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Elisabeth will nach Antothrake. Ein Abschied

Am Tage nach dem Verlobungsfest schlief Elisabeth bis gegen Abend. Erst in der Dämmerung stand sie auf und ließ sich von Anna ankleiden.

»Nun, Anna, wie war's gestern?« fragte sie, während das Mädchen die Zöpfe hochsteckte.

»Ein bißchen toll!«

Elisabeth sah sie mit glimmenden Augen an: »Noch nicht toll genug.«

Als Elisabeth fertig war, fragte sie: »Und was hast du gehört? Was spricht man von meinem Bruder?«

Anna zögerte mit der Antwort: »Was man eben so spricht ... durcheinander ...«

»Du hast recht, was geht mich schließlich dieses Geschwätz an.« Elisabeth trat in ihr Boudoir und zu ihrem Schreibtisch hin. Zwei Briefe lagen da auf silbernem Tablett. Sie kannte Format und Schrift und warf sie mit unzufriedener und ungeduldiger Miene fort. Ein dritter Brief, den sie heute erwartet hatte, fehlte. Nachdem sie eine Weile vom Fenster in den Park hinabgesehen hatte, wandte sie sich um und ging, um ihren Vater aufzusuchen. Im Arbeitszimmer teilte ihr der Diener mit, daß der Baron unten bei der gnädigen Frau sei.

Als Elisabeth bei ihrer Mutter eintrat, wurde ein Gespräch unterbrochen, das beide aufgeregt zu haben schien. Bezug stand mit dem Rücken gegen den Kamin gelehnt, in dem trotz der Wärme des Sommerabends ein Holzfeuer brannte, und Frau Agathe lag bleich und erschöpft, mit einer Kompresse auf dem Kopf, auf dem Sofa. Elisabeth ging auf ihre Mutter zu und küßte sie flüchtig auf die Wange.

»Gut geschlafen?« fragte Bezug.

»Es geht an.«

»Hecht war heute schon dreimal hier, um sich nach dir zu erkundigen«, sagte die Mutter mit einem Stöhnen. »Er hat dir endlich geschrieben.«

»Ich weiß es. Ich habe den Brief gesehen.«

»Gesehen? Nicht gelesen?« fragte Bezug.

»Nein.«

»Höre, Elisabeth, du behandelst ihn schlecht. Er ist außer sich. Gestern hat er sich aus Kummer betrunken. Es gab beim Aufbruch beinahe einen Skandal. Er weinte und wollte zu dir. Zum Glück war außer Hainx und Adalbert sonst niemand dabei.«

Elisabeth gab keine Antwort. Frau Agathe stöhnte auf ihrem Sofa und rückte die Kompresse zurecht: »Was ist das mit dir, mein Kind? Ich habe Sorgen ... ich weiß nicht, Ahnungen oder dergleichen ... es überfällt mich manchmal, daß mir die Luft ausgeht.« Und plötzlich brach sie in Schluchzen aus: »Oh, ihr werdet an meinem Tod schuld sein, ich fühle es, das kann nicht mehr lange dauern.«

Weder Bezug noch Elisabeth bemühten sich, Frau Agathe zu trösten. Sie kannten diese Anfälle und wußten, daß sie ebenso plötzlich gingen als kamen. Und nach einigen Minuten hörte Frau Agathe wirklich zu weinen auf. »Es waren keine günstigen Zeichen über dem gestrigen Tag ... Arnold ... Arnold ... daß er ausgebrochen ist! Ich glaubte schon, ich müsse sterben. Wie konnte das geschehen?«

»Wie das geschehen konnte?« sagte Bezug zornig. »Ich habe es dir schon gesagt. Der Wärter, der Kerl, dieser elende Lump ... also dieser Weithofer ist seit gestern fort. Und sein letztes Stück war, dem Arnold die Tür zu öffnen, daß er frei herumlaufen konnte. Die Diener waren alle unten beschäftigt, und dann wissen sie ja auch nichts davon. Vielleicht hat ihn auch der Weithofer sogar bis zum Saal gebracht. Warum ... warum hat er das getan?«

»Du hättest ihm mehr Lohn geben sollen«, sagte Frau Bezug.

