ihm 52 einmal so dankbare Zuhörer waren. Es ist ihm, als ob es ein wahres Glück sei, daß es auf Erden auch bresthafte Kinder gibt und nicht nur die allzu gesunden und wilden, die keine Geschichte ganz zu Ende hören.
Wieder fällt ihm da ein, was ihn schon oft heimlich gequält hat: daß auch jene Geschichte unter dem Apfelbaum kein Ende hatte. Daß sie ganz jäh und unvermittelt abbrach.
Es ist ihm dies unbehaglich, weil es ja seine besten Zuhörer waren, die um den Schluß betrogen wurden.
Vielleicht läßt sich doch einmal noch einer finden!
An einem wunderbaren Herbstmorgen sieht er den Verwachsenen auf dem steinernen Brunnentrog vor seinem Haus sitzen. Kalt war die Nacht gewesen; es ist am ersten Reif vorbeigegangen. Der Krüppel hockt da, schauernd in der Morgenkühle, die von der Sonne herabgedrückt, aber noch nicht besiegt ist. Seine Lippen, seine mageren Hände sind blau; aber in den Augen ist warmer Glanz. »Jakob«, ruft er dem Herschreitenden zu, »glaubst, heut Nacht send viel Aepfel g'falle'? –«
»Viel Aepfel«, sagt er. Aber Jakob hört deutlich, daß er nur nach dem einen, dem goldgelben fragt. Ihm wird bang. Es ist nicht leicht, zu einer Frühlingsgeschichte im Herbst den Schluß zu finden. Aber wie ihm dazumal der Blütenbaum geholfen hat, so, hofft er heimlich, werde der Fruchtbaum zu einem guten Ende 53 verhelfen. Er tritt herzu und nimmt des Verwachsenen Hand. »Komm, mer gucket!«
Sie gehen durchs Dorf, ohne daß jemand ihrer achtet. Nur einmal bleibt ein Weib stehen und redet Jakob an. Sie hat die Schürze voll Obst und nickt, weil sie die Hände zum Gestikulieren nicht frei hat, heftig mit dem Kopf, denn sie weiß Ernsthaftes zu berichten. »Heut Nacht«, sagt sie und winkt dorthin, wo ein Wirtshausschild mit einer Krone über die Gasse hängt, »heut Nacht hat er wieder en' andere Rausch g'hät', der Kronenwirt; er hot tobt, wie der Teufel!« Seufzend geht sie von dannen. Der Kronenwirt ist und bleibt das Aergernis im Dorf.
Draußen auf seinem breiten Hügel liegt der kleine Friedhof im Morgensonnenglanz. Von weitem schon leuchtet die Mauer und ein paar spitze Zypressen recken sich dahinter empor, als steche sie der Fürwitz, die Schönheit der weiten klaren Ferne zu sehen.
Breit und behäbig ragt der Apfelbaum. Wie ein Selbstzufriedener sieht er aus, der kein Draußen braucht, der seine Welt mit ihren Pflichten und Freuden in sich trägt.
Unten an dem grasigen Abhang stehen der Jakob und der Krüppel. Der starke Tau schimmert an den Gräsern. Die beiden überlegen, daß heute die Nässe zu groß ist, um hier emporzusteigen. Man wird den richtigen Weg nehmen und dann oben an der Mauer 54 herübergehen müssen. Aber dann deutet der Verwachsene stumm auf etwas. Ist da ein Wild gegangen oder ein Hund? Durch die Tauperlen hin führt eine Spur den Hang empor, eine starke, nasse Spur. Des Krüppels Hand zittert einen Augenblick in der des Führers. An die Klumpfüßige denkt er. Die mag hier durchgestreift ein. Sie hat so oft in diesem Sommer von dem Apfel gesprochen, so oft beteuert, daß sie hoch hinauflangen könne! Wie ein Berg fällt die Angst auf den Krüppel, die Angst, zu spät zu kommen. Die beiden achten der Nässe nicht mehr. In dem Pfad, den das unbekannte Wesen getreten, steigen sie aufwärts. Ihre Blicke suchen im Gras, wo da und dort ein blutroter Apfel liegt. Und dann – der Jakob will eben etwas sagen, vielleicht das, daß man die Geschichten vom Frühling im Herbst nicht mehr ernst nehmen dürfe, – da schimmert etwas so seltsam vom Apfelbaum herüber. Dicht am Fuß scheint es zu liegen. Goldgelb ist's nicht; aber es geht wie Feuer davon aus. Nein, wie Kälte, wie kaltes Entsetzen. – – Ungeformt, unsäglich still, furchtbar unbeweglich liegt es da. Wer hat den ersten Schritt daraufzu getan? Wer den ersten Laut des Schreckens ausgestoßen? – –
Die zwei starren jetzt auf ein kreideweißes, von einem breiten Blutstreifen überrieseltes Kindergesicht, dessen Augen geschlossen sind. Härte liegt darauf und macht es alt. 55
Gut, daß die Augen zu sind! Es lag immer etwas in ihnen, wie eine ferne schreckliche Möglichkeit. Und nun sind alle irdischen Möglichkeiten für die kleine Agnes gründlich erschöpft.
Es gab Aufsehen und Jammern im Dorf, als es aufkam, daß Kronenwirts Agnes von dem Apfelbaum am Kirchhof abgestürzt und tot sei.
Aber dann hieß es einerseits, zu was so ein bresthaftes Kind auf einen Baum steige? Und andererseits, es sei dem Agnesle wohl zu gönnen, daß sie nun von ihrem eigenen Elend und von dem ihres verkommenen Vaterhauses erlöst sei.
So half man sich im Dorf hinüber über den Jammer.
Die drei aber, die allein wissen konnten, was die Agnes auf den Apfelbaum gelockt hatte, sie schwiegen, als sei ein Schloß an ihren Mund gelegt. Es war ihnen klar, daß man von solchen Dingen zu den Gesunden und Lauten nicht reden kann, ohne eine große Verwirrung anzurichten.
Als die Agnes, geschmückt wie ein Bräutlein, im Sarg lag, gab man ihr eine schöne, goldgelbe Zitrone in die bleiche Hand. Es war so alte Sitte im Dorf. Die fremde Erdenfrucht sollte den Toten ein Vorschmack sein der köstlichen Früchte des Paradieses.
So hat Jakob und der Verwachsene und die Klumpfüßige die Kleine liegen sehen. Zufrieden lag sie, wie 56 eine wunschlos Gewordene. Was die zwei Kinder dachten, ist schwer zu entscheiden. Ueber den Alten aber kam es wie jähe Erleuchtung: Nichts anderes konnte der tote Schultheiß gemeint haben, als das goldgelbe Ding in der Agnes Hand. – –
Die Geschichte vom Frühling hatte im Herbst ihr Ende gefunden. 57