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Ein vollkommen ausgewechselter Haberdietzl

Durch diesen Sommer wandert Marianne allein. Sie fährt ohne bestimmten Plan ein Stück mit der Bahn, geht dann wieder einige Tage zu Fuß. Immer weiter südwärts kommt sie und ist zuletzt auf der Insel Arbe vor der istrianischen Küste.

Ach, es finden sich allenthalben Leute, die sich sehr darum bewerben, Mariannes Wandergefährten zu sein, und gar am Badestrand könnte sie ihre Einsamkeit ohne weiteres gegen die lebhafteste Geselligkeit umtauschen. Aber sie hat eine so herbe und bestimmte Art, sich aller Fremden zu erwehren, daß sich jeder fröstelnd zurückzieht.

Von Arbe aus schreibt sie nach Krems, man möge ihr die Post nachsenden.

Die Post, die sie erhält, ist nicht überwältigend. Sie besteht aus zwei Briefen. Den einen hat der Rechtsanwalt Klimsch geschrieben, und sein hauptsächlichster Inhalt ist ein ganz dicker Vorwurf, daß ihn Marianne damals in Leoben so schnöde versetzt habe. Solcher Heimtücke habe er sich nicht von Marianne versehen, und nun sei sie bei ihm mit einem Soll belastet, das sie schon noch werde ausgleichen müssen, übrigens sei er nun von seiner Frau geschieden und ein glücklicher, freier Mann.

Auf dem andern Brief klebt eine französische Marke, und er kommt quer durch ganz Europa vom Strand eines anderen Meeres. Dort, in einem kleinen französischen Fischerdorf, sitzt ein gewisser Othmar Haberdietzl und hadert mit seinem Schicksal. Soweit eben ein Othmar Haberdietzl mit dem Schicksal hadern kann. Das Schicksal, mit dem es Haberdietzl zu tun hat, tritt ihm in der Gestalt des Wetters entgegen. Hochdruck und Tiefdruck heißen die guten und bösen Dämonen, die sich mit Haberdietzl beschäftigen, und zur Zeit sind alle bösen Dämonen auf ihn losgelassen.

Marianne kann sich über ihren Sommer nicht beklagen. Soweit sie überhaupt den äußeren Umständen Beachtung geschenkt hat: nur wenige regnerische Tage sind in der langen Kette der schönen zu verzeichnen gewesen. Und gar jetzt auf der Insel Arbe zeigt der Sommer, was er kann, wenn er bei bester Laune ist. Aber mit dem Wetter ist es nun einmal so, daß man aus dem des einen Ortes nicht auf das des andern schließen kann. Insbesondere dann nicht, wenn ganz Europa dazwischenliegt. Hier lächelt ein veilchenblaues Meer, und schräg gegenüber tobt der Atlantische Ozean als entfesselter Sturmriese und donnert mit eisernen Fäusten an der französischen Küste.

Zuerst hat Othmar Haberdietzl ja auch ganz gutes Wetter getroffen. Er hat es zu Übungsfahrten benützt, denn es versteht sich, daß er sicher gehen will, wenn er den Kanal übersetzt. Gut ... und dann ist es endlich so weit, daß er den Finger im Kalender auf einen bestimmten Tag legen und sagen kann: Übermorgen! Aber eben an diesem Tag ist das Tiefdruckgebiet aus den Wasserwüsten des Atlantik herangerückt und richtet sich häuslich ein. Es stürmt aus allen Kalibern, und die Schiffe im Kanal haben schwere Arbeit.

Abwarten. Das ist in solchen Fällen die letzte Weisheit. Aber es ist eine Weisheit für Leute, die Geld haben, meint Haberdietzl. Und wie steht es in diesem Punkt mit Haberdietzl? Haberdietzl hat gespart, aber weiß Gott, so viel hat er nicht ersparen können, daß er noch wochenlang in dem französischen Fischerdorf sitzen kann, bis das Meer Vernunft annimmt. Ja, wenn es nun nicht bald besser wird, schreibt Haberdietzl, so würde er wohl für dieses Jahr seine Pläne aufgeben müssen.

