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Was Adalbert Semilasso in diesem Winter, dem ersten in Bezugs Diensten, erleben mußte, hatte alle unbefangene Heiterkeit von ihm abgestreift. Zuerst stand er der Welt, in die er sich plötzlich gerissen sah, mit einer heroischen Neugierde gegenüber, entschlossen, sich alles zu eigen zu machen und bereit, sich an alles restlos hinzugeben. Aber er sah bald, daß diese Welt weder geneigt war, sich ihm zu ergeben, noch seine Hingabe anzunehmen. Die Wunder, die er in Bezugs Haus täglich erneuert fand, überwucherten seine Fassungskraft, und es kam eine Zeit, in der er unfähig war, etwas Neues zu ergreifen oder etwas von dem schon Begriffenen in jene Ordnung zu bringen, die er sich nach Art der Dichter als das Wesen der Welt zurechtgedacht hatte. Indem er von immer neuen Überraschungen überwältigt wurde, verlor er sich in ein Labyrinth von Unverständlichkeiten. Vergebens versuchte er in den Sinn aller dieser Dinge und Menschen vorzudringen. Da er bestrebt war, sich dem Wesentlichen der Ereignisse zu nähern, und da er immer wieder durch die strahlenbunten und vielfarbigen Oberflächen verwirrt wurde, war es ihm, als wiche der Grund unter ihm und als stürze er ins Bodenlose.
Ewigkeit, Gott, Schicksal traten zu einem Reigen an, der hoch über ihm und allen andern dahinging. Endlich begann er mit einer Art von Trotz allen diesen Worten Erklärungen zu geben, wie er sie in sich selbst fand, und versuchte es, sein Leben und dessen Wege nach diesen einzurichten. Da entbrannten die ersten Konflikte mit Bezugs Befehlen. Zuerst bäumte sich Adalbert gegen den Herrn auf, aber sein Widerstand zerbrach unter den harten Blicken des Bezwingers. Ohne daß Bezug ihn mit Worten daran zu erinnern brauchte, ohne daß er ihm die übernommenen Pflichten und die Zeremonie der Angelobung ins Gedächtnis zurückrief, beugte sich Adalbert vor dem stärkeren Willen, der wie ein Joch auf ihm lag. Irgendeine Macht ging von diesem Manne aus, die alles zu durchdringen schien, und die es unmöglich machte, gegen sie anzukämpfen.
Zweimal hatte es Adalbert Semilasso versucht, aus Bezugs Haus zu entkommen. Eines Nachts sprang er plötzlich aus dem Bett auf und lief, nachdem er sich rasch angekleidet hatte, über die Treppen dem Ausgang zu. Als er den Vorhang hob, auf dem Nalas und Damayantis erste Begegnung in Goldstickerei erzählt war, stand Bezug mitten in der Halle und sah mit seinen leeren Augen nach dem Dichter, der, den zusammengerafften Vorhang über der rechten Schulter, erstarrte. So furchtbar war das Gesicht des Herrn, so drohend die Spannung dieses zusammengekauerten Körpers, daß Adalbert nicht zu atmen wagte. Ohne ein Wort zu sprechen, wandte sich Bezug um und verließ die Halle, indem er dem Dichter den Weg zur Flucht freigab. Aber Adalbert stand unbeweglich da und fühlte, wie ihm die Kälte des Steinbodens durch den ganzen Körper bis zum Herzen drang. Auf seiner Schulter drückte der seidene Vorhang, als trage er eine schwere Last, und wie in einem grauenvollen Traum, aus dem man mit einem Schrei erwacht, glaubte er noch immer das grausame Gesicht Bezugs mitten in der Halle zu sehen. Es war, als sei er noch immer anwesend, als sei die Halle von seinem schrecklichen, unbeugsamen Willen wie von einer lebendigen Kraft erfüllt, als dehne sich da zwischen den Säulen eine Zone von Gefahren, deren Durchschreitung dem Wager den Tod bringen mußte. Während er noch so nach dem Punkte starrte, wo die flirrenden, knisternden Ströme sich gleichsam in einem Wirbel zu drehen schienen, aus dem Bezugs grausames Gesicht auftauchte, geschah etwas Seltsames. Er fühlte, wie er mit der Türschwelle, auf der er stand, versank ... sank, sank ... immer tiefer sank. Mit einem Schrei griff er in die Falten des Vorhangs und riß ihn herab, daß das edle Gewebe ihn umhüllte und seine Flucht behinderte. Er machte sich hastig los und lief in sein Zimmer zurück. Zitternd schob er den Riegel vor die Türe.
Noch ein zweites Mal versuchte er es, Bezugs Haus zu verlassen. Es war eine stürmische Nacht in der Zeit der Frühlingsäquinoktien, und Adalbert ging besonnener als das erstemal an die Flucht. Er wartete ab, bis Bezug sein Turmzimmer aufgesucht hatte und bis keine Gefahr der Begegnung da war. Mit allen Vorsichten eines Verschwörers verließ Adalbert mitten in der Nacht sein Zimmer und schlich die Loggia entlang, in der sich der Wind verirrt hatte, und in der ein mit Schnee vermischter Regen die Steine glatt machte. Der Park lag vor den Bogen der Loggia, ein aus Dunkelheiten aufgestiegenes Land, unbekannt und Menschen unzugänglich, wie ein aus dem Meer getauchter neuer Erdteil. Durch diese Masse aus Finsternis und Rauschen, die im Sturme zu kochen schien, ging der Weg zur Freiheit. Die Luft über dem Park war wie von einem wütenden Geschrei gepeitscht, und ein Brandgeruch drängte sich zwischen die Stöße des Windes. Alle Galgenvögel des Hexensteines waren in dieser wilden Nacht losgelassen und ritten auf langen, schwarzen, schlauchartigen Würmern über die Dächer der Stadt. Mit weitaufgespreizten Mäulern schrien sie gegeneinander, als wollten sie in diesen wenigen Stunden das gefangene Leben des Steines austoben, als befreiten sich durch sie alle wüsten Wünsche der Felsen. Auf das Krachen, mit dem der eine gegen die Mauern des Hauses stieß, folgte das Gelächter der andern, und wie rasend rissen sie die stärksten Äste von den Bäumen, um ihre ungehorsamen Reittiere anzutreiben. Ängstlich hockten die Feuergeister der Häuser in den Winkeln und hüteten sich davor, sich von den Galgenvögeln erfassen zu lassen. Über die Brüstung der Loggia gebeugt, sah Adalbert in das Gewimmel, in dem sich die Gipfel der Bäume, von starken Fäusten gezwungen, wie die Bogen der Arkoballisten krümmten. Nun stieg er über die Treppe hinab und versteckte sich in den stürmisch flatternden Falten der Nacht. Aber in diesem Augenblick schoß aus dem Turm Bezugs eine leuchtende Lanze in den Leib der Dunkelheit. Von dem scharfen Strahl getroffen, bäumte sie sich auf und schäumte wie ein wildes Tier. Ihre Flanken keuchten, und johlend jagten die Galgenvögel über die Verwundete hin. Aus dem erglühenden Helm des Turmes fiel der Schein grell und hart in die Geheimnisse der Sturmnacht. Und nun begann das Licht zu wandern, im Leib der Dunkelheit grausam bohrend, hin und her gezuckt, wie auf der Suche nach einem besonders schlimmen Schmerz. Unter dem breiten Lindenbaum stand Adalbert und wünschte mit der nassen Rinde verwachsen zu können. Als ihn der Strahl gefunden hatte, stand er still und heftete ihn an den Baum. Wie von einem Lanzenwurf getroffen, war Adalbert unfähig, eine Bewegung zu machen, und mußte alle Ängste dieser schrecklichen Nacht über sich ergehen lassen. »Höre du, bist du darum von uns gegangen?«, schrie ihm einer der Galgenvögel ins Gesicht und schlug ihn mit dem Ast über die Schulter. Der Strahl löste sich in ein Lichtbündel auf, dessen Fäden sich vergitterten und verschlangen, bis ein Netz daraus geworden war, das den Flüchtling nur noch fester hielt als die bohrende Lanze. So stand er bis zum Morgengrauen und kehrte dann, durchnäßt, mut- und kraftlos wie ein geschlagener Kämpfer in Bezugs Haus zurück.