»Er hatte einen Ministergehalt. Ein Kerl, der ... sollte ich ihm noch mehr geben? Und ich habe ja nicht mit einem Wort zu entgegnen gewagt, wenn er frech wurde.«

Wer ist jetzt bei ihm?«

»Richard! Er ist der verläßlichste von allen. Ich habe ihn rasch von draußen rufen lassen.«

»Und was wird jetzt geschehen? Jetzt wissen die Leute alle von unserem armen Arnold ...« Frau Bezug stöhnte und schob wieder die Kompresse zurecht. »Jetzt werden sie alle von unserem Unglück sprechen.«

»Ich habe angegeben, daß es ein entfernter Verwandter ist«, sagte Bezug.

»Du denkst doch nicht, daß sie dir das glauben. Sie waren schon gestern auf der richtigen Spur.« Elisabeth sah ihrem Vater kalt und überlegen in das Gesicht.

»Freilich! freilich ... sie glauben es nicht ...« Bezug war so verzagt, daß ihn Frau Agathe trotz ihrer Leiden erstaunt ansah. »Aber etwas muß geschehen. Du hast recht. Sie verbreiten sonst das Gerücht, daß ich meinen Sohn gefangen halte. Etwas muß geschehen ... Dieser Schuft, dieser Weithofer ... aber der soll es mir büßen.« Das sagte Bezug ganz blaß vor Zorn und umklammerte eine der Vasen aus Lapislazuli, die auf dem Kamin standen, als wolle er sie in der Hand zerdrücken.

»Aber das ist nicht das einzige«, fuhr Frau Bezug jammernd fort. »Noch etwas anderes macht mir Angst. Das ist doch kein gutes Zeichen ... kein gutes Zeichen, wenn von einer Gesellschaft, die zu einem Fest versammelt war, am nächsten Tag einer tot ist. Das bedeutet nichts Gutes.«

»Ist einer gestorben? Wer denn?« fragte Elisabeth gleichgültig.

»Behrens, der liebenswürdige junge Mann, weißt du; der Fabrikant aus Darmstadt oder Köln oder so irgendwo her.«

Elisabeth zuckte die Achseln, aber Frau Bezug fuhr mit weinerlicher Stimme fort: »Das kann ja nichts Gutes bedeuten, nicht wahr? Und noch dazu so gräßlich: er ist im Hotel ermordet worden.«

»Ermordet! Lächerlich!« unterbrach sie Bezug. »Ermordet? Wer sagt denn das?«

»Nun, ich glaube: ermordet ... Nach dem, was Hainx erzählt hat.«

Ingrimmig sagte Bezug, indem er Agathe mit verzerrtem Gesicht ansah: »Wenn du nur nicht immer so reden würdest. Es ist keine Spur davon, daß er ermordet wurde ... Keine Spur, sage ich dir. Ich war ja selbst im Hotel und habe mir alles angesehen. Und es sind gar keine Anzeichen für einen Mord da. Nicht die geringsten Anzeichen.«

Elisabeth war aufmerksam geworden, lehnte sich gegen einen hohen Schrank, in dem Frau Agathes Medizinen aufbewahrt wurden, und sah ihrem Vater fest ins Gesicht. Leise klirrten die Flaschen im Schrank. Etwas verwirrt sagte Bezug: »Es kann von einem Mord keine Rede sein. Es ist Selbstmord. Ganz gewiß. Neben Behrens lag sein Revolver und eine der Kugeln stak in seiner Schläfe. Er muß die Tat bald nach seiner Heimkehr vom Fest verübt haben.«

»Und warum hat er sich wohl erschossen?« fragte Elisabeth langsam und eindringlich.