Auf diese Weise hadert Haberdietzl mit dem Schicksal.

Marianne ist nett zu ihm und schreibt, sie würde ihm sehr gerne einige Tage von dem Wetter schicken, das sie hier hat. Aber es ist nicht bloß ein langer Weg nach Tiperary, sondern ein noch längerer von Arbe nach der französischen Nordküste, und es ist die Frage, ob das gute Wetter unbeschädigt dort ankommen würde.

Immerhin ist es ein Brief von Marianne, ein guter Brief, Mitgefühl und Verständnis spricht aus ihm. Haberdietzl trägt ihn in der Brieftasche bei sich auf der linken Rockseite, nahe dem Herzen, und mit einem solchen Brief in der Tasche läßt sich schon wieder einige Tage dem Sturm trotzen.

Für Marianne und für alle ihresgleichen gehen allmählich so die Zeiten der Freiheit zu Ende, und an ihrem Schluß stehen nun wieder die Anastasius-Grün-Gasse und die Giselaschule zu Krems. Das neue Schuljahr beginnt, alle sind sie wieder da, jeder an seinem Platz, voll frischer Luft und voll Sommergeschichten, die sie durchaus loswerden wollen.

Für Marianne hat der Herr Direktor eine Mitteilung. »Sie haben Ihr Probejahr«, sagt er, »zur vollen Zufriedenheit Ihrer vorgesetzten Behörde abgelegt, und ich freue mich, Ihnen mitteile» zu können, daß Sie nunmehr endgültig angestellt sind. Ich habe die Ehre, Ihnen hier das Dekret zu überreichen.«

»Ich danke!« sagt Marianne. Und mit der Entgegennahme dieser Urkunde ist ja nun wohl etwas, was Marianne für höchst vorläufig angesehen hat, endgültig und unwiderruflich geworden.

»Sie werden nun«, erklärt der Herr Direktor Wösel, »auch weiterhin dazu beitragen, den guten Ruf meiner Anstalt zu bewähren, Sie werden die Jugend auch weiterhin im vaterländischen Geist ...«

»Ja!« sagt Marianne, »ich danke Ihnen!«

Und der Herr Direktor ist sehr verblüfft darüber, daß er unterbrochen worden ist und nicht zu Ende sprechen konnte. Diese Person nimmt sich etwas zuviel heraus, sie verläßt sich wohl etwas zu sehr darauf, daß der Herr Landesschulinspektor Fieber ihr sein besonderes Wohlwollen zuwendet.

Vor dem Schulgebäude geht der Kollege Haberdietzl auf und ab.

»Nun?« fragt Marianne. Sie hat bisher in dem Rummel des Schulbeginnes noch nicht Zeit gehabt, diese Frage an Haberdietzl zu richten.

Haberdietzl schüttelt den Kopf: »Nichts ... ich muß Ihnen das alles erzählen ... darf ich Sie heute abholen?«

Es wird ihm wohl schwer, gleich beim ersten Zusammentreffen alles herunterzureden, es gehört schon einige Überwindung dazu. Sie gehen diesmal nach Mautern hinüber, die lange Brücke, die von Stein aus über die Donau geschlagen ist. Aber auch auf diesem Weg bringt es Haberdietzl nicht gleich über sich, von seinem Mißgeschick zu beginnen. Sie sprechen von allen möglichen anderen Dingen, Marianne erzählt ja auch nichts von Leoben und davon, daß sie auf der Jahnhütte war.

In Mautern hat sich auf dem Markt ein kleiner Tummelplatz eingerichtet. Krems ist hier die Großstadt; wenn man durch das Steiner Tor geht, kommt zuerst eine Vorstadt, die Und heißt, und dann kommt Stein. Krems Und Stein sagt der Volkswitz. Die Bedeutung von Krems beruht auf dem Kremser »Kögel« und der Giselaschule. Stein ist berühmt durch das große Gebäude mit den unzähligen Gitterfenstern, in dem neben etlichen Übeltätern auch viele sitzen, die bloß anderer Meinung sind. Mautern aber macht bloß darum von sich reden, weil es am andern Ende der großen Brücke liegt.

