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Am südlichen Ufer der finischen Bucht lag das kleine Dorf Strelna, halbwegs zwischen Petersburg und dem angefangenen Peterhof. Am Ende des Dorfes am Bach Strelka stand ein einfaches Landhaus unter Eichen und Kiefern, und es war rot und grün angestrichen; die Fensterläden waren noch geschlossen, denn es war erst vier Uhr an einem Sommermorgen.
Die finische Bucht lag glatt unter der aufgehenden Sonne. Eine holländische Kogge, die in den Hafen bis zur Admiralität gewollt hatte, aber nicht weiter als bis zur Höhe von Strelna gekommen war, zog jetzt die Segel ein und ging vor Anker. Auf dem Grosstopp führte sie eine Flagge, die aber nicht flatterte.
Neben dem rotgrünen Landhaus stand eine uralte Linde mit gespaltenem Stamm; in der Klammer war ein Holzboden mit einem Geländer angebracht, und zu dieser Laube führte eine Treppe hinauf.
In der frühen Morgenstunde sass ein Mann oben im Baum an einem Tisch, der nicht gestrichen war und hinkte, und schrieb Briefe. Der Tisch war mit Papieren beladen; es war aber noch Platz für eine Standuhr, der das Glas fehlte, einen Kompass, ein Reiszeug und eine grosse Klingel aus Bronze.
Der Mann sass dort im Hemdärmeln, hatte die gestopften Strümpfe umgekrämpt und grobe Schuhe an; sein Kopf schien unglaublich gross zu sein, war in Wirklichkeit aber nicht so gross; der Hals war der eines Stiers und der Körper der eines Riesen; die Hand, die jetzt die Feder führte, war grob und teerig; die Feder schrieb träg, die Zeile etwas schief, aber schnell.
Die Briefe waren kurz, sachlich, hatten keine Einleitungen und keine Abschlüsse, waren nur unterzeichnet mit Pe ter, in zwei Teilen, als sei der Name unter der schweren Hand entzwei gegangen.
Es gab wohl eine Million des Namens im russischen Reich; aber dieser Peter war der Einzige, der galt, und niemand verkannte die Unterschrift.
Die Linde sang von Bienen und Hummeln, der kleine Strelkabach brodelte wie ein Teekessel, und der Sonnenaufgang war herrlich; die Strahlen fielen zwischen das Laub der Linde ein und warfen helle Flecke auf das ungewöhnliche Gesicht eines der ungewöhnlichsten und unbegreiflichsten Männer, die je gelebt haben.
Jetzt sah dieser feine Kopf mit dem kurzen Haar wie der eines wilden Schweines aus; und wenn der Schreiber wie ein Schuljunge an der Gänsefeder sog, zeigten sich Zähne und eine Zunge wie die eines schildhaltenden Löwen. Jetzt zog sich das Gesicht in furchtbarem Schmerz zusammen wie bei einem Gefolterten, Gekreuzigten. Dann aber nahm er ein neues Blatt, begann einen neuen Brief: und nun leuchtete es von der Feder, der Mund lächelte so, dass die Augen verschwanden, und der Furchtbare sah schelmisch aus.
Neues Papier; ein kleines Billet, das jedenfalls an eine Dame gerichtet war; und nun veränderte sich die Maske in die eines Satyrs, löste sich in dekorative Linien auf und explodierte schliesslich in ein lautes Lachen, das einfach zynisch war.
Die Morgenkorrespondenz war beendet. Der Zar hatte fünfzig Briefe geschrieben. Er liess sie unversiegelt. Kathia, sein Weib, sollte sie zusammenlegen und siegeln.
Der Riese reckte sich, erhob sich mit Mühe und warf einen Blick auf die Bucht hinaus. Mit dem Fernglas sah er sein Petersburg und seine Flotte das angefangene Kronstadt mit der Festung, und schliesslich entdeckte er die Kogge.
– Wie ist die ohne Salut hereingekommen? dachte er. Und wagt unmittelbar vor meinem Haus auf die Rhede zu gehen!
Er klingelte, und sofort kam ein Kammerdiener aus der Zeltreihe gelaufen, die hinter den Kiefern verborgen lag und Wache wie Bedienung beherbergte.