»Was weiß ich. Vielleicht hatte er den Spleen. Es kommt vor, daß sich diese jungen Leute, die alles genossen haben, in einem Anfall von Lebensüberdruß umbringen.«

»Ich habe gestern noch mit ihm gesprochen. Aber ich habe keinen Spleen und keinen Lebensüberdruß an ihm bemerkt. Er war munter und beredt und sprach davon, daß er nächste Woche zur Bärenjagd nach Siebenbürgen wolle.«

»Vielleicht auch waren seine Verhältnisse nicht so glänzend, wie man glaubt. Das Geld ... das Geld, meine Lieben ... es ist rund und rollt aus den Fingern ...«

»Es könnte sein, daß sein Tod irgendwie mit Dingen dieser Art zusammenhängt.«

Ohne Ahnung, daß zwischen Vater und Tochter ein Kampf stattfinde, in dem die Tochter mit Vermutungen zu durchdringen strebte, was der Vater zu verhüllen suchte, fiel Frau Agathe wieder in ihre Klagen über die üblen Vorzeichen. Ob sich nun Behrens selbst erschossen hatte oder ob er ermordet worden war, sein Tod bestand als schreckliche Tatsache und lastete auf dem Eindruck des Festes. Und schon zeigte sich auch ein Teil der schlimmen Dinge, die dieses Ereignis anzuzeigen schien, in einer Verschlimmerung des Gesundheitszustandes Frau Agathes.

Elisabeth hatte sich in einem der zerbrechlichen Sesselchen niedergelassen und unterhielt sich damit, ein kleines Sevillaner Eselchen unaufhörlich mit dem Kopf nicken zu lassen. Als nun Frau Agathe eine kleine Pause zu machen gezwungen war, schob Elisabeth eine andere Angelegenheit vor die Fortsetzung des Jammers. »Ich bin nämlich heruntergekommen,« sagte sie, »um euch mitzuteilen, daß ich nächster Tage auf einige Wochen verreisen will.«

»Wohin?«

»Nach Antothrake.«

»Nach meiner Insel im Adriatischen Meer?«

»Ja. Ich fühle mich angegriffen. Du, Vater, hast keine Zeit, um dich auszuruhen. Deine Geschäfte sind allzu wichtig. Und die Mama, der kann ich doch die Anstrengungen des Reisens nicht zumuten ...«

Mit einer Gebärde des Entsetzens bestätigte Frau Agathe diese Ansicht.

»Aber ich brauche dringend eine Erholung. Jetzt sind wir mitten im Sommer. Soll ich denn die ganze schöne Jahreszeit über in der Stadt sitzen. Wie lange waren wir jetzt nicht mehr auf Antothrake? Und es ist so wunderschön dort.«

»Was ist denn das für ein plötzlicher Einfall?«

»Kein plötzlicher Einfall ... ich denke ja schon lange daran. Aber gestern, während des Balles, wurde die Sehnsucht so groß, daß ich mich zur raschen Abreise entschlossen habe. Nun will ich es aber auch nicht mehr lange hinausschieben. Gleich übermorgen reise ich ab. Ich will das Meer wiedersehen und die schönen Linien des Gebirges der Küste ...«

»Du willst allein reisen ...«

»Allein. Das heißt, ich nehme zur Gesellschaft Anna mit ... und Semilasso ...«

Frau Agathe richtete sich auf dem Sofa halb auf: »Mit Semilasso willst du gehen? Das ist aber doch unmöglich ... Das ist höchst unpassend ... Das muß doch das Gerede der Leute herausfordern.« Sie war wirklich entsetzt und nahm so lebhaften Anteil, als es ihr Zustand zuließ.

»Warum soll es denn unmöglich sein? Was gehen mich die Leute an. Semilasso soll mir vorlesen und mich unterhalten.«

Auch Bezug wagte es zu entgegnen: »Aber, was wird denn Hecht dazu sagen? Du glaubst doch nicht, daß der es dulden wird?«

Elisabeth legte ein Bein über das andere mit einer graziösen Frechheit, die mit Absicht den Eltern gegenüber unschicklich war, und lehnte sich in dem zarten Sesselchen zurück, daß die schwache Lehne krachte: »Was hat mir Hecht zu sagen? Er hat mir nichts zu sagen ... niemand hat mir etwas zu sagen ... ›dulden‹ ... lächerlich! ... er hat zu dulden, was ich beschließe ... alles.«

»Du wirst mir doch zugeben, daß er mit der Verlobung gewisse Rechte eingeräumt erhielt ...« Noch einmal hatte es Bezug gewagt, gegen den Entschluß Elisabeths anzukämpfen.