Ansonsten ist es nur ein bescheidenes ländliches Schwesterlein von Krems und Stein und findet sein irdisches Vergnügen noch bei Ringelspiel und anderem Jahrmarktprunk. Das Ringelspiel läßt seine hölzernen Pferde, Ziegenböcke und Schwäne im Kreis laufen, mit kleinen und großen Kindern als Reitern in den Sätteln, und eine gewaltige Drehorgel, eine Art Musiktank, macht ein schallendes Getöse dazu. Daneben steht ein Schnellphotograph; und als dritte Sehenswürdigkeit vervollständigt den Rummelplatz das Unternehmen des Herrn Siegfried Kondor, Professors der Bauchredekunst und höheren Magie. Er gibt seine Vorstellungen wahrscheinlich in dem Leinwandzelt, auf dessen Vorderseite ein ehrwürdiger Greis abgebildet ist, mit einem wallenden, weißen Bart, einer spitzen Magiermütze und einem Talar, auf dem viele geheimnisvolle Zauberzeichen ehrfürchtige Schauer erwecken. Es ist ein gutes, altes Zauberzelt, aber ob nun seine Anziehung selbst für Mautern nicht mehr besonders wirksam ist, oder ob die Leute kein Geld haben, und das wenige, das sie besitzen, lieber zum Ringelspiel oder zum Schnellphotographen tragen: jedenfalls ist der Andrang nicht gerade erdrückend.

Vielleicht hat sich darum der Professor der Bauchredekunst und höheren Magie, Siegfried Kondor, entschlossen, die Zuschauer zunächst durch eine Freilichtaufführung als Kostprobe auf seine Zauberwelt neugierig zu machen. Er steht auf einer kleinen Bühne, einen mit buntem Papier beklebten Holzwürfel neben sich, und auf der anderen Seite des Würfels steht eine junge Dame mit fleischfarbenen Trikotbeinen, einem kurzen roten Faltenröcklein und einem schwarzen Bolerojäckchen Über dem etwas grau angehauchten Hemd.

»Señorita Pepita«, stellt sie der Professor Siegfried Kondor der mehr oder minder erwachsenen Jugend vor, die sich vor seiner Bühne gesammelt hat. »Señorita Pepita, eine echte Spanierin aus Kuba, wo der beste Rum herkommt, Señorita Pepita, genannt das achte Weltwunder!«

Haberdietzl scheint keine Lust zu haben, dieses achte Weltwunder näher kennenzulernen, aber Marianne bleibt stehen und meint: »Sehen wir uns das an.« Was sie hier vor sich hat, ist ein Stück Vergangenheit aus der Zeit vor der Totenhorn-Südwand. Die Weltgeschichte hat ihre Einteilungen, damit man sich im Altertum und Mittelalter und in der Neuzeit richtig auskennt, sie rechnet nach Christi Geburt und nach der Entdeckung Amerikas. Aber daneben hat wohl jeder Mensch seine Einteilungen für den eigenen Gebrauch, und für Marianne scheidet die Totenhorn-Südwand die ältere Zeit von der neueren Zeit.

Für den Professor Siegfried Kondor scheinen aber weder in der Vergangenheit noch in der Gegenwart viele Goldschiffe in seinen Hafen eingelaufen zu sein. Er ist ein altes Männchen in einem schäbigen Salonrock mit einem Hungergesicht und mit einer zitterigen Greisenstimme. Und was die junge Dame aus Kuba anlangt, so ist sie wohl weder jung noch Dame noch aus Kuba. Sie schaut aus wie die sieben teuren Zeiten, und das macht wohl ihre besondere Eignung zum achten Weltwunder aus.