Seit dieser Nacht wagte er nicht mehr, sich der Macht seines Herrn zu entziehen, und beugte sich dessen Willen. Von allen seinen Sehnsüchten schien ihm nur noch eine am Leben geblieben zu sein: die Sehnsucht nach den Menschen. Er wußte, daß er ihre Erfüllung von den Hausgenossen vergebens erwartete. Von allen schien nur Elisabeth ein wenig mehr Anteil an ihm zu nehmen. Ihre Kälte wich in seltenen kostbaren Augenblicken, und wenn sie ihm mit freundlichen Worten Mut gemacht hatte, war es ihm, als müsse er zu ihren Füßen von seinem Schicksal sprechen. Aber immer wich er mit einem schmerzlichen Empfinden zurück, wenn ihn beim Näherkommen ein eisiger Strom wie ein Hauch von verhüllten Gipfeln traf. Da begann er endlose Wanderungen durch die Straßen der Stadt zu unternehmen und suchte das alte Viertel hinter dem Dom auf, wo in verräucherten Nischen, in dunkeln gewölbten Haustoren die Vergangenheit kauerte. Er liebte die Kirchen in den stillen Stunden zwischen den öffentlichen Andachten, wenn nur wenige Beter in den Bänken saßen, einsame Flüchtlinge gleich ihm, gleich ihm von der Majestät der hohen Wölbungen und dem bedeutsamen Schweigen der Altäre erdrückt. Obzwar sich ihm keine Vorstellungen der Religion mit den heiligen und den bunten Fenstern, mit den seltsam gewundenen Säulen und den flimmernden ewigen Lichtern verbanden, gab er sich an die gelassene, entrückte Ruhe hin und fand für seine Verse hier die innigsten Bilder. Dann stieg er die krummen Straßen hinauf und hinab und verfolgte das Leben der Menschen mit sehenden Augen. Gerne stand er vor dem Haus des Eleagabal Kuperus und sann den Gestalten und Geschichten nach, die auf der vom Regen durchnäßten Front sichtbar wurden. Da ihm die Geschehnisse der Bibel fremd waren, gab er den Darstellungen eigene Deutungen von seltener und ganz abseitiger Wunderlichkeit.
An einem Tage zu Ende des März, der sich vom Morgen bis zum Abend wie eine Wüste dehnte, in der die Stunden blind und ziellos auf verlorenen Wegen irren, fand Adalbert Semilasso eine zitternde Erwartung in sich, der er weder Richtung noch Namen wußte. In der Wüste dieses Tages stand er einsam wie ein Prediger mit aufgereckten Armen und mit den Blicken nach dem Horizont seines Schicksals, von wo er einen glühenderen und erleuchtenden Schein ersehnte. Sein Mißtrauen stand wie ein Schatten hinter ihm, an seine Fersen geheftet, jenes Mißtrauen, das Adalbert seit seiner Niederlage dem Leben entgegenbrachte; aber Adalbert wandte sich nicht nach ihm um und war taub für seine Einflüsterungen.
Er ging aus, um zu suchen. So trüb und verworren das Gewebe dieses Tages erschien, Adalbert schritt wie von einem starken Ruf angetrieben hindurch und überwand alle Hemmungen der Stunden, alle Einflüsse, unter denen er sonst wie unter der Wirkung bannender Zauberknoten erstarrte. Als er an der Tür des Eleagabal Kuperus vorüberkam, streckte er seine Hand nach dem Klopfer aus, und einen Augenblick schien es ihm, als erwarte ihn hinter dieser Tür das, was er suchte. Saul stand der Hexe von Endor gerade aufgerichtet gegenüber und rings um die beiden wimmelten alle Scheußlichkeiten, wie sie den Vorstellungen mittelalterlicher Holzschnitzer entspringen. Aber keins von diesen Untieren, weder die feuerspeienden Drachen, noch der Leviathan, auch nicht der Greif oder der Vogel Rok war so gestaltet, daß man sie für unmöglich gehalten hätte. Mit einem bemerkenswerten Sinn für das Organische schien der Meister dieser Türe die Schöpfung um einige unschöne und gewalttätige, abscheuliche und gefährliche Wesen vermehrt zu haben. Es war, als hätte er in einen Raum sehen dürfen, wo die Modelle für eine Anzahl von Tieren bereitstanden, deren Ausführung dann später unterlassen wurde. Von diesem bizarren und in seltsamen Abenteuern schwelgenden Künstler gefesselt, dessen Geschmack in manchen Dingen dem Adalberts verwandt schien, stand er lange Zeit vor der Türe still, und erst als hinter ihm eine vertraute und liebe Stimme sprach, konnte er seine Aufmerksamkeit von dem Schnitzwerk losmachen.
»Nun muß ich einmal zu Eleagabal gehen«, sagte die liebe Stimme.
»Tu das, er liebt dich sehr«, antwortete eine andere.
»Auch ich habe ihn lieb.«
Vor Adalbert gingen zwei Frauen. Die jüngere war schlank, und ihre Schultern, ein wenig abfallend und dann wie zögernd zu den bewegteren Linien der Arme gleitend, rührten den Dichter wie eines der kleinen Liedchen, die hier in dem Viertel hinter dem Dom manchmal aufflatterten. Mädchen, die noch kurz vorher an den Spielen der Jungen teilgenommen hatten, wurden plötzlich träumerisch und entfernten sich von den Kameraden, um diese Liedchen zu singen. Die Begleiterin des schlanken Mädchens hinkte an ihrer Seite so hart, daß die eine Hüfte bei jedem Schritt hinausgeworfen wurde, als könnte der Körper jeden Augenblick aus den Gelenken fahren. Nun schloß sich das Portal des Domes mit seinen Heiligenstatuen wie ein Rahmen um die beiden, und Adalbert folgte ihnen, als sei es selbstverständlich, daß er von jetzt an immer nur dorthin zu gehen habe, wohin das schlanke Mädchen führte.
