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Das Jahr aber schreitet weiter von einem großen Fest zum andern, und wenn einmal Neujahr und Dreikönig vorüber sind, so geht es rüstig auf Ostern zu, und eine neue Hoffnung nistet sich ein und wird gehegt und behütet und bemächtigt sich der Seele und welkt dahin und wird eine dürre Enttäuschung.
Ja, Saliger hat unglaublich viel zu tun, man merkt es daran, daß seine Briefe immer kürzer und seltener werden. Und nun steht schon bald Pfingsten vor der Tür, die ganze Wachau ist ein Blütengarten, die Donau rauscht zwischen weißen Gewinden dahin, und die Weinbauern sagen: Der Wein hat gut angesetzt, jetzt sollen nur keine Nachtfröste mehr Schaden machen.
»Komm!« schreibt Marianne nach Leoben.
»Diesmal wird es vielleicht möglich sein«, antwortet Saliger, obzwar er noch mehr Arbeit hat als sonst, furchtbar viel Arbeit. Und dann kommt überhaupt kein Brief mehr, es scheint, daß Saliger von der Arbeit verschlungen worden ist.
Pfingsten geht vorbei, Tage in Blau und Gold, die ganze Wachau wimmelt von Wienern, ein Gesangverein macht auf einem geschmückten Schiff einen Massenausflug nach Aggsbach, und Haberdietzl fährt auf seinen Wasserskiern am Pfingstmontag donauabwärts. Am Abend kommt eine Drahtnachricht an Marianne: »Glücklich gelandet.« Offenbar hat er diesmal auf den Fahrplan der Donau-Dampfschiffahrtsgesellschaft besser Bedacht genommen, oder er hat es mit der Wendigkeit heraus.
Marianne hat einsame Wanderungen unternommen, den Strömen fröhlicher Menschen ist sie ausgewichen, mit dem dürren Kräutlein Enttäuschung im Herzen, paßt sie nicht in die bunte Frühlingswelt.
Soll sie überhaupt noch einmal schreiben? Was für eine Art Brief könnte ihrem verwundeten Gemüt entspringen? Wäre es nicht am besten, dieses armselige Rinnsal im Sand versickern zu lassen? fragt sich Marianne manchmal. Aber dann kommen wieder Stunden, wo, wie in einem Krater, das heiße Magma ihres Innern emporquillt, Empörung, an der sie beinahe erstickt. Nein, sie ist kein erloschener Vulkan, es ist ihr nicht gegeben, demütig zu verzichten. Stolz bäumt sich auf, das Erlebnis ihres Blutes peitscht leidenschaftliches Verlangen hoch. Ach, es sieht in solchen Stunden in Marianne recht wüst aus.
Und dann kommt doch wieder ein Brief von Saliger. Also ist er noch nicht ganz von der Arbeit aufgefressen worden, er kann noch Lebenszeichen von sich geben. Aber es sind schwache Lebenszeichen, ein lahmer und schwachmütiger Brief, dem man anmerkt, daß nur das schlechte Gewissen die Feder geführt hat. Ja, leider habe es auch zu Pfingsten nicht klappen wollen, die üblichen Ausreden. Kein Wort von Sommer und von Urlaubsplänen.
Marianne bezwingt sich, ihr Brief gleitet in gleichmäßiger Freundlichkeit dahin, kein unbotmäßiges Gefühl springt aus der Reihe, sie erhebt keinen Vorwurf, auch sie macht keinen Vorschlag für den Sommer. Nun ist es ja an Saliger, zu sagen, was dieser Sommer bringen soll.