Der Herr Professor Siegfried Kondor erklärt, daß es sich um das Geheimnis der Dame im Würfel handelt, und er läßt den Würfel von einigen beherzten, unbestochenen Fachmännern untersuchen. Kein doppelter Boden, keine Versenkung, kein Schwindel, alles nur höhere Magie. Er klappt den Deckel des Würfels zurück, und Señorita Pepita kriecht hinein.

»Sie haben gesehen, die junge Dame ist hier in diesem Würfel gefangen ... haben Sie es gesehen? Ja? Nun passen Sie auf.«

Er klappert mit seinen fünfzehn eisernen Spießen, und dann bohrt er den ersten mit zitternder Hand schief durch ein Loch der Oberseite des Würfels, so daß er aus einem Loch der Seitenwand wieder hervortritt.

»Uje«, sagt ein Mädel unten vor der Bühne und macht ein Gesicht, als hätte man ihm selbst einen Spieß durch den Leib gerannt.

Das tut dem Herrn Professor Siegfried Kondor wohl, und auf seine Miene tritt ein Lächeln, ein wehmütiger Rest aus seinen Erfolgszeiten. »Nun glauben Sie wohl, Señorita Pepita sei gar nicht mehr drinnen ...« Er klopft an den Würfel: »Señorita Pepita, sind Sie da?«

» Yes!« antwortet Señorita Pepita im Würfel, denn sie ist eine Spanierin aus Kuba.

»Sie haben gehört, daß sie noch da ist.« Und damit greift der Zauberer zum zweiten Spieß. Nein, er schont die Señorita Pepita nicht und seine Zuschauer nicht, er rennt alle fünfzehn Spieße, einen nach dem andern, kreuz und quer durch den Würfel.

Wie ein viereckiger Igel schaut der Würfel zuletzt aus, ein Igel, der längere Zeit nicht gekämmt worden ist.

Ja, das ist, weiß Gott, das achte Weltwunder, denn wie der Professor die Spieße wieder herausgezogen hat und den Deckel zurückklappt, entsteigt Señorita Pepita dem Würfel, unversehrt und wunderschön und mit einem strahlenden Lächeln auf den Heringswangen.

Sie hüpft an den Rand der kleinen Bühne, anmutig, wie nur Spanierinnen hüpfen können, sie verneigt sich, und der Professor verneigt sich, und von ein paar Handflächen tropft Beifallsklatschen.

Dann zaubert Señorita Pepita selber, sie zaubert plötzlich einen Blechteller hervor, wie sie aber die kleine Holztreppe hinabsteigt, da zaubert auch ein Teil der Zuschauer und verschwindet spurlos.

Marianne hält stand, und wie der blecherne Teller herankommt, läßt Marianne ein Fünfschillingstück daraufklappern. Die plötzliche Erstarrung der jungen Dame aus Kuba benützt Marianne, um Haberdietzl mit sich fortzuziehen.

»Fünf Schillinge ... Sie haben fünf Schillinge gegeben!« sagt Haberdietzl fassungslos. Es gilt vielleicht, ein Versehen richtigzustellen.

»Nun ja ... es ist so etwas wie ein Lösegeld.«

»Lösegeld?« verwundert sich Haberdietzl weiter.

»Ein Lösegeld von meiner Vergangenheit. Von einem Stück meiner Vergangenheit. Das ist eine Laufbahn ... also nämlich diese Dame im Würfel, das achte Weltwunder, das ist eine Laufbahn, die ich selbst hätte einschlagen sollen.«

Und dann erzählt Marianne von der verlockenden Anzeige, in der ein schlankes, junges Mädchen von gefälligem Äußeren zu künstlerischen Darbietungen gesucht wurde.

Othmar Haberdietzl findet die Geschichte aber gar nicht so spaßhaft, wie sie Marianne gerne hingestellt hätte. Die angeblich spaßhafte Geschichte ist in Wirklichkeit sehr ernst und nachdenksam, denn sie gibt ihm einen Einblick in das, was hinter Marianne liegt, nicht in alles, aber doch in einen Teil ihres Weges.