Sie blieb zuerst noch eine Weile in ihrem Sessel sitzen und sah ihren Vater an, spöttisch, überlegen und ganz ohne Ehrerbietung vor seinem Willen. Ihre Augen glommen dunkel. Wie ähnlich sie ihm ist, dachte Frau Agathe. Nun erhob sich Elisabeth und, als wäre niemals ein Bedenken gegen ihren Wunsch geäußert worden, sagte sie: »Also übermorgen ... du wirst die Güte haben, Papa, Semilasso morgen davon zu verständigen, daß er mit mir zu gehen hat.«

Es blieb Bezug nichts anderes übrig, als den Auftrag seiner Tochter auszuführen. Nach dem Frühstück am nächsten Morgen nahm er Adalbert beiseite. Hecht war schon sehr zeitig zu Bezug gekommen, um einige dringende Angelegenheiten mit ihm zu besprechen, und war dann zur Mahlzeit eingeladen worden. Er benahm sich sehr bescheiden, fast zaghaft, denn eine dunkle Erinnerung sagte ihm, daß sein Abgang beim Feste nicht gerade glanzvoll gewesen war. Rudolf Hainx hatte ihn im Wagen heimgebracht, und er hatte von dieser Fahrt einen unangenehmen Eindruck behalten, als habe sein Begleiter seinen Zustand benutzt, um ihm Dinge zu sagen, die aufwühlend und beschämend waren. Aber er wagte nicht nach dem Inhalt des Gespräches, sofern es ein Gespräch gewesen war, zu fragen. Frau Agathe wohnte dem Frühstück nicht bei, denn ihr Zustand wurde immer schlimmer, und sie war ständig von einem Arzt und einigen Wärterinnen umgeben. Rudolf Hainx war der einzige, der andauernd und in seltsam spöttischen Worten sprach. Er gab Gedankensplitter von sich, die hart und kantig waren wie Feuersteine, aus denen sich gefährliche Waffen, Dolche und Lanzenspitzen, herstellen lassen. Wenn er aber nach der Wirkung seiner Worte auf Elisabeths Gesicht forschte, sah er nichts als eine kalte, steinerne Gleichgültigkeit gegen sein Bemühen, sie zu einer Entgegnung anzuregen. Vor Hecht und Hainx wollte Bezug das Gespräch nicht auf den Entschluß seiner Tochter bringen. Darum hielt er Adalbert zurück, als man vom Frühstück aufstand, und nahm ihn in eine Nische.

»Sie werden morgen meine Tochter nach Antothrake begleiten, nach meiner Insel im Adriatischen Meer. Elisabeth wünscht Ihre Begleitung. Sie sollen ihr dort vorlesen.«

An dem Erschrecken Adalberts sah Bezug, daß ihm dieser Befehl ebenso unwillkommen wie unerwartet war. Und nun, geweckt von diesem Schrecken, warf sich Adalbert dem Auftrag entgegen. »Ich werde nicht mitgehen«, sagte er leise und wurde ganz bleich.

»Was soll das heißen? Ich will kein Wort mehr hören. Sie werden gehen.«

Schon war es mit Adalberts Mut zu Ende. Er senkte den Kopf und schwieg. Bezug aber besann sich, daß er wohl kaum dem Wunsch seiner Tochter gefällig war, wenn er ihr einen mißgelaunten und unwilligen Begleiter mitgab, und fuhr im Tone der Überredung fort: »Sie braucht es. Denn die letzten Tage haben viel Lärm und Aufregung gebracht. Und dann das Fest selbst ... Sie haben ja gesehen, was vorgefallen ist ... dieses Schreckliche ... es hat sicher auch Elisabeth angegriffen und erschüttert ... sie will es nur wohl verbergen ... aber es wird schon die Ursache sein ... sie will es vergessen ... dieses schreckliche Bild ...«