Vielleicht ist es Saliger sehr willkommen gewesen, einen solchen gemäßigten Brief zu bekommen, vielleicht war es eben das, was er von Marianne erwartet hat, vielleicht meint auch er, es sei am besten, das armselige Rinnsal im Sand versickern zu lassen! Er scheint es nicht für nötig zu halten, auf Mariannes Brief noch eine Antwort zu geben. Muß man mit einem Krach auseinandergehen? Hat Marianne etwa gemeint, sie seien unlösbar verkettet? Mit solchen Verkettungen ist es wie mit dem Saliger-Knoten: man glaubt, er könne niemals aufgehen, aber siehe da, ein Ruck, und der Knoten löst sich. Saliger ist ganz der Mann dazu, eine schwierige Lage durch einen solchen Ruck zu enden. Aber er ist unter Umständen auch für einen minder gewaltsamen Ausgang, für den Strohtod eines sanften Entschlafen. Aus Mariannes Brief glaubt er das Einverständnis damit lesen zu können. Vielleicht hat sich in dem neuen Wirkungskreis und in dem sonstigen Neuen, in das Saliger eingetreten ist, seine Erinnerung so schattenhaft verdünnt, daß er so etwas für möglich hält?
Es kommt also keine Antwort mehr auf Mariannes Brief. Es breitet sich Schweigen über die Wochen bis zum Schulschluß.
Und nun ist der Schulschluß da, der Lehrkörper versammelt sich zum letztenmal, die Zeugnisse werden ausgeteilt, und die Giselaschule marschiert zum letzten Gottesdienst. Und nun dehnt sich die Herrlichkeit der Ferien vor Lehrern und Schülern. Zum letztenmal geht Haberdietzl neben Marianne in die Anastasius-Grün-Gasse.
»Ich werde wahrscheinlich in die Heimat fahren, nach Nordmähren«, beantwortet Marianne Haberdietzls Frage. »Es lebt dort noch meine Tante Mali ... sie hat mich immer schon eingeladen. Und Sie?«
Sie haben miteinander über ihre Absichten nicht gesprochen, seit Weihnachten ist Haberdietzl wieder sehr scheu geworden. Jetzt aber ist der Augenblick gekommen, wo er gewaltig Luft in die Lungen pumpen kann und anschwillt wie ein Ballon. »Ich ... nun, ich werde meine Erfindung auf die entscheidende Probe stellen ...« Er hat sich ja alle Mühe gegeben, es so nebenbei und alltäglich wie nur möglich zu sagen. Aber er hatte zuviel Luft in den Lungen, es ist ganz gewaltig und großartig ausgefallen.
»Über den Kanal also?« fragt Marianne.
»Ja ... über den Kanal!«
»Da haben Sie also auf Ihr Los gewonnen?« Von dem Los ist nicht mehr die Rede gewesen, von jenem Los mit der magischen Glückszahl, Marianne entsinnt sich erst jetzt dieses hoffnungsvollen Zahlengeheimnisses. Es war nicht nett von ihr, sich nicht früher erkundigt zu haben.
Haberdietzl schrumpft ein wenig ein: »Nein, gewonnen ... habe ich auf mein Los nicht. Zwei Zahlen haben ja gestimmt ... fünfundsechzig, Ihr Geburtstag, aber dann ist es ganz anders gekommen ...«
»Das ist freilich nicht genug, wenn nur zwei Zahlen stimmen ... und nun fahren Sie doch?« – »Ich habe nebenher gespart«, sagt Haberdietzl verschämt, »auf alle Fälle ... wenn mein Los nicht gewinnt.«
»Vielleicht ist dies das richtige«, meint Marianne nachdenklich, »sich nicht auf das große Los zu verlassen ... sondern noch nebenbei zu sparen ... Nun, meine besten Wünsche sind bei Ihnen, das wissen Sie!«
Dann fährt jeder seinen eigenen Weg, Haberdietzl schlägt die Richtung Paris ein, und Marianne müßte eigentlich die Richtung zur tschechischen Grenze einschlagen. Aber sie scheint es mit der Tante in Nordmähren nicht sehr eilig zu haben, es liegt ihr offenbar nichts an einem gewaltigen Umweg. Der Zug, den sie besteigt, schnauft einer ganz anderen Himmelsgegend zu, er räuspert und spuckt nach Süden, gegen St. Pölten und immer weiter in die Berge hinein, und es ist der Bahnhof von Leoben, auf dem Marianne schließlich aussteigt.
