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Ein kleiner Unfall

Mit Einbruch der Nacht kommen die Leute zurück, die sich in die Totenhorn-Südwand gewagt haben. Mit Hallo sind sie ausgezogen, aber beim Rückzug machen sie lange Gesichter und sind etwas herabgestimmt. Aus Latschenzweigen haben sie eine Art Tragsessel gemacht, und darauf sitzt einer, der nicht gehen kann. Es hat sich ein kleiner Unfall ereignet, kein haarsträubendes alpines Unglück, kein Absturz über eine Hunderterwand, aber immerhin etwas, um die Stimmung zu trüben.

Sie sind ja gar nicht weit gekommen, über die Geröllhalde haben sie sich hinaufgeschunden, und dann sind sie vor der glatten Wand gestanden.

»Das wird auch für den Franzl Saliger eine harte Nuß«, sagt der Bircher Schnacksele.

Die Nacht kriecht aus den Tälern, sie müssen umkehren. Aber dann tut einer einen Fehltritt und fährt mit dem Geröll ein Stück ab, und zwei Blöcke haben ihm den rechten Fuß so grob zwischen sich genommen, daß man gar nicht weiß, was da alles hin geworden ist. Der Pepi Lobgesang hat ihm einen Notverband gemacht, er ist da oben auch der Herr Medizinalrat, aber sein Gebiet war bisher nur der Fechtboden seiner Burschenschaft, wo er die Durchzieher und Außenquarten geflickt hat. Von Brüchen, Quetschungen und Zerrungen versteht er weit weniger.

Nun liegt der Verunglückte auf Zimmer drei, das ihm der Hüttenwart eingeräumt hat, und wird gründlich untersucht, und der Bircher Schnacksele hilft dabei, denn unter dem vielen, was er bisher angepackt hat, ist auch einmal die Medizin gewesen. Marianne wird herumgeschickt: um warmes Wasser, um Binden, um Brettchen zum Schienen, und muß zur Hand sein und hat gegen Übelkeiten zu kämpfen, denn der Fuß sieht eigentlich etwas gräßlich aus.

»Ich glaube, es ist nichts Schlimmes«, sagt Lobgesang endlich mit mildem Ernst, »es ist nichts gebrochen, eine Sehnenzerrung und Quetschungen, Bluterguß ... ein paar Tage Ruhe und kalte Umschläge ... dann können Sie wieder absteigen.«

»Machen Sie doch keine Umstände«, sagt der Verunglückte, »es ist mir schrecklich, daß Sie meinetwegen einen solchen Wirbel haben.« Er schaut Marianne unverwandt an, denn dies ist ihm vor allem peinlich, daß sich auch diese junge Dame um ihn bemühen soll, der deutlich anzumerken ist, daß sie bisher mit solchen Dingen nichts zu tun gehabt hat.

»Mein Lieber«, sagt der Bircher Schnacksele, »machen Sie sich nichts draus. Das gehört schon einmal dazu. Denn warum; wärst net aufigstiegn, wärst net abig'fallen, so ist es. Sie sind wohl zum erstenmal in den Bergen?«

Der junge Mann errötet und widerspricht heftig. O nein, er sei schon jahrelang Mitglied der Ortsgruppe Krems und habe schon viele Berge bestiegen, freilich ganz große Touren habe er noch nicht unternommen ...

»Na also, dann wissen S' wenigstens«, lächelt der Bircher Schnacksele gutmütig, »daß einem dabei allerhand passieren kann. Jetzt aber schön ruhig liegen, das Fräulein Marianne wird schon nach Ihnen schauen.«

Damit gehen die beiden ab, daß die ganze Hütte dröhnt, und der Marianne bleibt überlassen, ob sie jetzt den Verwundeten weiter hüten will. Sie rückt die Kerze auf dem Nachttisch in Griffnähe, die Zündholzschachtel dazu, sie füllt ein Glas mit Wasser an. »Brauchen Sie noch etwas?« fragt sie gemessen.

Ein kleiner Schmerzenslaut läßt sie zusammenfahren. Der Verunglückte hat sich die redlichste Mühe gegeben, sein Stöhnen zu unterdrücken, nun hat er eine unbedachte Bewegung gemacht, da quillt das Stöhnen wider Willen aus ihm heraus, wie beschämend, nun meint die junge Dame sicherlich, daß er wehleidig ist und keinen Schmerz ertragen kann.

Er zwingt ein Lächeln auf seine Lippen und streicht das fahlblonde lange Haar aus der Stirn.

»Nein, bitte, bemühen Sie sich nicht«, sagt er leise und macht demütige Hundeaugen.