Vor einem eisernen Gestell, dessen runder Reifen eine Menge dünner Kerzchen trug, von denen einige brannten, hütete Frau Swoboda die Opfer frommer Menschen. Immer geschäftig, jetzt ein niedergebranntes Licht zu verlöschen und nun für eine kleine Gabe ein anderes anzuzünden, nickte sie den beiden Frauen zu. Obzwar sie durchaus nicht damit einverstanden war, daß Heinrich Palingenius mit dem Zauberer von dort drüben treue Freundschaft hielt, liebte sie doch seine Tochter ebensosehr, als sie dem seltsamen Mann die treue Erinnerung aus ihrer Jugend bewahrte. Neben dem Dienst für die armen Seelen im Fegefeuer und dem Vergnügen an einer mit allerlei Sensationen gewürzten Unterredung mit ihren Freundinnen bewahrte sie nur noch dieser Erinnerung wärmeres Interesse. Alle diese Winkel in dem Dom, die Gänge, die von der Sakristei zur Turmtreppe führten, belebten sich ihr manchmal mit Bildern aus einer Vergangenheit, in der sie mit Heinrich alle Intrigen eines kleinen Liebesspiels durchgemacht hatte. Es war der Alten oft, als sei ihr Leben von damals bis zur Gegenwart nur ein dunkles stilles Wasser, in dem alle Spiegelungen versunken waren, während drüben, ganz im hellen Lichte, in einer überirdischen, unzerstörbaren Gloria die Gestalten und Ereignungen der Jugend standen. Seitdem die Frau des Türmers gestorben war, hatte die Alte keinen größeren Wunsch, als den, noch einmal mit Palingenius zusammenzutreffen, und sie versäumte es niemals, seiner Tochter diesen Wunsch in Erinnerung zu bringen. Regina hätte ihr gern den Willen getan, aber das Verbot des Vaters war so streng, daß sie es nicht einmal wagte, von Frau Swobodas Andeutungen, von ihren Seufzern und Vorwürfen zu sprechen. Nachdem die Alte ihren Dienst für die Seelen der im Fegefeuer Schmachtenden getan hatte, schlurfte sie auf Filzpantoffeln zu der Bank, in der Johanna und Regina saßen.
»Geht's dem Vater besser?« fragte sie, und ihr zahnloser Mund schien noch einige Worte des Bedauerns zu bewahren, die jedoch erst gehörig zerkaut und befeuchtet werden mußten, bevor sie ausgesprochen werden konnten.
Heinrich Palingenius hatte einen schlimmen Winter hinter sich. Irgendein Dämon schien seine gesunde Kraft überwältigt zu haben und peinigte ihn mit allerlei bisher unbekannten Schmerzen. Vom Rückenmark aus glaubte er ein leises Kribbeln im ganzen Körper zu verspüren, eine Wärme in den Gelenken steigerte sich zu unangenehmer Hitze, bis ein peinigendes, sengendes Reißen seine Glieder kraftlos machte. Aber Palingenius war nicht gesonnen, diesen Anfällen des nahenden Alters zu erliegen, und versah seinen Dienst wie bisher. Eines Tages aber, als er eben auf seinem Sitzbrett draußen baumelnd die Quader für den verstorbenen Domherrn Athanasius Vypoustil mit weißer Farbe überstrich, kam eine plötzliche Schwäche über ihn, der Pinsel sank ihm aus der Hand und fiel sich überschlagend gerade vor einem alten Weib nieder, das unten am Fuße des Turmes die auf einer schwarzen Tafel verzeichneten Namen der Toten von heute las. Es war ein Glück, daß der Türmer im Sinken die gekreuzten und wie im Krampf verschlungenen Arme um das Seil geschlagen hatte, so daß es gelang, ihn mit unendlicher Vorsicht hinaufzuziehen und zu retten. Regina brachte den Vater ins Bett, und als er aus seiner Bewußtlosigkeit erwachte, duldete er schweigend die Bemühungen der Tochter. Aber als das Mädchen die Absicht aussprach, einen Arzt zu holen, saß er mit einem Ruck kerzengerade im Bett aufrecht und schrie, indem er die Decke zurückschlug, daß er augenblicks aufstehen werde, wenn man ihm nicht seine Ruhe lasse. Bestürzt holte sich Regina bei der alten Johanna Rat, und diese bewegte die Finger der herabhängenden rechten Hand nach rückwärts, das hieß: laß ihm den Willen. Ohne Arzt schleppte der Türmer sein Leiden durch lange Monate hin, aber da er nicht wollte, daß seine Tochter mit ihm leide, gelang es ihm bei allen Schmerzen ein freundliches und zufriedenes Gesicht zu zeigen. Nur manchmal wurde er ungeduldig, wenn er der Arbeit an der Flugmaschine gedachte, die nun feiern mußte. Aber selbst alles Verlangen nach seinem Werkstattvergnügen konnte ihn nicht bestimmen, die guten Dienste seines Freundes Kuperus anzunehmen, der an seinem Bette sitzend nur eines Wortes, nur einer fernen Andeutung einer Aufforderung harrte. Mitten durch die Gedanken- und Gefühlswelt des Türmers ging der Eigensinn wie eine unverrückbare, mit beiden Polen in die starren Massen der Ewigkeit verankerte eiserne Achse, um die sich das System drehen mußte. Was einmal von Heinrich Palingenius beschlossen und festgeschlagen war, das blieb schon so für alle Zeiten, und weder die eisernen Zangen der Logik, noch die freundlichen Lockungen liebevoller Besorgnis vermochten ihn davon abzuziehen. Dazu kam eine Art von Beschämung, eine verlegene Betrübnis darüber, daß sein Körper so hinfällig war, jene Empfindung, die kranke oder verwundete Tiere in die Einsamkeit treibt, bis sie sich wieder gesund und kräftig vor den Genossen zeigen können. Da er einmal davon überzeugt war, daß sich die Natur selbst helfen müsse, gab es auch keine Macht in der Welt, die ihn dazu gebracht hätte, fremde Hilfe anzunehmen. Inzwischen versahen Regina und Johanna den Dienst für ihn, hielten die Wächterrunden, sahen darauf, daß die Uhren richtig gingen und schwangen sich an den Glockenseilen über den Abgrund unter den mächtigen Rufern. So ging der Winter hin, und mit dem ersten, nur wie aus Träumen erblühenden Schimmer des Frühlings, dieser blassen, nur gehauchten Ahnung, besserte sich das Befinden des Türmers wirklich, als habe dieser geschwächte Körper bloß den Ruf zur Erneuerung alles Blühens abgewartet. Mit einem glücklichen Gesicht ging er in seine Werkstatt, nahm seine Pläne und Zeichnungen vor und begann alles, was er in langen, schlaflosen Nächten ersonnen hatte, auseinander zu legen und zur Übertragung in die Wirklichkeit vorzubereiten.