Es ist Sonntag, der Bahnhof ist mit Fahnen und Reisig geschmückt, Fahnen und Reisig machen die Straßen bunt und lustig, die ganze Stadt ist voll Musik, fern und nah, es muß eine ganze Menge von Musikkapellen durch die Stadt ziehen.
Ein Kameradschaftstreffen bedeutete das Fahnengewedel und Musikgetön und Menschengewoge, wird Marianne in dem Gasthof gesagt, in dem sie absteigt. Der Gasthof liegt am Hauptplatz, einen Schanigarten vorn, einen richtigen Garten mit Schattenbäumen hinten. Der Festwirbel brandet aus den Straßen in den Schanigarten, in die Gastzimmer, in den Schattengarten bis hinten zum Zaun, an den ein anderer Wirtshausgarten anstößt, mit ebensoviel Wirbel.
Der Wirt hat keine Zeit, die Kellnerinnen haben keine Zeit, die Zimmermädchen haben keine Zeit, und in der Küche hat man keine Zeit. Alles schießt durcheinander, mit Bierkrügen, mit Stößen von Tellern, mit Geschrei und Hallo! »Bitte sehr, sofort«, sagt die rothaarige Kellnerin und rast davon. Marianne kriegt einen Puff in den Rücken, »Achtung, Soß!« schreit der Oberkellner, der sich mit einem Turm von Tellern durchdrängt, von deren Rändern der Bratensaft tropft.
Der einzige ruhende Pol ist der Schankbursch. Er steht in vollkommenem Gleichmut hinter der blechernen Schanze des Schanktisches und dreht den Hahn an den Fässern auf und zu. Ein Regiment Bierkrüge steht vor ihm, jeder mit einer weißen Haube, und der Schankbursche gießt nach, bis sie ihr richtiges Maß haben. Abwarten bis der Faam steigt, das ist auch eine Art Lebensweisheit, es muß alles seine Zeit haben.
Er ist es, der Marianne Auskunft gibt: »Jo ... dö Kameraden aus'm Weltkrieg kemma do z'samm«, sagt er, »dö von drent und dö von herent. Schulter an Schulter hot's damals g'haßen. Is jetzt a weng onders g'worn, oba z'sammkomma derfen 's do noch ...«
Während er die Pipe auf- und zudreht, forscht er aufmerksam in Mariannes Gesicht. Er braucht seiner Hantierung gar nicht zuzusehen, er hat es im Gefühl, wenn das Glas so weit voll ist, daß man es auf den Schanktisch setzen und weiterbehandeln kann, weiß Gott, was er in Mariannes Gesicht gefunden haben mag, daß er plötzlich vergnügt zu schmunzeln beginnt und Marianne geradezu vertraulich zublinzelt.
»Möchten S' leicht bei uns a Zimmer ham?« fragt er über seine Bierschanze weg.
»Ja, aber es hört mich ja niemand an.«
»Dö sein heut da olle aus'm Häusl«, nickt der Schankbursche, und dann fängt er eine Kellnerin, die eben eine Lawine leerer Gläser auf den Schanktisch niederdonnern läßt, beim vollen bloßen Arm: »Hörst, Kathei ... jetzt gehst mit dera Dame do und zeigst ihr a Kammer ...«
»I woaß net ...«, Kathi ist eigentlich Zimmermädchen und schleppt heute nur aushilfsweise Biergläser.
»Wos woaßt net? ... Für dö Dame muaß a Zimmer do sein, vastand'n!«
Der Schankbursche muß eine Art Befehlsgewalt über die bedienende Weiblichkeit ausüben, denn die Kathi gehorcht ohne weiteres Zögern. Sie durchbricht die Menge der Gäste und fegt Marianne voran die dunkle, eng gewundene Holztreppe hinan ins erste Stockwerk.