Und nun sagt Marianne etwas sehr Unvorsichtiges. Sie sagt: »Es wäre gut, wenn man sich durch ein solches Lösegeld auch von anderen Stücken seiner Vergangenheit frei machen könnte.«

Haberdietzl erschrickt, er erschrickt so sehr, daß er mit aussetzendem Herzschlag stehenbleibt. So verhält es sich also, mit Mariannes Vergangenheit? Lösegeld!? Nun ja, irgendeine Art von Lösegeld müßte es doch wohl geben.

Sie wenden ihren Weg zurück, sie gehen wieder über die große Brücke, die für Krems und Umgebung auch ein Weltwunder ist, und dann steigen sie die steilen Gäßchen hinan, die zur Burgruine über dem Städtchen Stein führen. Es ist ein Wirrwarr von alten Gäßchen, und Haberdietzl weiß da einen Heurigenschank, der einiges für sich hat. Die Leute sagen wohl auch dem Wein, den man dort bekommt, allerhand Gutes nach; es wird in Krems viel über Wein gesprochen, und man kann nicht umhin, da und dort ein Stück Weinwissenschaft aufzunehmen. Es fliegt einem im Vorbeigehen an und bleibt hängen. Aber es ist nicht so ein Stück angeflogene Weinwissenschaft, das Haberdietzl gerade in diesen Heurigenschank führt. Vom Wein versteht Haberdietzl nicht allzuviel, und er kann kaum einen Riesling von einem Veltliner unterscheiden.

Wenn er jetzt mit Marianne die alten Gäßchen hinaufsteigt, so ist es darum, weil die kleine Wirtschaft so wunderhübsch unter den zerbröckelnden Mauern der alten Burg liegt und weil man von dem Gärtchen davor auf viele windschiefe, moosgrüne Schindeldächer sieht und auf die stählerne Donauschlange, den Nibelungenstrom und das Stift Göttweig, mit hundert rotglühenden Fenstern, drüben auf seinem Berg. Im Westen ist ein ganzer Farbenkasten über den Himmel ausgeschüttet, und die Sonne tut all das ihre dazu, um den Abend so scheckig als möglich zu machen.

Den gelinden Abend mit seinem sommerlichen Nachgeschmack muß man ausnützen, vielleicht ist es der letzte seiner Art vor Herbstregen und Windwichtigtuerei im Donautal. Die Wettermeldungen im Rundfunk lassen so etwas vermuten.

Außer Marianne und Haberdietzl sitzen noch etliche Bürgersleute in der lauen Abendluft. Sie haben die neuen Gäste anfangs neugierig gemustert, dann setzen sie ihr Gespräch fort, wovon sprechen sie? Vielleicht auch etwas von Politik, wahrscheinlich aber weit mehr vom Wein, das ist ungefährlicher.

Einen ganzen Liter Wein hat Haberdietzl bestellt, ein gewaltiges Unterfangen für einen Mann von seiner Weinfremdheit. Goldgrün leuchtet der Wein in der bauchigen Glasflasche; nur auf der Westseite hat die Flasche einen rötlichen Stich, wo sie sich etwas von der Himmelsbeleuchtung eingefangen hat. Haberdietzl gießt in die kleinen Gläschen ein und trinkt zwei rasch hintereinander aus. Ja, und dann ist Haberdietzl soweit.

»Prosit!« sagt er und läßt seinen Glasrand gegen den Mariannes klingen.

»Prosit!« nickt Marianne zurück und macht einen Versuch zu lächeln.

»Sehen Sie ... ich wundere mich selber darüber, daß ich hier sitze und mit Ihnen anstoßen kann.«

»War es so schlimm?« fragt Marianne teilnehmend.