Regina konnte der Frau Swoboda also gute Nachricht geben. Und mit einer kindlichen Hartnäckigkeit brachte die Alte flüsternd ihren Wunsch hervor. Sie gab sich nicht früher zufrieden, bevor ihr nicht Regina abermals versprochen hatte, dem Vater ihren Gruß zu überbringen und eine günstige Gelegenheit zu seiner Überrumpelung abzupassen: »Na ja ... wenn er den da drüben duldet, warum soll denn ich nicht zu ihm kommen? Da war ein langer Kerl unter den Ministrantenbuben, Franz hat er geheißen, den andern Namen hab' ich vergessen, und der hat mich nicht leiden können. Und einmal im Herbst, in der Zwetschgenzeit hat er mir Zwetschgenkerne hingestreut, daß ich auf den glatten Steinen ausgerutscht und hingefallen bin. Aber der Heinrich, Ihr Vater, Fräulein Regina, hat sich den Kerl ausgeborgt. So grob der Franz gegen die Mädeln war, ein solcher Hasenfuß war er sonst. Sie wissen ja, was man sich alles für Geschichten von dem Turm erzählt, ganz unheimliche Sachen. Und wie der Franz einmal abends an der Turmstiege vorübergeht, steht auf einmal im Dunkeln eine weiße Gestalt und winselt. Winselt ganz wunderbar, denn ich war unter der Stiege versteckt und hab' alles gehört. Ein Gespenst denkt der Franz und lauft, was er laufen kann. Aber mein Gespenst hinter ihm her, packt den Franz beim Kragen, wirft ihn hin und haut ihn durch. Nach Noten, sag' ich Ihnen. Das Gespenst war der Heinrich, und die Prügel, die der Franz bekommen hat, waren ausgiebig wie ein Landregen. Weil ich mich aber, kaum daß es vorüber war, gefürchtet hab', das Gespensterspielen könnt' uns übel vermerkt werden, und es könnt' wirklich etwas über uns kommen – man kann ja nicht wissen – hab' ich geweint und vom Heinrich verlangt, daß er irgendeine Buße tut. Was tut der Heinrich mir zu Lieb'? Er geht zum Lehrer hin und sagt, daß er es war, der den Franz durchgeprügelt hat. Da sind ihm die Prügel mit Zinsen zurückgekommen. Und wie der Lehrer fertig war, steht der Heinrich auf und sagt zu mir: ›Wein' nicht, dumme Gans, dem Franz kann doch die seinen niemand mehr wegnehmen.‹ So einer war Ihr Vater, Fräulein Regin'!« Und flüsternd spann die Alte ihren Faden weiter, knüpfte ihn an besondere Ereignisse und konnte sich nicht genug tun, der Tochter des Jugendfreundes die köstlichen Verknüpfungen, die seltsamen Verwirrungen seines Laufes zu zeigen.
Im Dunkel des Kirchenschiffes, dort wo der Posaunenengel von der Brüstung des Orgelchores herabhängt, stand Adalbert an eine Säule gelehnt und sah nichts in der ganzen Kirche als den Kopf des Mädchens, in dessen Nacken unter dem einfachen schwarzen Hut ein blonder Knoten saß.
Unter der zarten und bis in die Seele dringenden Gewalt seines Blickes wandte sich Regina um. Einen Augenblick stand ihr Profil vor einem dunklen Altarbild, rein wie ein frommer Gedanke, wie ein Kindergebet und wie von einem inneren Licht erhellt. Der großen Ähnlichkeit, der geheimnisvollen Beziehung zu irgendeinem schon Gesehenen war Adalbert entschlossen auf die Spur zu kommen. Mit aller Vorsicht suchte er in den Eindrücken seines Lebens in der Welt und deckte mit leisen Fingern seine Blätter auf. Nun jauchzte er, und es war, als hätte er zugleich mit diesem Fund ein stärkeres Recht auf dieses Mädchen erhalten, als wäre ihm zugleich mit ihm ein Vorwand gegeben worden, sich ihr zu nähern. Auf der Front von des Eleagabal Kuperus' Haus war unter anderen Bildern auch das Bild von Salomos Urteil zu sehen. Auf hohem Thron saß ein milder Richter, dessen Hand mit einem Scheine von Grausamkeit sich gegen einen Knecht erhob, der ein zartes Kind mit einem nackten Schwert bedrohte. Von den zwei Frauen, die einander an den Stufen des Thrones gegenüberstanden, warf die eine den Kopf zurück und schien dem Befehl zuzustimmen; ihr prächtiger und machtvoller Körper stand wie eine Säule, während die andere schwächere und zartere sich an die Lehne des Thrones anklammerte und verzweifelt mit einer von dem Moment höchster Gefahr gesteigerten Kraft dem Richter widersprach. Ihr gegen den Knecht ausgestreckter Arm machte die Gebärde des Verzichtes; ihr ganzer Leib bäumte sich auf, um das Schreckliche zu verhindern; die Linien der Angst und der Liebe flossen in ihrem Gesicht zu einer keuschen Schönheit zusammen. – Diesem Weib glich das Mädchen, das da vorne zwischen zwei alten Frauen saß und unter dem Einfluß von Adalberts Blicken von Zeit zu Zeit den Kopf hob.