– Fünf Mann ins Boot, hinaus und die Schute gepreit! Kannst du sehen, was es für ein Landsmann ist?
– Das ist ein Holländer, Majestät!
– Holländer! Bring den Kapitän tot oder lebend her! Sofort! Auf der Stelle! ... Aber erst meinen Tee!
– Das Haus schläft, allergnädigster Herr!
– Dann weck es, du Esel! Klopf an die Laden, schlag die Tür ein! Am hellen Tag schlafen!
Er klingelte wieder; ein anderer Diener erschien.
– Tee! Und Branntwein! Viel Branntwein!
Die Diener liefen, das Haus wurde geweckt und der Zar vertrieb sich die Zeit damit, dass er auf Schiefertafeln Notizen machte. Als er ungeduldig wurde, stieg er hinunter und schlug mit dem Stock gegen alle Fensterläden. Da war von innen eine Stimme zu hören:
– Aber warte doch!
– Nein, das will ich nicht; ich bin nicht zum Warten geboren. Beeile dich, sonst steck ich das Haus in Brand!
Er ging in seine Gärten hinaus, warf einen Blick auf die Arzneipflanzen, rupfte etwas Unkraut und begoss hier und dort. Ging in den Viehstall und musterte seine Merinoschafe, die er selber eingeführt hatte. Fand im Stall einen entzweigeschlagenen Stand: nahm eine Säge und einen Hobel und machte ihn wieder in Ordnung. Warf seinem Lieblingspferd etwas Hafer in die Krippe; er fuhr meist, wenn er nicht zu Fuss ging; das Reiten war nach seiner Ansicht eines Seemanns unwürdig; und er wollte vor allem andern Seemann sein. Darauf ging er in die Drechslerwerkstätte und trat einmal die Drehbank. Am Fenster aber stand ein Tisch mit dem Zubehör eines Kupferstechers; mit dem Stichel zog er einige Linien, die in der Karte fehlten. Er wollte gerade zur Schmiede, als eine weibliche Stimme ihn unter die Linde rief.
Oben im Baum stand jetzt seine Gattin, die Zarin, im Morgenrock. Ein Weib von groben Gliedern und grossen Füssen; das Gesicht war fett und unschön, die Augen sassen nicht gerade im Kopf, sondern strammten in den Fassungen.
– Wie früh du heute auf bist, Väterchen!
– Ist es früh? Es ist doch sechs!
– Es ist erst fünf!
Der Zar sah nach der Uhr.
– Fünf? Dann soll es sechs werden!
Damit schob er den Zeiger eine Stunde vor. Die Frau lächelte nur, etwas überlegen, aber nicht aufreizend; denn sie wusste, wie gefährlich es war, diesen Mann zu reizen. Und dann servierte sie den Tee.
– Dort hast du Beschäftigung, sagte Peter auf die Briefe zeigend.
– Das sind aber viele!
– Sind es zu viele, so kann ich Hilfe nehmen.
Die Zarin antwortete nicht, sondern begann die Briefe durchzusehen. Das hatte der Zar gern, dann bekam er Stoff zum Streiten; und er wollte immer streiten, um seine Kräfte rüstig zu erhalten.
– Verzeih, Peter, sagte die Frau, aber ist es recht, dass du dich wegen der holländischen Schiffe an die schwedische Regierung hältst?
– Ja, das ist recht! Alles, was ich tue, ist recht!
– Das verstehe ich nicht! Unsere Russen schiessen aus Missverständnis auf friedliche holländische Schiffe; du forderst von den Schweden Schadenersatz, weil das Unglück im schwedischen Fahrwasser geschah ...
– Ja, nach römischem Recht wird das Verbrechen in dem Land gesühnt, in dem es begangen ist ...
– Ja, aber ...
– Einerlei: wer bezahlen kann, bezahlt; ich kann nicht und die Holländer wollen nicht, darum müssen die Schweden! Verstehst du?
– Nein!
Die Schweden haben den Türken auf mich gehetzt; das sollen sie bezahlen!