»Arg genug! Sie wissen doch, wie mir das Wetter mitgespielt hat. Und wie dann mein Geld zu Ende gegangen ist, da habe ich gemeint, ich müsse es zwingen ...«

»Solche Sachen lassen sich nicht erzwingen«, meint Marianne.

»Gewiß! Aber nun war ich doch einmal da und war mit meinem Geld beinahe fertig. Nun ... den ersten einigermaßen annehmbaren Tag habe ich benützt ... und habe es versucht.«

»Man sollte Sie an die Leine legen«, sagt Marianne, »damit Sie keine Dummheiten machen.«

Eine ausgesprochene Dummheit, vielleicht. Es ist ja auch danach ausgefallen, Haberdietzl trinkt ein Glas Wein rasch hinunter, es wird schwer, den Fehlschlag zu bekennen. Zuerst also ging es ganz gut, ein paar Kilometer hinaus in die See ... aber dann schlug das Wetter wieder um und wurde ganz grob gegen Haberdietzl. Zum Glück kann er schwimmen wie eine Wasserratte ... und dann ist der Fischkutter zur rechten Zeit dagewesen.

»Ein Fischkutter?«

Ein Fischkutter kommt daher, sieht einen Menschen in den Wogen und nimmt ihn auf. Gerade zur rechten Zeit ... so ist es gewesen. Und damit Schluß für heuer. Aber auch Haberdietzl ist nicht der Mann, der locker läßt, er gibt nicht nach. Jetzt beginnt er mit dem Sparen von vorne, und im nächsten Sommer geht er's wieder an.

»Ja!« sagt Marianne, und es scheint, daß sie irgendwie abgelenkt ist.

»Ihnen muß ich noch danken, Fräulein Marianne«, fährt Haberdietzl fort. »Sie haben mir da einen so guten Brief geschrieben. Ich war gerade recht ... offen gestanden, recht verzweifelt. Über das Wetter und so ... ich dachte, wenn nun diese verdammten Wasserskier nicht wären, so hätte ich mein Geld ebensogut ... oder besser ... dazu verwenden können, um Ihre Ferienreise mitzumachen ... bis nach Arbe, wo ja auch immer gutes Wetter war. Es hätte ja nicht gerade der Kanal sein müssen.«

Haberdietzl trinkt ein Glas Wein und setzt hinzu: »Vorausgesetzt, daß Sie mich mitgenommen hätten ...« Und dann kommt er sich gleich wieder ganz verworfen und zudringlich vor und sucht ängstlich Mariannes Blick. »Mein Gott, was ist Ihnen, Fräulein Marianne?« fragt er bestürzt.

Ja, mit Marianne begibt sich etwas ganz Merkwürdiges und Erschütterndes. Mariannes Augen sind weit offen, und aus ihnen kommen ganz still und langsam Tränen, eine hinter der andern, rinnen unaufhaltsam über die Wangen, und das erschüttert Haberdietzl so, daß er nicht weiß, was er tut. »Was ist Ihnen, Marianne?« fragt er und faßt ihre Hand.

Sie weiß selbst nicht, was mit ihr geschieht, sie weiß wohl nicht einmal, daß sie weint. Es ist vielleicht gerade jetzt der Augenblick gekommen, in dem sich eine erstarrte Bitterkeit in ihr löst. Ist es der Wein, der ihr dazu hilft, oder die Geschichte von dem Fischkutter und die Art, wie Haberdietzl seine Fehlschläge erträgt, oder einfach das Sterben dieses Tages, das Verblassen der Himmelsfarben und daß nun das helle Donautal grau und fahl wird?

Der Wein hat wohl ganz verschiedene Wirkungen, in jedem Menschen benimmt sich der Wein anders. Auf Haberdietzl wirkt er im Augenblick so, daß er hellsichtig wird und überwach. Wie hat Marianne unten auf dem Rummelplatz in Mautern gesagt? Hat sie nicht von einem Lösegeld gesprochen ... einem Lösegeld von einem Stück Vergangenheit? Vielleicht sind auch diese Tränen eine Art Lösegeld ... von einem anderen Stück Vergangenheit? Eine Ahnung wird Haberdietzl zur Gewißheit, und das macht ihn zu einem anderen Menschen, einem tollkühnen, verwegenen, wilden Draufgänger.