Nun erhoben sie sich und gingen davon. Eine alte, schwere Tür neben dem Altar schlug hinter den drei Frauen zu. Adalbert wartete, bis die Alte zurückkehrte und den versäumten Dienst für die armen Seelen an dem eisernen Reifen wieder aufnahm. Alle Kerzchen waren niedergebrannt, und Frau Swoboda mußte den Träger rundum frisch bestecken. Dem jungen Mann, der da herankam und ihr ein großes Geldstück gab, murmelte sie ein erstauntes: »Vergelt's Gott«, denn das Geld reichte hin, um eine ganze Bande von Raubmördern aus dem Fegefeuer zu erlösen. Und als er noch dastand und auf den Bund roter Kerzchen in Frau Swobodas Händen starrte, glaubte sie, daß er besondere Wünsche für eine namentliche Anrufung hätte, und fragte, wem ihr Gebet zu gelten hätte. Da sagte er verlegen: »Allen zusammen. Allen zusammen« und ging. Eigentlich hatte er die Alte fragen wollen, wer das Mädchen gewesen sei. Aber er brachte kein Wort heraus, und mit einer Scheu, die man kurz vor dem Erwachen aus einem Traum des Glückes hat, mit jener Scheu, die eine schöne Täuschung vor der Zerstörung bewahren möchte, vermied er es, zu fragen. Lange stand er vor dem Hause des Eleagabal Kuperus, aber die Dämmerung wischte über die Front hin, und lange Schattenschleier hingen vom Giebel bis auf die Türschwelle. Da begann er wieder durch die krummen Straßen des alten Viertels zu wandern und kam in die verrufenen Gassen, wo aus den Haustoren die Rufe der Dirnen locken. Eine junge Frau, in deren Augen das Elend saß, hielt ihn an. Sie hatte nichts von der derben Lustigkeit der Mädchen vom Gewerbe, sie vermochte nicht durch ihre Kleidung oder durch ein dringliches und aufreizendes Parfüm, durch jene der Wollust der Gasse so geläufigen Gesten anzuziehen. Sie hatte nichts für sich, als daß sie ein Weib war. Und nur ihre Weibheit bot sie ihm an, ohne andere Versprechungen als den Genuß eines müden und vom Elend hergenommenen Körpers. Adalbert gab ihr eine Banknote und ging weiter, ohne auf ihr ängstliches und verwirrtes »Herr, Herr!« zu hören. Zum erstenmal machte ihn Bezugs Reichtum glücklich. Und da gab er sich nicht früher zufrieden, als bis er seine Börse völlig ausgeleert hatte. Einem Kind, das eben mit seiner Streichholzschachtel aus einem Wirtshaus kam, wo es unter dem Gelächter und den Scherzen der Gäste vergebens von Tisch zu Tisch gebettelt hatte, nahm er seinen Vorrat ab und schenkte ihm nebst dem Geld die Streichhölzer zurück. Um den kleinen Ofen eines Kastanienjungen standen einige zerlumpte Buben mit den Händen in den Hosentaschen und sogen immer, wenn der Junge den Deckel hob, den Duft ein. Sie wichen zuerst zurück, als ein fremder Herr beide Hände voll Kastanien anbot, die er eben gekauft hatte. Unter ihren Instinkten stand das Mißtrauen gegen die Geber an erster Stelle; die Frage, die das ganze Leben ihrer Eltern bestimmte, die Unruhe, die immer eine Gefahr vermutet und nicht zuläßt, an eine grundlose Wohltätigkeit, an eine Freude am Schenken zu glauben, waren auch ihrer Jugend nicht mehr fremd. Aber Adalbert hielt seine Gabe mit einem so freundlichen Lächeln hin, mit einem so bittenden Blick, daß sich der Größte endlich heranwagte und eine Kastanie nahm. Zwei andere Jungen folgten, ein ganz kleiner und ein hinkender, und dann kamen die andern und griffen mit beiden Händen in den immer wieder sich erneuernden Vorrat, so lange, bis die Platte des kleinen Ofens leer war. Nachdem Adalbert noch Geld unter sie verteilt und auch den Verkäufer beschenkt hatte, durchbrach er den Kreis der Zuschauer und suchte weiter. Unter einer roten Laterne saß ein blinder Mann, der eine Harfe zwischen den Knien hielt und die kalten Hände durch Anhauchen zu erwärmen suchte. Das kleine Mädchen neben ihm hatte die Füße unter den zerrissenen Rock gezogen und versteckte den Kopf unter seinem Arm, als wollte es nicht sehen, wie dunkel und einsam schon die Straßen waren, wie traurig und ungewiß die Wege, die sie den Mann zu führen hatte. In dieser Pause eines gehetzten Lebens, das von Wirtshaus zu Wirtshaus ging, kam die Hoffnungslosigkeit eines Daseins zum Bewußtsein. Nun, da man Zeit hatte, zu sich zu kommen, übersah man die öden Strecken, die man schon zurückgelegt hatte, und sah zugleich auch, daß sich der Weg nach vorwärts in der Nacht verlor. Alles dies las Adalbert aus der Haltung der zusammengekauerten Gestalten, aus dem müden Lehnen der Schultern an der kalten Mauer, aus dem Aneinanderschmiegen der beiden Körper, denen die Berührung der einzige Trost war. Sein Herz wurde ihm plötzlich so schwer, daß er glaubte, es müsse in der Brust sinken. Mit einem Wort des Mitleids hielt er an und nahm eine große Banknote aus seiner Brieftasche. Der Mann, der ein Almosen erwartet hatte, fühlte ein Papier in seiner Hand und glaubte sich von einem rohen Gesellen, von einem Spaßvogel zum Besten gehalten. »Vatterl, Vatterl«, flüsterte das Kind, »um Gottes willen, Geld ... Geld!« und im Schein der roten Laterne buchstabierte sie: »Hun ... dert.« So plötzlich erhob sich der Blinde, daß die Harfe mit einem jähen Aufschrei aller Saiten zu Boden fiel. »Wo ... wo ... ist?« Aber Adalbert war schon gegangen und hatte rasch eine Nebengasse eingeschlagen. An einem dunkel fließenden, schmutzigen Mühlgraben hin erreichte er einen kleinen Platz, wo die neue Stadt an das alte Viertel stieß. Hier begann die immer geschäftige, rücksichtslose Sucht nach Erneuerung gegen die Burg der Vergangenheit vorzudringen. Schon war eine Bresche in ihren äußersten Umkreis gerissen, und die Trümmerhaufen abgebrochener Häuser zeigten von dem ersten Erfolg der Stürmer. Noch hielt die alte Stadt diesseits ihre Schweigsamkeit, die Dunkelheit ihrer Gäßchen und den trüben Schimmer ihrer Laternen fest. Aus dem an morschen Brettern vorbeigleitenden Mühlgraben erhoben sich die kleinen Häuser mit den spärlich beleuchteten Fenstern, den schiefen Schornsteinen und den wackeligen Holztreppen, die zum Wasser niederführten, als wollten sie den Bewohnern immer Gelegenheit geben, die Schatten des geräuschlosen Wassers und die verworrenen Spiegelbilder der trüben Laternen aufzusuchen. Jenseits aber stiegen die großen, breiten Fronten aus dem Lärm einer stark belebten Gasse, wie die ersten eisernen Glieder eines heranrückenden Heeres: auch darin einem Heere vergleichbar, daß sich keines der Häuser von dem andern unterschied und daß sie mit derselben Unerbittlichkeit nur einem einzigen Zweck zu gehorchen schienen. Mitten in der Bresche aber, auf der Grenze zwischen beiden Parteien stand eine aus Leinwand und Latten hergestellte Bude, über deren Eingang mit großen, vom Regen verwaschenen Buchstaben gemalt war: »Fotografie«. Mit einem Male war es Adalbert, als sei diese Bude noch trostloser, als sei das Leben der Menschen, die hier ihr ärmliches Auskommen suchten, noch hoffnungloser als alles, was er heute abend schon gesehen hatte. Ein Leben, das so eng zu den alten Häuschen, zu dem stillen Mühlgraben dahinter gehörte, wagte sich bis an die Grenze seiner Heimat vor, wie ein Vertriebener, der verzweifelnd zum Feinde übergehen möchte. Adalbert versuchte es, den Vorhang vor diesem traurigen Spiele wegzuziehen, aber die Bude war verschlossen, der Eigentümer hatte sich irgendwo in einem Schlupfwinkel verborgen. Mit dem Entschlusse hierher zurückzukehren und zu helfen, ging er durch den Lärm der Stadt. Es war ihm, als hätte er sich erst dadurch ganz rein und würdig gemacht, das Glück der wunderbaren Begegnung zu tragen, als baue sich auf diesem Grund seine Hoffnung auf.