Adalbert sah überrascht auf. Was war das? So hatte Bezug noch niemals gesprochen. Er erschrak förmlich vor dem Zittern in Bezugs Stimme, als habe er mit einemmal einen Blick in die Tiefen einer armen, gequälten Seele getan. War das wirklich Bezug, der unerbittliche Herr seiner Gefühle? Wie brach das nun plötzlich warm aus ihm hervor. Lag auf dem Grund einer bis zur Grausamkeit gesteigerten Selbstbeherrschung noch ein Fünkchen von Menschlichkeit? Adalbert sah Bezug an. Es zuckte im Gesicht des Herrschers, und seine Augen hatten einen ganz anderen Ausdruck. Er schien vergessen zu haben, daß er mit Adalbert sprach, und er schaute angstvoll und gequält geradeaus, als sähe er wieder das groteske und aufregende Schauspiel vor sich. Da überkam Adalbert ein Mitleid mit dem Mann, ein aus seiner Gutmütigkeit quellendes Mitleid, das um so mehr nach einem Ausdruck drängte, als er es zum erstenmal gegen seinen Herrn empfinden durfte. Er trat einen Schritt auf Bezug zu und sagte: »Ein schreckliches Bild ... ich weiß, daß dieser arme wahnsinnige Ihr Sohn ist ... oh ... ich weiß es! Es gibt einen einzigen Weg, ihn zu retten ... Eleagabal Kuperus ...«

»Was sagen Sie?«

»Ich meine, wenn Sie ihn retten wollen ... wenn Sie ihn wieder zum Licht führen wollen ... Gehen Sie zu Eleagabal Kuperus ... der wird Ihnen sagen, was Sie zu tun haben ...«

Aber Bezug hatte sich wieder gefaßt und hielt Adalbert mit einem durchdringenden und kalten Blick von sich fern. Und nun fand er für seine Antwort eine kalte Ruhe: »Ich habe nicht nach Ihrem Rat gefragt.« Und erbittert darüber, daß Adalbert einen Moment der Schwäche bei ihm gesehen hatte, fuhr er fort: »Ich will Ihnen nur eine Maxime geben: bieten Sie niemals einen Rat an, der nicht von Ihnen verlangt wird. Und bringen Sie heute Ihre Sachen in Ordnung. Morgen reisen Sie.«

Dann wandte er sich von Adalbert ab. Inzwischen hatte Elisabeth selbst Hecht und Hainx ihren Entschluß mitgeteilt. Hecht nahm die Ankündigung in stumpfer Ergebung hin, es schien, als ob die Ereignisse des Festes seine Kraft gebrochen hätten. Rudolf Hainx aber erlöste seine Aufregung durch ein häßliches Gelächter.

»Warum lachen Sie?« fragte Elisabeth.

»Wie gut haben es die Dichter. Sie sind wahrhaftig die Könige der Menschheit. Wir müssen hier unsere Arbeit tun. Und er wird das Meer und die seligen Inseln sehen, in Ihrer Gesellschaft ...«

Elisabeth kehrte sich von ihm, um Adalbert in strengem Ton den Auftrag zu geben, daß er sich für den morgigen Mittagszug bereit zu halten habe.

Gegen Abend fand Adalbert Zeit, zu Heinrich Palingenius zu gehen. Als er in das Zimmer des Türmers trat, fand er Regina allein. Johanna war fortgegangen, um einige Einkäufe zu besorgen, und Palingenius war in seiner Werkstatt, von wo ein seltsames schnurrendes Geräusch seine Tätigkeit ahnen ließ. Regina stand, als Adalbert eintrat, von ihrem Nähtisch auf und gab ihm die Hand.