»Sie haben mich damals nicht sprechen lassen ... am Weihnachtsabend, erinnern Sie sich ...?«

»Nein«, sagt Marianne und schüttelt heftig den Kopf, »sagen Sie nichts!«

Diesmal aber ist Haberdietzl ein anderer Mensch. »Ich muß sprechen ... ich weiß ja, daß ich nichts bin ... ein kleiner Lehrer ... mit einem Radel zuviel, sehr komisch für manche Leute ...«

»Sie sind ein guter und reiner Mensch«, sagt Marianne leise.

»Ach was ... wissen Sie es denn nicht? Haben Sie wirklich noch nichts davon gespürt ... was ist denn das alles, Welt und Gott und Vergangenheit und Zukunft, alles in einem? ... Das sind ja doch nur Sie.«

»Sie sind ein guter und reiner Mensch«, wiederholt Marianne traurig, »und ich ... bin durch fremde Hände gegangen, was kann ich Ihnen geben?«

»Alles!« sagt Haberdietzl kurz und bündig.

»Ich bin durch viele fremde Hände gegangen«, sagt Marianne und sendet einen leeren Blick an Haberdietzl vorbei in die Ferne.

»Jetzt lügen Sie«, schreit Haberdietzl wutentflammt, »das ist eine niederträchtige Verleumdung. Gott verzeihe sie Ihnen ... das eine, nun ja ... sehen Sie, das habe ich mir ja denken müssen. – Wenn zwei Menschen ein so großes Erlebnis miteinander haben wie Sie beide ... und es kommt sozusagen der Rausch des Sieges über sie ... dann ist es doch nahezu unvermeidlich ... im Rausch, nicht wahr? ... Sogar das Gesetz spricht in solchen Fällen von mildernden Umständen ...«

Was ist denn mit diesem Haberdietzl los? Soll das etwa ein Versuch zu scherzen sein, will Haberdietzl vielleicht mit einem kühnen Luftsprung über sich selbst hinwegspringen? Marianne kann sich nicht genug wundern. »Sie sprechen sehr vernünftig ... und – nachsichtig ...«, sagt sie bitter.

Aber in Haberdietzl ist der Teufel gefahren: »Ich bin gar nicht vernünftig und nachsichtig«, schreit er, »aber ich dulde nicht, daß Sie sich selbst schlecht machen.«

Die Bürger am Nebentisch werden aufmerksam. Sie stecken die Köpfe zusammen, tuscheln miteinander und grinsen. Was geht da vor? Ein Liebespaar, das sich zankt. Bitte, nur weiter, wir spitzen die Ohren!

»Wir gehen jetzt«, sagt Marianne, »es ist Zeit.«

Haberdietzl hat nichts dagegen einzuwenden. Gehen wir! Es wäre unter anderen Umständen keineswegs ausgeschlossen, daß Haberdietzl in den engen, schlecht beleuchteten Gäßchen beim Abstieg auf dem holprigen Pflaster Marianne die Hand bietet. Aber nein, heute denkt er nicht daran. Oder vielleicht denkt er daran und sagt sich, es ist lächerlich, einer Dame, die durch den Erstdurchstieg der Totenhorn-Südwand berühmt geworden ist, wegen holpriger Katzenköpfe und schlechter Beleuchtung die Hand zu bieten.

Sie sprechen auf dem Heimweg kein Wort miteinander, Marianne wartet, bis Haberdietzl anfängt. Aber Haberdietzl fängt nicht an, er hält es aus. Bockbeinig und starrköpfig geht er neben Marianne her, ein vollkommen ausgewechselter Haberdietzl. Er schiebt den Hut aus der Stirn und pfeift sogar vor sich hin. Es zeigt von gar keiner guten Erziehung, neben einer Dame einherzumarschieren, kein Wort zu sprechen und fürchterlich falsch zu pfeifen. Haberdietzl schert sich um keine gute und keine schlechte Erziehung, er ist beleidigt worden, er schweigt verbissen, er pfeift justament, Himmelherrgott!