In der Säulenhalle saß Elisabeth mit einem Buche in ihrem mit einem weißen Eisbärenfell bedeckten Schaukelstuhl, von zwei Jaspissäulen behütet, und hinter ihrem Kopf spann die Dunkelheit des Parkes. Ganz von seiner neuen Welt erfüllt, von einer fast unerträglichen Spannung, die nach Auslösung drängte, beunruhigt, vermochte ihr Adalbert nichts zu verschweigen. Er sprach unbedenklich von seiner aus dem Wohltun quellenden Glückseligkeit, von der Rechtfertigung seines Lebens. An Elisabeths Seite stehend und in den Anblick ihrer schlanken, weißen Hände vertieft, erzählte er ihr alles – bis auf diese wundersame Begegnung, bis auf die leuchtende Stunde im Dom. Es war ihm, als habe er sich durch seine Geschenke von der Schmach seiner Knechtschaft befreit, als könne er sich nun auch vor Elisabeth freudiger und seines Wertes bewußter geben.
Mit einem seltsamen Blick, der zwischen den noch mit den winterlichen Glasscheiben verbundenen Säulen etwas zu suchen begann, sah Elisabeth geradeaus und hielt den Schaukelstuhl mit dem linken Bein in Bewegung. Unter dem hochgezogenen Saum des weißen Rockes schien dieser Fuß irgendeinem besonderen und eigensinnigen Gedanken zu gehorchen, schien durch seine immer wiederholte Bewegung nachdrücklich etwas zu bekräftigen, bis sich Adalbert durch Elisabeths Schweigen und diese Bewegung des Fußes verwirrt, in seiner Erzählung unterbrach.
»Sie haben sich täuschen lassen, mein lieber Freund,« sagte Elisabeth endlich. »Das ehrt Ihr Herz, aber nicht Ihren Verstand. Wie wenig kennen Sie die Welt. Kein Wunder, da Sie erst so kurze Zeit in ihr leben. Aber hier, hier hätten Sie doch schon einiges lernen können.« Elisabeth sah um sich, mit so glühenden, hassenden Augen, daß sich Adalbert an den plötzlichen Ausbruch in den Salzseeaugen ihres Vaters erinnern mußte. Als ob unter ihren Blicken die Jaspissäulen schmelzen, die hundert Kostbarkeiten des Raumes versengt von den Wänden fallen müßten, sah Elisabeth um sich. Der schmale Fuß unter dem schmalen Rocksaum schlug einen schnelleren Takt. »Was glauben Sie, was Sie Gutes gestiftet haben? Sie Argloser! Wenn Sie den Menschen gefolgt wären, die Sie beglückt haben, wenn die Maske gefallen wäre, mit der es den Leuten gelungen ist, Ihr Mitleid zu erregen, so hätten Sie Wunder erleben können. Der Harfenspieler legt jetzt sein Vermögen wohl für einen kapitalen Rausch an, freut sich, einmal nach Herzenslust trinken zu können, und fällt, nachdem ihm seine Genossen bei einem Teil seiner Freuden Gesellschaft geleistet haben, in einen Winkel, wo sie ihm den Rest seines Geldes stehlen werden, wenn das Kind, das er einige Nächte aus einer Schenke in die andere geschleppt hat, aus Ermüdung eingeschlafen ist. Nicht anders ist es mit den Eltern der Jungen, denen Sie Gelegenheit zu unbesonnenen und widerlichen Ausschreitungen gegeben haben. Ich nehme an, daß das arme Weib ein hungerndes Kind daheim hat, für das es auf die Straße ging. Aber die Frau hat doch sicher auch einen Mann, der ihr, nachdem er sie durchgeprügelt hat, das Geld abnimmt und es mit anderen Weibern durchbringt.«
Mit harten und unerbittlichen Worten sprach das Mädchen sein Urteil aus, als sei es in den Seelen jener Menschen heimisch, als sei ihm die Zuchtlosigkeit der Armut vertraut, als kenne es die widrigen Dünste der Verkommenheit. Sie schien, in ihrem Schaukelstuhl zurückgelehnt, mit dem schweren Knoten ihrer schönen Haare unter dem Haupt wie eine Blüte, die, aus Sumpfboden in ein prachtvolles Gewächshaus versetzt, doch alle scharfen Gerüche ihres Ursprungs bewahrt hat. Adalbert erinnerte sich, im Glashaus des Parkes eine schöne, sonderbar geformte Blume gesehen zu haben, die mit fleischigen Lippen, in einen kostbaren getigerten Pelz gehüllt, auf Fliegen lauerte. Wenn sich eine von ihnen, von ihrer Pracht verführt, in den Kelch wagte, so schlossen sich die lüsternen Lippen, und die unter heißen Farben verborgenen, grausamen Dornen drangen in die zuckenden Leiber. Woher hatte dieses Mädchen die verruchte Sicherheit, diese schwesterliche Kenntnis aller Niedertracht? Wie in einem blassen Licht saß sie da und bewegte den Schaukelstuhl mit schmalem Fuß. Adalberts Gedanken stürzten auseinander, ein in Auflösung begriffenes Heer, eine Schar, die von plötzlichem Schrecken überfallen, alle Besinnung verloren hat. Warum nahm sie ihm seine Freudigkeit, warum tauchte sie seine Opfer in Gift, warum ließ sie ihm auch nicht eine seiner glücklichen Täuschungen? Und als Elisabeth nicht aufhörte, ihm zu beweisen, daß es niemand wert sei, sich seiner zu erbarmen, als sie ohne Aufenthalt mit immer schärferen Worten von der allen Menschen gemeinen Würdelosigkeit sprach, als sie immer wütender mit einem sprühenden Haß ihr kaltes und unerbittliches Herz enthüllte, da verbeugte sich Adalbert und verließ sie ohne ein weiteres Wort, mit einem bitteren Geschmack im Mund, daß sie plötzlich verstummend allein in der Halle zurückblieb. Er ging in den Park hinab und schritt lange in der Dunkelheit zwischen den hohen Hecken auf und ab; er ging an den Wundern der Nacht vorbei, ohne eines von ihnen zu sehen, ohne auf das Flüstern der Gebüsche zu hören, in denen gute Freunde seiner einsamen Stunden steckten. Seine ganze Aufmerksamkeit war darauf gerichtet, das Gift, das Elisabeth in ihn gegossen hatte, wieder auszuscheiden, und er glühte seine Kraft in einem heiligen Zorn, in einer ehrlichen Entrüstung. Jedesmal, wenn er an das Ende seines Stollens kam, und wenn der Schein der beleuchteten Glasscheiben in der Halle bis zu seinen Füßen vordrang, kam ihm die Lust, einen der Kiesel vom Weg aufzuraffen und gegen die Scheiben zu schleudern.