»Wollen S' a Zimmer nach vorn?« fragt die Kathi schnaufend, »weng an Festzug?«
»Ja«, sagt Marianne, um das Verfahren abzukürzen.
»Zimmer nach vorn hammer holt kans mehr«, bedauert das Mädchen und schließt die Tür zu einem Hinterzimmer auf: »Is recht?«
Marianne ist auch das Hinterzimmer recht, darauf kommt es wahrhaftig nicht an, ob die Fenster nach vorne oder nach hinten gehen. Vor ihren Fenstern liegt der Hof, unter dem Dach des Schuppens stehen zwei mit Birkenlaub bekränzte Leiterwagen und ein Auto, der Hofhund läßt sich vor seiner Hütte die Sonne auf den Pelz scheinen, ein Volk Hühner scharrt um ihn herum, und der Frieden des Hofes wird gegen den Festwirbel der Gasse durch die Feuermauer des Nachbarhauses abgeschlossen.
Marianne steht am Fenster und legt sich ihren Kriegsplan zurecht. Das hat sie nicht günstig getroffen, daß heute hier ein Fest stattfindet. Es ist anzunehmen, daß Saliger mit den anderen Werksbeamten in irgendeiner Weise daran beteiligt sein wird. Im Krieg ist er ja nicht gewesen, aber das Treffen der Kriegskameraden ist ja auch wohl nur ein Vorwand für allerhand anderes. Sie wird also bis morgen warten müssen, um Saligers habhaft zu werden.
Sie ist so in ihre Gedanken versunken, daß sie das erste schüchterne Klopfen überhört, sie hört erst das zweite, stärkere Klopfen.
Es ist das Mädchen Kathi, das in der Tür steht. »I bitt' schön, der Herr hat g'sagt, Sö soll'n nur zu eam rüberkomma und mit eam aus'm Fenster schaun, wann S' 'n Festzug sehn wölln.«
Das gutmütige Geschöpf – es hat ihm leid getan, daß Marianne nun nichts vom Festzug zu sehen kriegen soll, wo sie doch selbstverständlich des Festes wegen gekommen ist. Soll nun Marianne den guten Willen kränken? Sie schwankt, da taucht der Herr hinter der Kathi auf, der gastfreie Fensterbesitzer.
»Daß nun gerade Sie es sind, Fräulein Mack, der ich mein Fenster anbieten darf«, sagt der Doktor Klimsch.
»Es scheint, wir müssen uns immer bei Festen treffen«, faßt sich Marianne rasch, »ist es auch diesmal wieder Ihre Schlaraffia?«
»Nein, diesmal bin ich in Geschäften hier, das Fest ist nur eine Einlage ... eine Unterbrechung.« Und dann reißt Doktor Klimsch vor Marianne die Tür seines Zimmers sperrangelweit auf; wie vor einer königlichen Hoheit: »Kommen Sie, man hört schon die Musik.«
Ja, von Doktor Klimschs Fenster übersieht man freilich den ganzen Marktplatz, das Menschengewoge unten und die Gasse, die für den Festzug frei gehalten wird. Feuerwehrleute sind die lebendigen Pfosten der Schranken, und ein Strick läuft von einem zum andern.
»Ich bin schon einige Tage hier«, erzählt Doktor Klimsch, »ich habe hier Verhandlungen. Und Sie sind wohl auf einer Ferienreise?«
»Ja«, sagt Marianne und beugt sich zum Fenster hinaus, denn da biegt schon die Spitze des Festzuges auf den Marktplatz ein. Herolde zu Pferd, reitende Paukenschläger, und die Musik voran. Es ist ein prachtvoller Festzug, Turner und Turnerinnen, Trachtengruppen und vor allem die vielen Kameradschaftsverbände im gleichen Schritt und Tritt, das zieht alles unten durch die Menschengasse vorbei. Dann kommen die Festwagen, eine Kette von Autos, lauter bedeutende Männer, jeder mit einer Ehrendame neben sich, Vereinsobmänner, Gemeinderäte, Bürgermeister der Landgemeinden, soweit sie sich eben zu solchen Festzügen zu bekennen wagen, dann einige Werksdirektoren, und dann die Beamtenschaft ...