– Mag sein! Aber warum schreibst du hier so unfreundlich an die holländische Regierung, da du die Holländer doch liebst?
– Warum? Weil Holland seit dem Frieden von Utrecht im Niedergang ist. Mit Holland ists aus: auf den Kehrichthaufen mit dieser Republik! Jetzt kommt England! Ich halte mich an England, seit es mit Frankreich auch abwärts geht!
– Soll man seine alten Freunde verlassen ....
– Gewiss, wenn sie nichts mehr taugen! Übrigens: keine Freundschaft in Liebe und in Politik! Glaubst du, ich liebe diesen elenden August von Polen? Nein, das glaubst du nicht! Aber ich muss mit ihm durch Dick und Dünn gehen, für mein Land, für Russland! Wer seine kleinen Launen und Leidenschaften nicht dem Vaterland opfern kann, der wird ein Don Quichote wie Karl der Zwölfte. Dieser Tor hat mit seinem unsinnigen Hass gegen August und mich an Schwedens Untergang und Russlands Zukunft gearbeitet. Dass aber dieser christliche Hund den Türken auf uns hetzte, das war ein Verbrechen gegen Europa, denn Europa bedarf sein Russland gegen Asien. Sass der Mongole nicht zweihundert Jahre hier und drohte? Und als unsere Vorfahren ihn schliesslich hinausgejagt hatten, kommt so ein Ritter und zieht den Heiden von Konstantinopel ins Land! Der Mongole stand ja einmal in Schlesien und hätte das Abendland verheert, wenn wir Russen es nicht gerettet. Karl der Zwölfte ist jetzt tot; aber ich verfluche sein Andenken, und ich verfluche jeden, der mich in meinem löblichen Vorhaben zu hindern sucht, Russland aus einem westlichen Asien zu einem östlichen Europa zu machen. Ich schlage jeden nieder, wer es auch sein mag, der an mein Werk rührt, und wäre es auch mein eigener Sohn!
Jetzt wurde es still. Die letzten Worte berührten die empfindliche Frage nach Peters Sohn aus erster Ehe, Alexej, der in der Peter-Paulfestung gefangen sass und sein Todesurteil erwartete, da er überführt war, der Arbeit seines Vaters an der Zivilisierung Russlands entgegengearbeitet, und ausserdem im Verdacht stand, an Versuchen zu Aufruhr teilgenommen zu haben. Die geschiedene erste Frau Eudoxia, war im Kloster Suzdal eingesperrt.
Katharina liebte natürlich Alexej nicht, weil er ihren Kindern im Weg stand, und sie sah gern, dass er starb; sie wollte aber nicht die Schuld haben. Und da Peter auch nicht die Schuld auf sich nehmen wollte, hatte er einen Gerichtshof von einhundertsiebenundzwanzig Personen eingesetzt um den Sohn zu richten.
Das Thema wurde darum ungern behandelt, und mit seiner unglaublichen Fähigkeit, Gedanken und Gefühle zu wechseln, unterbrach Peter das Schweigen mit der banalen Frage:
– Wo ist der Branntwein?
– Du kriegst so früh keinen Branntwein, mein Junge!
– Kathrina! sagte Peter mit einem gewissen Akzent, während das Gesicht zu zucken begann.
– Sei ruhig, Löwe! antwortete die Frau und strich seine schwarze Mähne, die sich gesträubt hatte. Und aus einem Korb nahm sie eine Flasche und ein Glas.
Der Löwe heiterte sich auf, schlürfte das starke Getränk hinunter, lächelte und streichelte den gewaltigen Busen seiner Gattin.
– Willst du die Kinder sehen? fragte Katharina, um ihn in eine mildere Stimmung zu bringen.
– Nein, nicht heute! Sie haben gestern Schläge bekommen, und sie sollen nicht etwa glauben, dass ich hinter ihnen herlaufe! Halte sie dir fern, halte sie unter dir, sonst kommen sie über dich!
Katharina hatte das letzte Billett wie in Gedanken genommen und zu lesen begonnen. Jetzt errötete sie; dann riss sie den Brief entzwei:
– Du musst nicht an Schauspielerinnen schreiben! Das ist eine zu grosse Ehre für sie, und wir haben nur Schande davon.