Zwischen breiten, dunkeln Bäumen fing sich ein Teil des Glanzes auf den Scheiben des Glashauses. Adalbert sah regungslose Palmen, die ihre Blätter an das Glas drückten, als strebten sie in diese ihnen fremde Welt hinaus. Fern, in Tiefen des gläsernen Hauses tanzte ein Licht zu der Arbeit des Gärtners. Und plötzlich kam der Zorn Adalberts, der schon vor der königlichen Pracht dieser Nacht gewichen war, zurück. Er riß die Tür auf und schritt in der schwülen Luft wie in einem lauen Bade. Von seiner Arbeit aufsehend, zog der Gärtner die Mütze ab, die er selbst hier in dieser Wärme niemals ablegte. Ohne sich um das Erstaunen des Mannes zu kümmern, befahl ihm Adalbert, mit dem Licht zu den Orchideenbeeten voranzugehen. Da standen sie in unzähligen Reihen, eine Sammlung aller erdenklichen Spielarten, eine Mischung der sonderbarsten Farben und Formen, mit breiten, herabhängenden Lefzen, mit grotesken Kronen wie Narrenkönige, mit Freßzangen und roten Zungen, mit weiten Mänteln und Verschwörermasken, mit funkelnden Stiletten und blutüberronnenen Lanzenspitzen. Einige waren dunkel wie Mönche, aber in ihren verkrümmten Gestalten verbarg sich eine verhaltene Gewalttätigkeit, andere schrien im Licht der Gärtnerlampe in brünstigen, grellen Farben auf, in einem begehrlichen Rot, in einem giftigen Gelb, in einem unzüchtigen Blau. Wie aufgedunsene Leichen schienen einige auf der Dämmerung der Beete zu schwimmen, andere ragten hoch und steil wie erzene Jungfrauen, die den Mann töten, der sie liebt. So standen sie in unzähligen Reihen, ließen sich von der warmen Luft kosen, und man sah fast, mit welch widerlicher Gier sie dem Boden ihre Nahrung entzogen. Alle waren sie wach, alle sahen mit weit offenen Augen nach Adalbert hin, und alle schienen mit wollüstiger Schamlosigkeit ihre Kelche der Nacht zu öffnen wie Frauen, die sich an das Verbrechen verkaufen. Ihrer Macht gewiß, riefen sie einander zu, begehrlich und höhnisch zugleich, schadenfroh und kaum verhohlener Bosheit voll. Und plötzlich, ohne daß vorher irgendeine Warnung kam, brach es in Adalbert los. Mit weit ausgebreiteten Armen warf er sich über das Bett hin, zerdrückte und brach die Blüten unter seinem Leib, riß mit den Händen aus, was er erreichen konnte, stampfte, schlug um sich, wühlte die Erde auf und warf die zerquetschten Pflanzen hinter sich. Vor Schreck zitternd stand der Gärtner, brachte kein Wort heraus und leuchtete dem Wütenden zur Vernichtung. Adalbert raste hierhin und dorthin, kreuz und quer über das ganze Beet, trat alles unter die Füße und knieet dann plötzlich nieder, um in kleinerem Umkreis um so grimmiger zu wüten. Als er müde war, erhob er sich, blaß und stolz, als ob er einen schweren Sieg erfochten hätte, und ging an dem noch immer sprachlosen Gärtner vorbei aus dem Glashaus.
Der nächste Morgen brachte dem Erwachenden mit der Besinnung die tiefste Scham. Alle Siegerherrlichkeit war von ihm genommen, er stand seiner Tat wie ein Fremder gegenüber, wie einer, der unter dem Einfluß eines fremden Willens auf einen Weg gebracht wurde, den er nie selbst gewählt hätte. Das Unbegreifliche stand vor ihm, ein nackter Felsen, dessen Gipfel von Wolken verhüllt ist. Vergebens suchte er nach Zusammenhängen. Warum hatte er so gewütet? Hatte er nicht bei allem noch dem Glück zu danken, daß er der Zerstörerin nicht auch sein wunderbarstes Erlebnis von gestern abend bekannt hatte? Was lag an dem andern, da ihm das Wichtigste unangetastet geblieben war. Wie ein Sünder schlich er zum Frühstückstisch, in der Erwartung einer vernichtenden Strafe. Man wußte hier wohl schon von seiner Raserei. Elisabeth sah ihn sonderbar an, und ihre blassen Lippen bewahrten ein Wort, dessen Bild schon verschleiert in ihrem Auge stand.
Bezug sagte: »Heute nacht hat ein Sturm unser Orchideenbeet vernichtet.« Und Frau Agathe, die niemals von dem, was sich um sie herum ereignete, eine Ahnung hatte, fragte verwundert: »Ach, wie ist das möglich, heute nacht gab es doch keinen Sturm?«
Mit einem leichten Achselzucken sah Bezug nach Adalbert. Das war alles. Aber als der Dichter nach Beendigung der Tafel an Elisabeth vorbeiging, sprach diese leise das Wort aus, das sie für ihn bewahrt hatte: »Wüterich!« Ihre Augen lächelten. An der Tür sah Adalbert noch einmal zurück und bemerkte, wie Rudolf Hainx mit einem finsteren, gleichsam flutenden Blick eine Frage, einen Vorwurf, eine stumme bedeutsame Warnung in Elisabeths Gesicht warf.