»Kommen Sie, Regina,« sagte Adalbert, »kommen Sie hinaus auf die Galerie. Der Abend ist so schön. Ich möchte die Stadt sehen ...«

Es war frei und luftig draußen, und der Abend war sanft und verklärt wie eine gute Verheißung. Die Stadt atmete ganz ruhig, fast kindlich zu Füßen des Turmes, als ob alle Gegensätze zum Schweigen gebracht wären und alle Leidenschaften in eine große Heiterkeit gewendet. Im Westen war der Himmel wollig, haarig, von rotbrauner Farbe, von einer Schicht unzähliger Flocken überdeckt, fast wie ein Fell. Aber nun verwandelte sich das Fell, indem die Sonne darunter sank, in ein goldenes Vlies, von Feuerströmen lebendigen Goldes durchflossen und unaufhörlichen Veränderungen der Gestalt und Farbe unterworfen. Als spräche irgendein Zauberer seine Sprüche darüber aus ... Goldflockig und am Rand mit loderndem Feuer verbrämt hing das Vlies am westlichen Himmel. Unter diesem Vlies hob sich das Land mit einer weichen Welle hoch gegen den Himmel ... Und nun riß das goldene Vlies plötzlich an einer Stelle, daß man dahinter den grünen Atlas sah, auf dem es ausgespannt war. Und gerade in dieses Loch hinein rollte der Rauch eines fernen Feuers, das draußen auf einem der Felder brennen mochte, eine schwere und massige Fahne, die sich zuerst längs des Horizontes hinzog und sich erst ganz am Ende in einzelne, leichtere Flocken auflöste, die nun befreit in die Höhe stiegen.

Regina hatte, die Hände auf die Brüstung gelegt, hinausgesehen und schwieg. Auch Adalbert sagte nichts. Er stand hinter Regina und sah die unendlich rührende Linie ihrer sanft abfallenden Schultern vor dem brennenden, lautlos lodernden Himmel. Im Turm hinter ihnen ging das Werk der großen Uhr, regelmäßig, besonnen, wie der Puls dieses alten Gemäuers. Eine der Dohlen, die auf dem steilen Kirchendach ihre Nester hatten, flog ganz nahe an Regina vorüber, änderte plötzlich scharf ihre Richtung und stürzte sich hinab. Die Zeit verstrich, und Adalbert besann sich, indem er sich fast gewaltsam von allen diesen Dingen abzog, warum er eigentlich gekommen war. Aber wenn er schon ansetzen wollte, um zu sprechen, hielt er sich noch im letzten Augenblick zurück. Es war ihm, als dürfe er diese seligen Minuten nicht vorzeitig beenden, weil sie niemals mehr in so vollendeter Schönheit wiederkehren könnten. Noch immer schwieg er und verschob seinen Entschluß, bis zu einem nächsten jähen Erschrecken, das ihn vorwärts trieb. Nun aber brach ein Rasseln und Scharren in dem alten Uhrwerk, das wie ankündigend schon längere Zeit angedauert hatte, in mächtige Schläge aus, die das Mauerwerk erschütterten. Die Glocken, die über den Köpfen der beiden hingen, schlugen an. Zuerst die kleinere, die mit vier schnelleren Schlägen verkündete, daß wieder eine ganze Stunde herum war, und dann die größere, die mit acht langsamen, lang hinschallenden Schlägen der Stadt das Ende der achten Stunde ansagte. Der unmittelbar über den Köpfen der beiden gelöste Donner stürzte betäubend über sie herab, daß sie ganz in den Schall gehüllt dastanden, wie zu einer Gemeinsamkeit verbunden. Mit dem letzten Stundenschlag sagte Adalbert noch in den lang aushaltenden Nachhall hinein: »Ich bin gekommen, Regina, um Ihnen Lebewohl zu sagen ...«

Regina wandte sich um. Ihre Augen waren feucht. Über Adalbert hing noch das ganz feine, immer dünner werdende Summen des schwingenden Metalls. Er ergriff Reginas Hand: »Sie haben geweint?«