Doktor Klimsch kann Marianne da einige Namen nennen, gewaltige Namen von Industriegeneralen und Feldherren der Wirtschaft. »Sehen Sie«, deutet er hinab, »da kommt auch Ihr Freund Saliger ... mit dem ich Sie damals in Salzburg getroffen habe.«
In einem wunderbaren neuen hellroten Mercedes-Benz sitzt Saliger, und neben ihm seine Ehrendame Valerie. Sie scheinen viele Bekannte unter den Zuschauern zu haben. Rufe fliegen ihnen zu, sie lächeln und grüßen ununterbrochen nach links und rechts.
»Dieser Saliger!« sagt Doktor Klimsch, »ich habe es ja bei meinen Verhandlungen hauptsächlich mit ihm zu tun. Es geht da um einen Zusammenschluß ... das Unternehmen, bei dem ich Syndikus bin, hat mich mit den Vorbereitungen beauftragt. Und dieser Saliger ist mein Verhandlungsgegner. Er hat sich prächtig eingearbeitet. So jung er ist ... ich muß sagen, ein ganz gerissener Kerl ... Sagten Sie etwas?«
»Ich meine ... wenn dieser Saliger etwas anpackt, dann geht er aufs Ganze ...«
»Er hat sich ja hier herrlich in die Wolle gesetzt ... den allmächtigen Direktor Roleder hat er als Gönner ... Sie verstehen ... die junge Dame neben ihm, das ist Roleders Nichte ... es heißt, daß er sie in den nächsten Wochen heiraten wird ... Ist Ihnen etwas?«
Marianne hat nach einem Stuhl gegriffen und ihn zum Fenster gezogen. »Ach nein«, lächelt Marianne, indem sie sich setzt, »ich bin nur etwas müde; ich bin die ganze Nacht hindurch gefahren.«
»Auf die Dauer wirkt ja auch ein solcher Festzug eintönig und einschläfernd«, meint Doktor Klimsch, »nun kommt die zweite Musikkapelle und dahinter wieder Kriegskameraden. Ich denke, wir haben genug ... Gestatten Sie, daß ich etwas veranlasse, ehe der große Ansturm beginnt, wir speisen doch miteinander?«
Marianne nickt, und Doktor Klimsch veranlaßt. Es gelingt, im Garten unter einem Dach von wildem Wein ein kleines Tischchen zu erobern, und da speisen Doktor Klimsch und Marianne miteinander. Der Wirt hat einen südsteirischen Wein im Keller, aus einer Gegend, die heute den Slowenen gehört. Aber Slowenen hin, Slowenen her, es ist ein richtiger Festwein und beflügelt den Doktor Klimsch ganz ungemein.
Marianne muß erzählen, von der Schule und von Krems, sie tut es ein wenig müde und schleppend, mein Gott, wenn man eine ganze Nacht Bahnfahrt hinter sich hat!
Um so aufgeräumter ist Doktor Klimsch. Solche Verhandlungen sind das rechte Feld für seinen Geist, da spürt man erst, daß man lebt. Man steigt in eine Arena hinab, man kreuzt die Klingen mit einem gewandten Fechter, diesem gerissenen Himmelhund, dem Saliger. Und es geht um Millionenwerte, das ist keine Kleinigkeit. Das Leben rauscht mächtig daher.
Überhaupt hat das Leben jetzt ein ganz anderes Gesicht. »Wissen Sie«, sagt Doktor Klinisch mit funkelnden Augen, »daß ich mit meiner Frau in Scheidung stehe?«
Es ist ein gewaltiger Trumpf, und Klimsch hat auch eine entsprechende Wirkung erwartet. Aber die Wirkung bleibt aus. »Soo?« sagt Marianne und nichts weiter. Gar nichts von Genugtuung über eine späte Vergeltung für gewisse Dinge.