Adalberts Beschämung vermochte die Rückkehr des Glückes nicht aufzuhalten. Nachdem er sich einen Tag lang gequält hatte, war es auf einmal da, gleich dem Glanz in der Nacht, gleich diesem aus unermeßlichen Höhen herabsteigenden Strahlen, erfüllte ihn ganz wie Musik, wie das dankbare Gefühl, das ihn über sich selbst erhob, wenn ihm ein schönes Gedicht gelungen war. Er hatte den Menschen gefunden, den er gesucht hatte, riß ihn in Gedanken zu sich auf seine weiße Klippe und ließ die Welt unten branden. Lachend schüttelte er die Tropfen aus dem Haar, und lachend zeigte er dem Mädchen den vergeblichen Sturm der Wogen gegen ihre kühne Einsamkeit. Ganz in sein Geheimnis eingehüllt, glaubte er sich sicher und bewahrte sein Glück, ein köstlicher Schrein, der noch köstlichere Steine enthält. Wie ein weiser Genießer schob er es einige Tage lang auf, das Viertel hinter dem Dom zu besuchen und ging indessen in den anderen Stadtteilen umher, ganz von dem Druck seiner Ketten befreit wie damals, als er unwissend und vertrauensvoll in die Stadt gekommen war. Er gab sich an die kleinen Szenen der Straße hin, war imstande, lange dem geschäftigen Gebaren irgendeines Hundes zuzusehen, einen Dienstmann zu beobachten, der faul an der Straßenecke lehnte, oder in abseits gelegenen Gassen spielenden Kindern einen halben Tag zu schenken. Auf den belebten Plätzen fand er die Frauen heraus, die irgendeine Ähnlichkeit mit dem Mädchen aus dem Dom hatten, und folgte ihnen in weiter Entfernung, um sie nicht zu belästigen. Endlich, nachdem er sich lange genug des Wiedersehens enthalten hatte, erhob er sich eines Morgens mit dem Entschluß, zu ihr zu gehen. Er war so ganz voll Zuversicht wie damals, als er sie gefunden hatte, und zweifelte nicht einen Augenblick daran, daß er sie wiederfinden müsse. Wie zu einem Fest stieg er die Stufen zum Dom hinauf, ging zwischen den beiden Heiligen mit den kalten, leeren Augen, die auf ihren Sockeln wie fromme Wächter standen, hindurch und betrat zur selben Stunde wie damals den Platz vor dem Hause des Eleagabal Kuperus. Mitten auf dem Platz blieb er stehen und sah um sich. Wenige Leute waren auf dem Wege; in einer Seitengasse hörte er kreischend, laut die Auszählreime jauchzender Kinder:
»Ich und du,
Mül–lers – Kuh,
Mül–lers E–sel
der – bist – du!«
und ein Gelächter, das über das letzte Wort hereinbrach. Dann fing ein Mädchen mit einer ganz dünnen, hohen, wie ein Draht ausgezogenen Stimme ein anderes Verslein an:
»Eins, zwei – Polizei; drei, vier – Grenadier« bis »neun, zehn – schlafen gehn.« Von den Gemälden an des Eleagabal Kuperus' Haus war bei diesem trockenen Wetter nichts zu sehen, so sehr auch Adalbert nach ihren Umrissen suchte. Nur die Hand, diese so sonderbar lebendig aussehende Hand, hielt den Schlüssel, als reiche sie ihn jemandem hin, als wünsche sie, daß man ihn nehme und sich seiner bediene. Die Tage waren schon ein wenig länger geworden und gaben selbst zu späten Stunden noch Licht genug, aber Adalbert wechselte, von dem einen Gedanken gepeinigt, ihr Bild zu sehen, die Musik ihres Leibes, den Rhythmus ihrer Geste zu genießen, vergebens den Standpunkt. Als er an dem einen der beiden steinernen Heiligen vorbeikam, der seinen Kopf mit einer gewagten Drehung gegen den Himmel hielt, als sei er ihm vor Hingebung an das Überirdische aus dem Wirbel gesprungen, da sah er, daß um seine betend gefalteten Hände ein kleiner Kranz aus Frühlingsblumen: Leberblümchen, Krokusblüten und einigen bebenden schüchternen Veilchen geschlungen war. Und einer plötzlichen Eingebung folgend, ohne sich im geringsten Rechenschaft über ihre Entstehung, über ihr Erscheinen zu geben, glaubte er zu wissen, daß diese Blumen von dem Mädchen herkamen. Er sah sich um, und als er den Domplatz wie ausgestorben hinter sich liegen sah, griff er nach den Blumen, nahm sie dem Heiligen fort und steckte sie nachdem er sie geküßt hatte, in die Brusttasche. Als wäre ihm nun das Warten leichter geworden, stand er geduldig bis in die Nacht hinein, bis ein Mann in einem weißen Kittel die Gaslaternen an der Ecke entzündete, und erst als die Türen des Domes von dem kleinen Kirchendiener geschlossen wurden, wandte er sich zum Gehen.
Nach einigen Wochen vergeblichen Wartens wich seine Sehnsucht in die Schatten des Unerfüllbaren zurück. Einige Male war er nahe daran, die alte Frau Swoboda nach dem Mädchen zu fragen, aber wenn er neben ihr stand, drückte er ihr ein Geldstück in die welke, kalte Hand, und auf ihre Frage, für wen sie beten solle, antwortete er ihr mit einem gedrückten und traurigen Ton: »Für alle zusammen, für alle zusammen.« In der Vorstellung der Frau Swoboda, die unter allen guten Werken der Opferung von Kerzen für die Seelen im Fegefeuer den Vorzug gab, setzte sich ein übertriebener Begriff von der Frömmigkeit des jungen Mannes fest; sie versäumte nicht, den Kirchendiener und ihre Freundinnen auf ihn aufmerksam zu machen, so daß sich bald, wenn er den Dom betrat, alle Köpfe nach ihm umsahen. Um so erstaunter war sie, als er nach einiger Zeit ausblieb, und bedauernd schloß sie, daß er abgereist sei und nun anderen Kirchen seine frommen Gaben zuwende.
Adalbert war aber nicht abgereist, er hatte nur das Suchen aufgegeben. Er verschloß sein zartes Abenteuer in sich und lebte nur der Erinnerung, in der manchmal die Sehnsucht ihre schillernden Flügel hob. Und da er dem Mädchen in seinen Träumen einen Namen geben wollte, nannte er sie seine Königin oder mit einem lateinischen Wort, das er vom Gärtner für eine schlanke, wundersame Palme gehört hatte: Regina. Groß und schwer wie eine sinkende Wolke kam die Entsagung in sein Leben und hüllte seine Seele ein. Alle Wünsche, aller Zorn verschwanden in ihrem Grau, und er vermochte wieder mit stiller Freundschaft des Domes, der krummen Gassen und der jauchzenden Kinder zu gedenken.
In dieser Zeit floß seine Liebe in zarte, von mildem Schein überstrahlte Gedichte. In dieser Zeit aber verlangte Bezug glühende Phantasien, trunkene orgiastische Worte, sinnenaufreizende Rhythmen von ihm. In dieser Zeit brachte er dem Dichter zur Anfeuerung die Gräfin. Eines Tages, als das Weib eben von ihm gegangen war, folgte er ihr nach kurzer Zeit und traf Elisabeth auf der Stiege. Er sah sogleich, daß das Mädchen ihr begegnet sein mußte und daß sie wußte, woher die Gräfin kam. »Nun, mein Prinz,« sagte sie, »Sie können sich über Ihren Herrn nicht beklagen. Seine Hand ist offen und sein Herz nicht kleinlich; er teilt von dem, was sein ist, gerne aus.« Es war unmöglich an Elisabeth vorbeizukommen. »Sie irren,« sagte Adalbert, »es ist nicht das zwischen uns, was Sie glauben.«
»Rein wie Eis und keusch wie Josef«, lachte Elisabeth, und in diesen Worten war neben dem Spott, den Adalbert nur fühlte, nicht verstand, noch etwas anderes, in tieferen Gründen Zitterndes. Sie gab ihm den Weg frei, und Adalbert ging fort, als hätte er einen Schlag erhalten und wußte, ohne sich umzuwenden, daß Elisabeth oben stehenblieb und ihm nachsah.