Aber sie schüttelte den Kopf: »Ich weiß nicht, was es ist. Ich habe nicht geweint. Aber wenn ich etwas so ganz Schönes sehe wie jetzt, oder wenn mir etwas sehr Liebes geschieht, so kommt es über mich ... Es ist mir dann, als seien die höchste Schönheit und der tiefste Schmerz nahe verwandt ...« Aber nun brach sie wirklich in Weinen aus und bedeckte das Gesicht mit den Händen ... »Sie gehen ... Sie gehen ... oh, ich hab' es ja gewußt ... ich hab' es geahnt ... jetzt, bevor Sie noch gesprochen haben ... als hätte mir es schon jemand gesagt ... gerade jetzt ...«

»Ich komme ja wieder, Regina, es ist nur für einige Wochen ...«

»Warum geben Sie sich solche Mühe?« sagte Regina und schüttelte den Kopf, »Sie werden nicht mehr kommen ...«

»Es müßte sein, daß ich sterbe. Wenn ich am Leben bleibe, so bin ich in einigen Wochen wieder hier ... Ich muß nur mit der Tochter Bezugs auf ihre Insel fahren ... Eine Laune ... und ich bin ein unfreier Knecht, ein Diener ihrer Launen, den sie nach Lust und Gefallen hierher und dorthin schieben ...«

Regina hob den Kopf und sah Adalbert angstvoll an: »Sie ist schön und gefährlich, nicht wahr?«

Adalbert erinnerte sich mit plötzlichem Erschrecken dessen, was die Gräfin gesagt hatte, und der Verwandlung, die Elisabeth mit seinem Puppenspiel vorgenommen hatte, und antwortete ausweichend: »Elisabeth ist schön, und sie mag auch gefährlich sein ... für Männer, die nicht von einer anderen großen Liebe erfüllt sind ...« und er setzte hinzu: »Und sie ist auch verlobt, wir haben doch vor zwei Tagen das große Fest gefeiert ... ich habe Ihnen ja von den Vorbereitungen erzählt.« Aber kaum, daß Adalbert dies gesagt hatte, schämte er sich seiner Unaufrichtigkeit, denn er war ja davon überzeugt, daß das Verhältnis zu Hecht kein Band für Elisabeth bedeutete.

Der Himmel war auch im Westen dunkel geworden. Eine einzige, langgestreckte Wolke von schwerem Violett, deren unterer Rand wie Eisen war, das durch Schlacken noch glüht, schwamm über dem Horizont. Ein fahler Schimmer drang aus der Stadt empor. Adalbert sah, wie Reginas Schultern zuckten. Plötzlich warf sie sich in ausbrechendem Schmerz an seine Brust: »Du kommst mir nicht wieder, ich weiß es ... ich weiß es ...«

Adalbert umfaßte sie und hielt sie fest. Und er sagte zitternd, ganz nahe an ihrem Ohr: »Ich komme wieder ... denn ich liebe dich ja ... ich liebe dich ... hörst du ... dich ganz allein. Und durch dich werde ich die Kraft finden, mich zu befreien ...«

Noch eine Weile lag Regina ganz still in seinen Armen, während Adalbert ihr Haar küßte. Dann sah sie auf, unter Tränen glückselig lächelnd: »Ich hab' dich ja so lieb ... und ich stürbe, wenn du mich verläßt ... ich stürbe ... denn ich hab' dich doch so lieb, daß ich nicht ohne dich leben will.« Und sie küßten sich in der webenden Dämmerung, angesichts der ganzen Stadt und des unendlichen Himmels, an dem schon einzelne zaghafte Sterne erglommen waren.