Erst vor Mariannes Haustor tut er den Mund auf: »Gute Nacht!« sagt er, nichts weiter.

Marianne schaut ihm nach, wie er die Straße hinabwandert, den Hut im Nacken und ein verbrecherisch falsches Gepfeife auf den gespitzten Lippen. –

Es ist weise vom Herrgott eingerichtet, daß zwischen heute und morgen die Nacht eingeschaltet ist, ein paar dunkle Stunden, in denen der Mensch mit sich selbst beraten und ins reine kommen kann. Es gibt viele Sachen, deren Gesicht so eine Nacht zwischen heute und morgen vollkommen verändert.

Auch Haberdietzls Gesicht ist vollkommen verändert, das sieht Marianne sofort, als sie am Morgen vor die Haustür tritt. Da steht er an die Wand gedrückt, kleinlaut und katzenjämmerlich mit einem grauen und verfallenen Gesicht. Diese Nacht hat Furchen und Falten in seine Mienen gegraben. Nichts mehr von Hut-im-Nacken und gespitzten Lippen.

Marianne sieht Haberdietzl an, und dieser eine Blick genügt, um sie mit einem ganz sonderbaren, beglückenden Gefühl zu erfüllen, einem unendlichen Gerührtsein und etwas wie Vorfrühlingssonne über erstarrten Fluren. Vielleicht ist auch für Marianne diese Nacht nicht lauter Schlaf gewesen, diese dunklen Stunden haben vielleicht eine Art Bereitschaft in ihr erweckt.

»Ich muß Sie um Verzeihung bitten«, sagt Haberdietzl dumpf und demütig, »ich habe mich benommen wie ein ... Lümmel ... ja, bitte, finden Sie ein anderes Wort dafür ...?

»Dickschädel!« sagt Marianne, »Kindskopf!«

»Sie dürfen nicht vergessen ... aber das wissen Sie ja wohl selbst, wie das mit mir die ganze Zeit über gewesen ist. Seit der Jahnhütte ... ja, nun ist es doch entschieden, ich werde Sie nicht mehr mit einer Frage belästigen ...«

»Schade!« sagt Marianne und blinzelt mit den Augen, die von einem herbstlich schrägen Strahl der Sonne getroffen werden.

»Was – schade? Ich bitte Sie nur darum, daß Sie mir die Freundschaft nicht aufkündigen. Es soll von nichts anderem mehr die Rede sein.«

»Ich verstehe. Sie ziehen sich auf die Freundschaft zurück, da Sie wissen ...«

»Das hab' ich doch schon immer gewußt. Aber Sie waren ja frei, Sie konnten tun, was Sie wollten ...«

»Schade!« wiederholt Marianne, »daß Sie nun nicht mehr fragen wollen ... wenn es nicht das ist, das Sie daran hindert ...«

»Marianne!« sagt Haberdietzl und bleibt mit einem Ruck stehen. Zwischen dem langsam aufsteigenden Gewölk ist plötzlich der siebente Himmel sichtbar geworden, und der Gesang der himmlischen Heerscharen mit Posaunenschall und Ewigkeitsharfenbegleitung dringt geradeswegs in Haberdietzls Herz.

»Marianne!« keucht er, »und wenn ich nun doch frage?«

Marianne schaut nicht auf, der schräge Sonnenstrahl, der nun wieder durch das Wolkengeschiebe fällt, beirrt wohl ihr Auge. »Ja!« sagt sie.

Der Weg von der Anastasius-Grün-Gasse in die Giselaschule ist nicht lang, und er genügt wohl nicht für alles, aber doch für das Wichtigste, was nun folgt, soweit es sich eben auf der Straße sagen läßt.


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