Der Zar lächelte und wurde nicht böse; denn er hatte nicht die Absicht gehabt, das Billett abzuschicken, sondern es nur hingekritzelt, um seine Frau zu reizen; vielleicht auch, um zu prahlen.
Unten im Sand waren Schritte zu hören.
– Sieh, da haben wir meinen Freund, den Schurken!
– Still, warnte Katharina. Menshikow ist dein Freund.
– Ein schöner Freund! Einmal habe ich ihn als Dieb und Betrüger zum Tode verurteilt; er lebt aber noch, dank deiner Freundschaft ...
– Still!
Menshikow (grosser Krieger, tüchtiger Staatsmann, Günstling, unentbehrlich, steinreich), in dessen Haus der Zar seine Katharina gefunden, kam die Holztreppe hinaufgestürzt. Er war ein schöner Mann von französischem Aussehen, trug sich reich und hatte feine Manieren. Er grüsste den Zaren zeremoniell und küsste Katharina die Hand.
– Jetzt sind sie wieder da! fing er an.
– Die Strelitzen? Habe ich sie nicht von der Erde ausgerodet?
– Sie wachsen nach, wie die Drachensaat, und jetzt wollen sie Alexej befreien.
– Weisst du etwas Näheres?
– Die Verschworenen kommen heute, abends am fünf Uhr, zusammen ...
– Wo?
– Auf der Strandlinie Vierzehn, bei einem scheinbar harmlosen Gastmahl ...
– Strand – Vierzehn, schrieb der Zar auf eine Tafel. Noch etwas?
– Und heute nacht um zwei Uhr stecken sie die Stadt in Brand ...
– Um zwei Uhr?
Der Zar schüttelte den Kopf, und sein Gesicht zuckte.
– Ich baue auf, und sie reissen nieder; jetzt aber will ich sie mit der Pfahlwurzel ausreissen. Was sagen sie?
– Sie sehen auf das Heilige Moskau zurück und halten Petersburg für eine Gottlosigkeit oder eine Bosheit. Die Arbeiter sterben wie Fliegen am Sumpffieber, und dass du, Zar, mitten im Morast gebaut hast, fassen sie als eine Prahlerei à la Louis Quatorze auf, der Versailles im Moorboden anlegte.
– Esel! Meine Stadt soll das Schloss der Flussmündung und der Schlüssel zum Meer sein, darum muss sie dort liegen; und der Sumpf soll zu Kanälen werden, die Boote führen, wie die von Amsterdam. Jaja, wenn Affen richten!
Er klingelte; ein Diener erschien.
– Das Kabriolett anspannen! rief er hinunter. Und nun lebwohl, Katharina; ich komme vor morgen nicht nach Haus. Es wird ein heisser Tag. Aber vergiss die Briefe nicht. Alexander kann dir helfen ...
– Willst du dich nicht ankleiden, mein Söhnchen? antwortete Katharina.
– Ankleiden? Ich habe ja den Säbel!
– Zieh doch wenigstens den Rock an!
Der Zar zog den Rock an, schnallte den Schmachtriemen, der den Säbel hielt, einige Dornen enger, ergriff den Stock und sprang mit einem Tigersprung aus dem Baum.
– Mags denn geschehen! flüsterte Menshikow Katharinen zu.
– Du hast doch nicht gelogen, Alexander?
– Etwas Lügen schmückt die Rede! Die Hauptsache ist erreicht. Morgen, Katharina, kannst du mit deinen Thronfolgern ruhig in der Kinderstube schlafen!
– Kann er Unglück haben?
– Nein! Er hat nie Unglück!
Der Zar lief an den Meeresstrand hinunter; er ging nämlich nie, sondern lief immer. »Das Leben vergeht schnell, pflegte er zu sagen, und wir haben viel auszurichten.«
Als er den Sandwall erreichte, begegnete ihm ein landendes Boot mit fünf Mann und dem holländischen Gefangenen. Der sass ruhig am Steuer und rauchte seine Pfeife. Als er den Zaren erblickte, nahm er seine Mütze ab, warf sie in die Luft und schrie Hurra.