»Jawohl ... ich habe ja eine lange Geduld, aber es war nicht mehr auszuhalten ... wir gehen einverständlich auseinander ... Ich behalte Fred und meine Frau Margot ...«
Genug an Fred, denkt Marianne und lächelt müde. Sie sagt auch eine kleine Weile später: »Ist es verwerflich von mir, wenn ich Sie jetzt bitte, mich zu entschuldigen? Ich möchte mich auf meinem Zimmer ein wenig hinlegen.«
Verwerflich? Nicht im mindesten! Höchst verständlich, der Doktor Klimsch beeilt sich, zu versichern, daß er es vollkommen verständlich finde ... nach der nächtlichen Bahnfahrt. »Aber ganz sollten Sie die Festwiese nicht verschlafen. Es gibt nämlich nachmittags eine Festwiese mit allerhand Lustbarkeiten ... haben Sie nichts dafür übrig? O doch! ... Ich finde so einen Festwiesenrummel ungeheuer lustig ... wenn das Volk in seiner überschäumenden Vitalität so aus sich herausgeht ...«
Doktor Klimsch ist wie ausgewechselt, was für eine Umwälzung, daß er jetzt Geschmack an Festwiesen findet. »Und darf ich um ... sagen wir ... fünf an Ihre Tür klopfen? Wir könnten dann miteinander hingehen.«
Doktor Klimsch bekommt die Erlaubnis und klopft Punkt fünf an Mariannes Tür. Er klopft recht zart und zaghaft, dann kräftiger, und zuletzt trommelt er mit hartem Knöchel. Marianne muß einen sehr tiefen Schlaf haben, daß sie den Wirbel nicht hört. Doktor Klimsch versucht es mit der Türschnalle. Manche Leute wachen beim lautesten Klopfen nicht auf, aber sie fahren hoch, wenn man die Klinke niederdrückt und aufschnellen läßt. Doktor Klimsch drückt die Klinke nieder, die Tür geht auf, sie war unversperrt, und der Doktor blickt in ein leeres Zimmer.
Ja, Marianne hat es vorgezogen, die Festwiese ohne Begleitung aufzusuchen. Sie hat ihre eigenen Absichten dabei. Solche Festwiesen sind einander sehr ähnlich, sie sind allenthalben auf denselben Leisten geschlagen, und Marianne hat eine ungefähre Ahnung, wo die Leute zu finden sein werden, die sie sucht.
Zwischen Leoben und der Ortschaft Göß, woher das berühmte Bier stammt, dehnt sich die Festwiese am Murufer hin. Alles ist da, was zu einer Festwiese gehört: Schießbuden und Würstelmänner, Kletterbäume und Watschenaffen, an denen der lebfrische Steirerbua seine Kraft erproben kann.
Die gute alte Zeit mit biederen Guckkastenbildern reicht hier den neuzeitlichen Errungenschaften die Hand, den Leistungsprüfungen des Auges und der Muskeln, bei denen es darauf ankommt, ein schwingendes Pendel am richtigen Punkt aufzuhalten oder sonst blitzartig in Sekundenbruchteilen geistesgegenwärtig zu sein. Eine ganze Budenstadt ist da, viele Verkaufsstände mit Würsten und Bier und Lebkuchen und Wein. Jede Firma, jeder große Betrieb in Leoben und Umgebung hat einen solchen Verkaufsstand errichtet und mit Ware ausgestattet, deren Erlös dem Festsäckel zufließt. Natürlich hat auch die Steirische Erzhütte einen solchen Stand aufgetan, den größten von allen, und darinnen fließen allerhand Weinlein. Valerie waltet des Amtes mit einer Anzahl beigeordneter Helferinnen und einem männlichen Helfer, und der ist selbstverständlich Saliger.