Den jungen Mann hat Marianne im Getümmel des heutigen Tages bisher überhaupt nicht bemerkt. Er ist ihr, weiß Gott, nicht aufgefallen, er muß bescheiden und unbeachtet beiseitegestanden sein; sie kann sich nicht einmal erinnern, ihn gesehen zu haben, als sich alles vor der Kamera zur Gruppe zusammengedrängt hat. Und nun liegt er da mit einem scheußlich zerquetschten Knöchel, und Marianne kann den wildfremden Menschen pflegen. Sie weiß nicht, wie sie dazu kommt und ob das überhaupt zu ihren Pflichten gehört. Das hätte ihr jemand sagen sollen, als sie sich bereit erklärt hat, hier oben Wirtschafterin zu werden!

Ja, da liegt nun dieser fremde Mensch mit seinem fahlblonden Haar, das irgendwie an Island und die Edda erinnert, dort mögen die Leute solche Haare haben. Da liegt er und macht seine bittenden Hundeaugen.

»Bitte, bemühen Sie sich doch nicht«, wiederholt er, »gehen Sie doch zu den anderen!« Ist auch wahr, wer in aller Welt kann Marianne Mack zumuten, daß sie hier oben am Bett dieses jungen Mannes sitzenbleiben soll. Sie sich etwa hier oben als Krankenwärterin verdungen, ha? Gewiß nicht, das hätte sie unten ja auch und mit weitaus größeren Annehmlichkeiten haben können.

Sie läßt es sich also nicht noch einmal sagen und geht hinunter in den gemeinsamen Hüttenraum, in dem großer Betrieb ist. Herr Brodersen, der Dabeiseier aus Hannover, erzählt Witze, und immer, ehe die Spitze kommt, sagt er zu Magda Kaspar und den anderen anwesenden Frauenzimmern: »Jetzt müssen Sie weghorchen!« Der Bircher Schnacksele hat nach der Klampfen gegriffen, klimpert zwischenhinein ein Vorspiel, und als er findet, nun wäre der Bedarf an Herrn Brodersen gedeckt, legt er los, mit einem Lawinenbaß:

»'s gibt kein schöner Leben
als das Räuberleben ...«

Der Kümmerer hat die letzten Bierflaschen ausgegeben, jetzt halten sie beim Tiroler Roten, und einige haben eine Flasche Enzian umzingelt und setzen ihr hart zu. Dort führt Carlos Tips das Wort und läßt sich durch des Bircher Schnacksele Räuberlied nicht im mindesten stören. Er erzählt Geschichten aus Spanien, von Stierkämpfern und Zigeunerinnen, er ist von deutschen Eltern in Malaga in die spanische Welt gesetzt worden, daher der Name Carlos.

Eigentlich ist er also bloß ein Zufallsspanier, aber wenn man ihm zuhört, so meint man, seine Ahnen hätten unter dem Cid gegen die Mauren gekämpft.

Marianne nimmt Lobgesang beiseite: »wer ist denn der Mensch, der da oben liegt?«

»Ein Lehrer, glaub' ich ... ich weiß nicht, wie er heißt ... warten Sie, wir haben doch das Hüttenbuch.«

Sie schlagen das Hüttenbuch auf, da steht der Name, ganz unten an den Rand der zweiten Seite hingeklemmt, Othmar Haberdietzl. Das muß er sein, Herr Haberdietzl also.

»Er ist irgendwo in der Wachau daheim ... und arbeitet an einer Erfindung ... Wasserskier oder etwas dergleichen ... dabei hätte er bleiben sollen ... da kann man höchstens ersaufen, aber sich nicht die Knöchel demolieren ...«

»Ja, und nun denken Sie, ich soll da bei ihm Pflegerin spielen!« sagt Marianne wütend. »Wie komme ich dazu?«

»Ach«, meint Lobgesang verlegen, »es wird wohl nicht solange dauern. Sobald es einigermaßen geht, lasse ich ihn auch hinunterschaffen ...«

»Ich bitte darum«, schnappt Marianne ein und macht ihr allerhochmütigstes Gesicht. Die Stimmung steigt bedenklich an. Der Enzian haucht sein letztes Gläschen aus und wird durch einen Kranewitter ersetzt, und Carlos Tips erzählt von seinen Bergfahrten in der Sierra Nevada. »Den exotischen Reiz dieser Berge ... jawohl ... das ist etwas Eigenes ... der fehlt unseren Bergen hier ...« Der alte Gipfelstürmer Rotter, der in den Kordilleren und im Kaukasus gewesen ist, könnte dabei ja mitreden und Carlos Tips mit seiner Sierra Nevada glatt an die Wand drücken. Aber er schweigt, er ist so voll Grimm und Haß, daß ihm jedes Wort zuwider ist. Es hat wieder einen Zank gegeben, immer gibt es Zank mit seiner Frau, wenn im Umkreis eines Kilometers eine Schürze auftaucht. Dazu kommt seine Frau ja eigens mit, um ihm seine Laune zu verderben und ihm Auftritte zu machen. Nun sitzt er da, bewacht von ihren kalten Fischaugen, deren Blick zwischen ihm und den vorhandenen Frauenzimmern hin und her geht und sogar Magda Kaspar nicht ausnimmt.