Zar Peter beschattete die Augen, und als er seinen alten Lehrer und Freund Jaen Scheerborck aus Amsterdam erkannte, sprang er ins Boot, den Ruderern auf Schulter und Knie, stürzte Jaen in die Arme und küsste ihn so, dass die Tabakspfeife zerbrach und Feuer und Rauch dem Seemann um seinen grossen grauen Bart wirbelten.
Dann hob der Zar den Alten in die Höhe und trug ihn wie ein Kind auf seinen Armen ans Ufer.
– Endlich, du alter Schelm, habe ich dich hier bei mir! Jetzt sollst du meine Stadt und meine Flotte sehen, die ich selber gebaut habe; du hast michs ja gelehrt. Das Kabriolett her, Burschen, und einen Dregg aus dem Boot: wir wollen fort und lavieren! Schnell!
– Geliebtes Herz, sagte der Alte, die Tabaksasche aus seinem Bart zupfend; dass ich den Zar-Zimmermann gesehen habe, ehe ich sterbe, das ist ...
– Ins Kabriolett, Alter; hängt den Dregg hinten an, Burschen. Wo du sitzen sollst? Auf meinen Knien sollst du sitzen!
Das Kabriolett hatte nur für eine Person Platz, und der Kapitän musste wirklich auf dem Schoss des Zaren sitzen. Drei Pferde in einer Reihe waren vorgespannt, und ein viertes ging neben dem ersten.
Die Peitsche knallte und der Zar spielte, als sei er auf See.
– Gut Wind, was? Zwölf Knoten, schoten dort, so ja, so ja!
Ein Gattertor war zu sehen; und der Schiffer, der die wilden Manöver des Zaren, aber auch seine Geschicklichkeit kannte, begann zu schreien:
– Gattertor voraus, stopp!
Aber der Zar, der bei dem alten Freund aus früher Zeit seine Jugend wiedergefunden und mit seiner unverwüstlichen Jungenhaftigkeit Streiche und Gefahren liebte, schlug auf die Pferde los, pfiff und kommandierte:
– Voll und bei, guten Gang, so, klar zur Aktion, hopp!
Das Gattertor war genommen; es sprang vollständig ab; und der Alte lachte so, dass er auf den Knien des Zaren hüpfte.
So ging es den Strand entlang. Am Stadttor wurde geschultert und salutiert, auf den Strassen Hurra geschrien, und als sie nach der Admiralität kamen, wurden Kanonenschüsse gelöst und die Raaen bemannt. Der Zar aber, glaubend oder spielend, als sei er auf See, kommandierte:
– Ankern!
Damit warf er den Dregg so gegen die Wand, dass er an einem Fackelhalter festhakte, der sich bog, ohne zu brechen. Die Pferde aber, die noch im Laufen waren, wurden zurückgerissen und sanken auf die Knie. Das erste des Gespanns erhob sich nicht mehr; es war an den Folgen vom Entern des Gattertors verendet.
Drei Stunden später, als Flotte und Werft besichtigt waren, sassen der Zar und Jaen Scheerborck in einer Seemannskneipe. Das Kabriolett stand draussen und war am Strohdach verankert.
Branntwein war auf dem Tisch und die Pfeifen qualmten. Die beiden Freunde hatten von ernsten Dingen gesprochen. Der Zar hatte sechs Besuche gemacht, darunter einen sehr wichtigen in der Generalität, von dem er sehr erregt zu dem wartenden Schiffer herunterkam. Aber mit seiner unglaublichen Fähigkeit, Unangenehmes abzuschütteln und die Stimmung zu wechseln, strahlte er jetzt von Fröhlichkeit.
– Du fragst, woher ich die Einwohner für meine Stadt bekommen will? Ich zog erst fünfzigtausend Arbeiter her. Das war der Grundstock. Dann befahl ich allen Beamten, Priestern und grössern Grundbesitzern ein Haus zu bauen, jeder eins; ob sie dort wohnen wollten oder nicht! Und jetzt habe ich hunderttausend! Ich weiss, sie schwatzen und sagen, ich baue Städte, aber wohne selbst dort nicht. Nein, ich baue nicht für mich, sondern für die Russen. Moskau hasse ich, denn dort riechts nach dem Tartarenkhan; ich wohne am liebsten auf dem Lande. Das geht keinen was an. Trink, Alter! Wir haben den ganzen Tag vor uns; bis fünf Uhr. Dann muss ich nüchtern sein!