Genau so hat es sich Marianne vorgestellt: Valerie und Saliger würden in irgendeiner Bude stehen; Valerie, eine lichte, heitere Wolke, mit Saliger als männlichen Schützer zur Seite, überaus geschäftig, überaus wichtig und vor aller Welt zusammengehörig. Die Leute sitzen an den Tischen vor der Bude, sie drängen sich vor dem Schankpult. Gelächter schwirrt auf, irgendein Spaßmacher ist in einem vergnügten Wortgefecht mit Valerie begriffen, und Saliger steht mit einer zufrieden-stolzen Besitzermiene daneben.
Das kann Marianne alles von ferne sehen. Niemand könnte sie hindern, heranzutreten und zu sagen: »Welchen Wein empfehlen Sie mir? Was für einen Rotwein haben Sie?« Das könnte Marianne ohne weiteres tun, niemand könnte es ihr verwehren, sich ein Glas Wein von Valerie oder Saliger einschenken zu lassen, und es wäre abzuwarten, was da geschähe. Aber Marianne unterdrückt das Gelüste, diese in sich beruhende Welt zu stören, sie verweilt nicht einmal lang, sie läßt sich von dem Strom, der durch die Budengasse drängt, fortschieben, sie wird mitgenommen und weiter draußen am Rand der Festwiese, wo der Strom versickert, als Treibholz abgesetzt.
Es ist für sie nichts weiter zu sehen, es genügt vollkommen, sie verläßt die Festwiese und geht durch die Arbeitersiedlung und zwischen Schrebergärten einem stillen Waldtal zu, so lange, bis auch der letzte schwache Hall vom Festplatz zwischen den Büschen hängengeblieben ist.
Ein Specht klopft. Er hackt mit dem harten, spitzen Schnabel gerade auf Mariannes Herz los. Kein Gedanke wandert zu Doktor Klimsch zurück, der jetzt auf der Suche nach Marianne durch die Menschenmenge der Festwiese rudert. Und jetzt erblickt er die Weinbude der Steirischen Erzhütte mit Valerie und Saliger als Befehlshaber darin und kämpft sich durch die Belagerungsarmee zum Schanktisch vor. »Haben Sie Marianne Mack gesehen?«
»Wie?« fragt Saliger heiser, »Marianne? Marianne Mack? Ist die hier?«
»Nun ja ... wir haben ausgemacht, daß wir zusammen auf die Festwiese gehen. Ich dachte, daß ich sie hier bei Ihnen finden würde.«
Saliger wirft einen Blick nach Valerie, sie steht drüben am andern Ende des Schanktisches und hat ein Geplänkel mit dem Forstadjunkten vom Fürsten Liechtenstein. »Nein«, sagt Saliger, »Marianne Mack war nicht hier.«
»Ach, bitte, wenn sie nun kommt, so sagen Sie ihr, sie möchte hierbleiben. Ich komme wieder.«
Und der ahnungslose Engel Klimsch kämpft sich weiter durch die Festwiese. Aber er hat kein Glück, und das, was er Marianne zu sagen gehabt hätte, über Archibald Douglas und gewisse Geldangelegenheiten, muß ungesagt bleiben.
Gegen Abend kommt Marianne hintenherum auf Umwegen in die Stadt zurück, die nun recht still geworden ist, da alles draußen auf der Festwiese wimmelt. Auch in Mariannes Gasthof ist es ruhig. Alle Kellner und Kellnerinnen sind jetzt im großen Bierzelt des »Goldenen Adlers« auf dem Festplatz beschäftigt.
»Ich möchte zahlen«, wendet sich Marianne an den Schankburschen, der nun untätig am Kühlschrank lehnt und eine Zigarette raucht.
»Wollen S' schon wieder furt?« fragt der Schorsch Tschurtschenthaller, der Schankbursche, »i hob denkt, Sö bleib'n über Nacht, Fräul'n Mack.«
»Sie kennen mich?«
»Freili wohl«, nickt der Tschurtschenthaller, »i wer Ihnen net kennen? Aber Sö kenna mi net?«
»Nein!« woher soll Marianne den Schankburschen im »Goldenen Adler« kennen? Komisch sind die Leute manchmal.