Aus dem Fenster hinter ihnen zuckte ein heller, gelber Schein über die Turmgalerie, schnitt einen Teil des Geländers aus der Dunkelheit und verlor sich dann in der Nacht. Als sie in das Wohnzimmer traten, fanden sie die alte Johanna damit beschäftigt, den Tisch zu decken. Johanna unterbrach ihre Beschäftigung, sah sie zuerst erstaunt und dann mißtrauisch an und fuhr nach einer Weile unter leisem Gebrumm fort, die klappernden Teller zu ordnen. Adalbert war so frei und leicht gesinnt, daß er einen heiteren Ton anzuschlagen vermochte, als er von Johanna Abschied nahm. Unter buschigen Augenbrauen sah ihn die Alte fast zornig an und sagte dann gehässig: »Langweilig ist es da auf unserem Turm, junger Herr, was?«

Da kam auch Heinrich Palingenius aus seiner Werkstatt, legte die blaue Arbeitsschürze ab und begrüßte Adalbert mit der zerstreuten Miene eines Mannes, der durch einen einzigen beherrschenden Gedanken seiner Umgebung entfremdet wird. Es war zuerst, als hörte er gar nicht, was ihm Adalbert sagte. Und erst als dieser mit dem Wunsche schloß, daß er bei seiner Rückkehr Palingenius am Ziele seiner Arbeit finden möge, wurde der Türmer aufmerksam. »Ja, sie wird bald fertig sein,« sagte er, »ich hoffe es, denn sie fängt schon an zu leben ... sie wird organisch belebt sein, sage ich euch ... wenn Sie zurückkommen ... wenn Sie zurückkommen? Ja ... Sie wollen verreisen? Haben Sie das gesagt? Aber Sie kommen wieder. Und dann sollen Sie sehen, wie das Problem der Flugmaschine gelöst ist ...« Und nun fing er an, eine Unzahl technischer Details zu erörtern, als sei es ihm willkommen, nach langem Schweigen seine Gedanken in Worte kleiden zu dürfen. Adalbert hörte ihm zu. Hinter ihm stand Regina, die eine Hand auf die Lehne seines Stuhles gelegt, und er fühlte ihre Nähe wie eine unsagbar wohltuende Berührung. Als sich Adalbert endlich erhob, reichte ihm der Türmer die Hand und sah ihm freundlich und fast liebevoll ins Gesicht: »Auf Wiedersehen, mein lieber Freund. Sie werden mir wieder willkommen sein ...«

Regina begleitete Adalbert hinaus, einige Stufen hinab, und wortlos küßten sie sich im Dunkeln. Plötzlich ging hinter ihnen die Tür auf, und Johanna trat in die helle Öffnung. »Gute Nacht«, sagte Regina leise, und Adalberts Antwort kam schon aus der Dunkelheit unter ihr: »Gute Nacht ...« Dann flammte sein kleines Kerzchen auf, und Regina sah, wie der Schimmer über die Windungen der Stiege glitt, immer schwächer und endlich von der Finsternis verschlungen wurde.

Als Adalbert voll drängender Gedanken und jubelnder Seligkeit über den Domplatz ging, stieß er fast mit Eleagabal Kuperus zusammen. Er faßte den Alten an der Hand. »Ich bin auf dem Weg zu Ihnen,« sagte er, »ich wollte ...«

»Sie waren bei Palingenius, um Abschied zu nehmen ... Ich gehe eben zu ihm.«

»Sie wissen es ... woher wissen Sie es?«

Eleagabal Kuperus lächelte gutmütig: »Sie fahren in ein lachendes Land ...«

»Ich komme wieder ... ich komme wieder. Wissen Sie, was ich eben dachte? Ich dachte: es ist ein Geschenk des Glückes, in einem Augenblick größter Seligkeit zu gehen. Denn so wird sie uns rein erhalten und wir verdienen sie uns von neuem durch einigen Schmerz ...«

»Es ist ein guter und schöner Gedanke ...«

»Ich bin glücklich.«

»Sie dürfen glücklich sein. Denn Regina liebt Sie, mehr als sie Ihnen sagen kann.«

»Geben Sie mir kein Wort mit, das mich leiten könnte?«

»Wozu? Wir müssen solche Worte in uns selbst finden ...«

Adalbert faßte noch einmal nach Eleagabals Hand, drückte sie und ging zwischen den beiden verdrossenen Heiligen aus Stein die breite Treppe hinab, die vom Domberg in die Stadt führt.

Leuchtender Dunst schwamm über den dunkeln Dächern wie der Dampf, der aus einem Kessel aufsteigt.


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