Der Alte trank vorsichtig und wusste nicht recht, wie er sich in dieser vornehmen Gesellschaft, die doch so matrosenhaft war, benehmen sollte.
– Jetzt musst du mir Geschichten erzählen; was die Leute über mich sprechen. Du kennst wohl eine Menge, Jaen?
– Ich kenne wohl welche, aber es ist nicht gut möglich ...
– Dann werde ich erzählen, sagte Peter. Kennst du die Geschichte vom Zirkel und Käse? Nein! Die ist so! Der Zar ist so geizig, dass er immer ein Reisszeug in der Tasche trägt. Mit dem Zirkel misst er das Stück Käse, um zu sehen, ob seit der letzten Mahlzeit etwas davon gestohlen ist! Die Geschichte ist gut! ... Oder diese: Der Zar hat einen Säuferklub. Einmal wollten sie ein Fest feiern, und da wurden die Gäste drei Tage und drei Nächte eingeschlossen, um zu trinken. Jeder Gast hatte eine Bank hinter sich, um den Rausch auszuschlafen; und daneben standen zwei Halbe Tonnen für jeden einzigen; die eine Tonne enthielt Futter für drei Tage, die andere war leer – und war zu einem geheimen Zweck bestimmt. Du verstehst doch ...
– Nein, das ist zu toll ...
– An solchen Geschichten ergötzt man sich in Petersburg. Hast du nicht gehört, dass ich auch Zähne ausziehe. In meinem Palast soll ein ganzer Sack voll Zähne sein! Und dann soll ich im Lazarett Operationen machen; neulich zapfte ich einem wassersüchtigen Weib so viel Wasser ab, dass es starb.
– Glauben die Leute das?
– Gewiss glauben sies! Sie sind so dumm, siehst du; aber ich werde ihnen die Eselsohren abschneiden und die Zunge versengen ...
Seine Augen begannen zu funkeln, und man sah, wohin seine Gedanken gingen. Aber wie offen er auch war: er schien Sperrhaken zu besitzen, so dass er selbst im Rausch seine grossen Geheimnisse verschwieg, während er die kleinen offenbarte.
Jetzt kam ein Adjutant herein und flüsterte dem Zaren etwas zu.
– Schlag fünf Uhr! antwortete der Zar mit lauter Stimme. Sechzig Grenadiere, mit scharfen Schüssen und Hirschfängern! Adieu!
– Jaen, fuhr der Zar fort, eine Volte im Gedankengang machend, ich werde deine Webstühle kaufen, aber ich gebe nicht mehr als fünfzig Rubel für das Stück ...
– Sechzig, sechzig ...
– Du Satan von einem Holländer, du Geizhals! Wenn ich fünfzig biete, so ists eine Ehre für dich! Ja, das ists!
Der Zorn stieg; aber der kam nachträglich und stand im Zusammenhang mit der Meldung des Adjutanten, durchaus nicht mit den Webstühlen. Es kochte im Topf und der Deckel musste in die Höhe.
– Ihr elenden Gewürzkrämer! Nur Leute schinden, schinden! Aber eure Zeit ist vorbei! Jetzt kommt der Engländer! Das sind andere Leute!
Jaen, der Schiffer, wurde finster. Das reizte den Zaren noch mehr. Aber er konnte seinem alten Freund nicht böse werden; er wollte an Jaens Gesellschaft ein Vergnügen haben, und suchte darum einen Ableiter.
– Krüger! rief er, Champagner her!
Der Krüger kam herein, fiel auf die Knie und bat um Gnade, weil er das teure Getränk nicht auf Lager habe.
Dieses überflüssige Wort Lager konnte ironisch und aufreizend klingen, sollte es aber nicht. Doch es war willkommen; der Stock konnte gebraucht werden.
– Hast du einen Lagerkeller, du Schelm? Willst du mich lehren, dass ein Matrosenkrüger ein Lager von Schnäpsen führt ...