Vor allem spießt dieser Blick natürlich Marianne Mack an, Marianne Mack mit ihrer jungen, hochmütigen Schönheit.

»Es ist unglaublich«, zischt sie zu Max Kopetzky hinüber, »daß man so ein Dämchen hier oben als Wirtschafterin duldet. Man weiß doch, um was für eine Art von Wirtschaft es dieser Sorte von Frauenzimmern zu tun ist. Man wird als anständige Frau diese Hütte kaum mehr besuchen können.«

»Warum denn?« tut der Architekt verwundert. Er spricht immer etwas langsam, jetzt spricht er noch langsamer als sonst ... »Man freut sich doch, wenn man auf eine Hütte kommt und außer den Bergen auch sonst noch was Hübsches zu sehen kriegt. Da kommt es dann auf ein paar anständige Frauen nicht so sehr an.«

Der Bircher Schnacksele aber stimmt ein neues Lied an:

»Jat das nicht der Grünseegrat? Juppeidi, juppeida!
Grad hat 's anen abig'waht.
Die Freunderln sitzen bei die Bana
Und fangen alle an ins Wana ...
Juppeidi, juppeida ...«

Seine Wangen glühen über dem Andreas-Hofer-Bart wie sonnenrote Alpengipfel über Latschengestrüpp, und die vergnügten Äuglein funkeln. Ein kurzer Ruck des Kopfes deutet die Beziehung nach oben an, zu einem Abig'wahten ...

»Es ist zehn Uhr vorüber«, sagt Marianne, weil sie hier die Hauserin und für die Hüttenruhe verantwortlich ist.

»Ausnahmsweise verlängere ich die Sperrstunde«, verkündigt Lobgesang. »Heute ist ja Hütteneröffnung ...« Ist Marianne die Hauserin, so ist er der Hüttenwart, und sie sollen ihn nur in seiner ganzen Machtvollkommenheit kennenlernen!

»Aber oben liegt doch ein Kranker«, sagt Marianne, gar nicht eingeschüchtert von soviel Machtvollkommenheit.

»Ja so«, gibt Lobgesang etwas kleinlaut zu und erhebt sich zögernd, »dann müssen wir wohl Schluß machen.«

Für Marianne gibt es nach dem Aufbruch noch genug zu tun. Aber ehe sie in ihre Kammer geht, horcht sie noch an Haberdietzls Tür. Sie öffnet behutsam, es ist dunkel; aus der Dunkelheit kommt jedoch eine Stimme: »Fräulein Marianne?«

»Ja ... hat Sie der Lärm unten arg gestört?«

»Nein ... ich hätte doch ohnehin nicht schlafen können ... es war lustiger so.«

»Brauchen Sie noch etwas?«

»Nein, ich danke Ihnen ... bemühen Sie sich doch nicht.«

»Die Kerze ist wohl ausgegangen?«

»Ja.«

»Warten Sie, ich bringe Ihnen eine andere ...«

»Ach nein, ich bitte ... gehen Sie doch endlich schlafen ... Sie haben ja einen furchtbar anstrengenden Tag hinter sich ...«

»Jetzt kommt es auf den einen Handgriff schon nicht mehr an«, sagt Marianne grob, denn eben das, ihre Stellung hier oben und dies alles, ist es ja, woran Marianne nicht gern erinnert sein will. Sie knipst ihre Taschenlampe an und kramt im Wandschrank. »So, hier ist eine neue Kerze ... aber seien Sie sparsam ... nun müssen Sie die Nacht über mit dieser einen Kerze auskommen ...«

Die ganze Kammer ist gleich um ein gewaltiges Stück wärmer und heimlicher, wenn so ein gutes, biederes, anspruchsloses Kerzenflämmchen brennt.

»Ach Fräulein ... Fräulein Marianne«, murmelt Haberdietzl, und mehr getraut er sich gar nicht zu sagen, er ist vorhin zu heftig angeblasen worden.

»Ja ... und nun wird geschlafen ... der Umschlag soll ja erst morgen früh erneuert werden ... Sie haben also genügend Zeit.«

»Ja, ich habe genügend Zeit«, bestätigt Herr Haberdietzl, irgendwie auf rätselhafte Weise dadurch beglückt.

»Gut Nacht also ... und wenn Sie doch nachts etwas brauchen sollten, so klopfen Sie nur an die Wand ... ich schlafe nebenan. Soll ich nun auslöschen?«

»Ja, ich bitte ...«

Es wird wieder dunkel. Ach Gott! denkt Haberdietzl, und nebenan schläft sie ... Ich werde mich hüten, sie zu wecken, denkt er und ahnt nicht, daß Marianne die Kerze überhaupt nur deshalb angezündet hat, um sich zu überzeugen, ob dieser wildfremde Mensch wirklich so lächerliche, gutmütig hilflose Hundeaugen hat, wie ihr gleich anfangs vorkam.

Er hat sie.


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