»Is aa a bissl viel verlangt, daß S' mi kenna soll'n«, gibt der Schorsch selber zu, »wie soll'n S' mi kenna, wo i dazumal 's G'sicht ganz schwarz ang'schmiert g'habt hab' wia i zu Ihnen auf d' Hütt'n kemma bin.« Und nun entsinnt Marianne sich; ja, diese etwas rauhe Stimme hat sie schon einmal gehört.
»Also Sie sind der schwarze Mann gewesen«, sagt Marianne mit einem mühsamen Lächeln. Ach, wie viele tausend Jahre liegt diese Begegnung zurück, und was hat sich alles seitdem zugetragen, Aufbau und Einsturz einer ganzen Welt.
»Ham S' Ihna damals g'fürcht, gelt?«
»Damals war ich noch sehr jung«, nickt Marianne.
»Und jetzn san S' a alte Frau, a ganz a alte. Ja! I freu mi, daß i Ihna noch amol Dankschön sagen kann. Sie ham mir damals g'holfen. Sakrisch hart san s' hinter mir her g'wesen, dazumal.«
»Warum?«
»No, so ... politisch halt. I bin überi, aber dann hab' i wieder z'ruckkemma miss'n ... mei Mutter is krank g'worn, und da hat's mi drüb'n net g'litten. I hab' z'ruckkemma müss'n. Und da ham s' mi halt g'schnappt, und i hob mei Zeit absitz'n müss'n. Ja! Hat mir weita nix g'schad't.« Er hat ein gutes, treuherziges Gesicht, der Schwerverbrecher, der schwarze Mann von damals. Und jetzt reicht er Marianne die Hand über den Schanktisch hinüber, eine Riesenpfote, eine von jenen Pfoten, für die man eigentlich einen Waffenpaß haben müßte. »Also dank' schön für damals!« Und dann fragt er: »Ham S' mit 'n Saliger g'sprochen?«
Schon wieder Saliger! Ist ganz Leoben in Bild und Ton von Saliger erfüllt?«
»Nein«, gibt Marianne scharf zurück, »warum fragen Sie?«
Oha, denkt der Tschurtschenthaller, mir scheint, da bin i in was 'neintreten! »No ja«, meint er vorsichtig, »weil er do a Ihriger guter Bekannter is ... der Saliger ... von der Totenhorn-Südwand her.«
»Ich habe ihn nicht gesprochen.«
»Er is jetzt unser bester Mann dahier«, sagt der Tschurtschenthaller eifrig, »a Patentbursch, der Saliger! Er hot's Zeug fest am Bändel ... und wia ... nur a bissl arg unvorsichti is er halt. Sö wer'n ihn schon aa amal schnapp'n.«
Das aber geht Marianne nichts an, gar nichts, was hat sie mit diesem Saliger zu schaffen, er ist alt genug, um zu wissen, was er tun darf und was nicht. »Kann ich vielleicht Ihnen zahlen?« fragt sie ungeduldig. Sie weiß einen gewissen Doktor Klimsch auf ihrer Spur und möchte noch beizeiten entkommen.
»I möcht an Ihnerer Stell do noch dableiben«, sagt der Tschurtschenthaller eindringlich, »heint am Abend wird ganz g'wiß no grafft wern.«
Das ist freilich eine überaus verlockende Aussicht, insbesondere für jemand, der für seine Hände eigentlich einen Waffenpaß braucht. Schorsch Tschurtschenthaller hofft sehr, daß er noch heute im Verlauf des Abends für sie Verwendung haben werde. Aber Marianne Mack hat es mit ihrer Abreise allzu eilig, als daß sie als Zeugin hierbleiben könnte, wie sich das Fest weiterhin historisch entwickelt.