Und nun tanzte der Stock. Als aber der Holländer sich mit einer missbilligenden Miene fortwandte, brach des Zaren Wut los. Es war eine Art Krankheit oder ein Naturell, dass er einen Ausbruch haben musste. Nun flog der Säbel aus der Scheide. Wie ein Rasender schlug er alle Flaschen auf dem Spültisch entzwei, hieb Tischen und Stühlen die Beine ab. Darauf machte er einen Scheiterhaufen aus den Trümmern und wollte den Krüger lebendig verbrennen.
Da öffnete sich eine Tür; und herein trat ein Weib mit einem kleinen Kind auf dem Arm. Als das Kind den Vater da liegen sah, wie er den Hals vorstreckte, begann es zu schreien. Der Zar blieb in seiner Gebärde stehen, beruhigte sich, trat auf die Frau zu und grüsste:
– Sei ruhig, Mutter, dir geschieht nichts Böses! Wir spielen nur Matrosen!
Und zum Krüger gewandt:
– Schick die Rechnung zum Fürsten Menshikow; er bezahlt. Aber wenn du mich kratzest, so ... Na, ich verzeihe dir für dieses Mal! ... Jetzt fahren wir, Jaen! Anker auf und Schot klar!
Darauf fuhren sie in die Stadt hinaus, der Zar lief in Häuser hinauf, kam wieder herunter; und so wurde es Mittag.
Sie machten vorm Palast Menshikows Halt.
– Ist das Mittag fertig? fragte der Zar vom Kabriolett aus.
– Das Mittag ist fertig! antwortete ein Lakai.
– Serviere für zwei! Ist der Fürst zu Hause?
– Der Fürst ist nicht zu Hause.
– Tut nichts! Also für zwei!
So pflegte der Zar seine Freunde zu besuchen, ob sie zu Hause waren oder nicht; und man erzählt, er sei einmal mit zweihundert von seinen Bekannten zu solchen Gewaltbesuchen herumgezogen.
Nach einem glänzenden Diner ging der Zar in einen Salon und legte sich schlafen. Der Schiffer war bereits am Tisch eingeschlummert.
Aber neben seinen Kopf legte der Zar seine Uhr; er konnte sich wecken, wann er wollte.
Als Zar Peter erwachte, ging er in den Essaal und fand Jaen Scheerborck schlafend am Tisch
– Bring ihn fort! befahl der Zar.
– Soll er nicht mehr dabei sein? wagte der Kammerherr zu fragen, der ein Günstling war.
– Nein, ich habe ihn satt; man sollte niemals Menschen mehr als einmal treffen im Leben. Trag ihn hinaus an die Pumpe, dann wird er nüchtern, und führe ihn dann auf seine Schute.
Und mit einem verächtlichen Blick fügte er hinzu:
– Du altes Vieh!
Dann fühlte er nach, ob der Säbel sicher sitze, und ging.
Nach dem Schlaf war Peter wieder der Kaiser geworden; hoch, gerade, würdig. Er ging nach der Strandlinie hinunter, ernst, gross, wie zu einer Feldschlacht.
Als er Nummer vierzehn gefunden hatte, trat er ohne weiteres ein, sicher, seine fünfzig Mann dort zu finden. Rechts zu ebener Erde nach dem Hof zu standen alle Fenster auf. Dort sah er die Verschworenen um einen langen Tisch sitzen und Wein trinken. Er trat in den Saal. Viele von seinen Freunden sassen dort. Das gab ihm einen Stich ins Herz.
– Guten Tag, Kameraden! grüsste er munter.
Die ganze Gesellschaft erhob sich wie ein Mann. Blicke wurden gewechselt und Mienen gemacht.
– Wollen wir nicht ein Glas trinken, Freunde?
Und Peter warf sich auf einen Stuhl. Da aber sah er nach der Saaluhr, und die zeigte erst halb fünf. Er hatte sich um eine halbe Stunde geirrt; ob er sich nun versehen oder die Uhr bei Menshikow falsch gegangen war.
Eine halbe Stunde! dachte er; aber in der nächsten Sekunde hatte er ein Heldenglas geleert und begann ein sehr populäres Soldatenlied zu singen, das er mit Aufklopfen des Glases begleitete.
Das Lied war verführerisch. Das hatten sie als Sieger bei Pultawa gesungen; danach waren sie marschiert; es lenkte die Erinnerung auf bessere, frohere Zeiten; und alle stimmten ein.
Peters starke Persönlichkeit, die gewinnende, liebenswürdige Art, die er annehmen konnte, wenn er wollte, alles zog die Gesellschaft zu ihm hin. Und nun löste das eine Lied das andere ab, und der Gesang war eine Befreiung von der fürchterlichen Beklommenheit. Es war die einzige Möglichkeit, ein Gespräch zu vermeiden.
Zwischen den Liedern brachte jedoch der Zar ein Wohl aus, trank einem alten Freund zu, ihn in wenigen Worten an ein gemeinsames Erlebnis erinnernd. Er wagte nicht nach der Uhr zu sehen, um sich nicht zu verraten; aber die halbe Stunde mitten in der Mörderhöhle war unendlich lang.
Manchmal sah er zwei Blicke wechseln; dann aber warf er ein scherzhaftes Wort dazwischen, und der Faden war zerrissen. Er spielte um sein Leben und er spielte gut; denn er verwirrte sie mit seiner Munterkeit und Naivität, so daß sie nicht ahnen konnten, ob er etwas wusste. Mit dieser ihrer Unschlüssigkeit spielte er.
Schliesslich hörte er Waffen draussen auf dem Hof rasseln, und mit einem Sprung war er zum Fenster hinaus.
– Massaker! war sein einziges Kommandowort. Und damit begann das Blutbad. Er selber stand am Fenster; und wenn einer hinaus sprang, schlug der Zar ihm den Kopf ab.
– Alles tot! schrie er auf deutsch, als es zu Ende war.
Dann ging er seiner Wege, in der Richtung auf die Festung Peter-Paul.
Er wurde vom Kommandanten empfangen und liess sich zum Prinzen Alexej führen, seinem einzigen lebenden, seinem erstgeborenen Sohn, auf den er seine Hoffnung und damit Russlands Zukunft gebaut hatte.
Mit dem Schlüssel in der Hand blieb er vor der Zelle stehen, machte ein Kreuzeszeichen und betete halblaut:
– Ewiger Gott der Heerscharen, Herr Zebaoth, der den Fürsten das Schwert in die Hand gegeben hat, zu lenken und zu schützen, zu belohnen und zu bestrafen; erleuchte deines Dieners armen Verstand, daß er nach deinem Recht handeln möge! Du hast von Abraham seinen Sohn gefordert, und Abraham gehorchte. Du hast deinen einzigen Sohn gekreuzigt, um die Menschheit zu erlösen. Nimm mein Opfer, du Furchtbarer, wenn du es forderst! Doch nicht mein Wille geschehe, sondern deiner. Möge dieser Kelch an mir vorüber gehen, wenn du es willst! Amen, in Christi Namen, Amen!
Er trat in die Zelle, und blieb dort eine Stunde.
Als er wieder heraus kam, sah er verweint aus; aber er sagte nichts, gab dem Kommandanten den Schlüssel und ging.
Was diesen Abend zwischen Vater und Sohn geschah, darüber gibt es viele Angaben.
Genug: Alexej wurde von einhundertsiebenundzwanzig Richtern zum Tode verurteilt und das Protokoll gedruckt. Aber das Urteil soll niemals vollstreckt worden sein. Der Erbprinz starb vorher.
Am selben Abend gegen acht trat der Zar in sein Landhaus und suchte sofort Katharina auf.
– Das Alte ist vergangen! sagte er. Jetzt beginnen wir das Neue, du, ich und die Unseren.
Die Zarin fragte nicht, denn sie verstand. Aber der Zar war so müde und erschöpft, dass sie einen der Anfälle fürchtete, die sie so gut kannte. Und es gab nur eine Art, ihn zu beruhigen, die alte, gewöhnliche.
Sie setzte sich in die Sofaecke; er legte sich nieder, den Kopf gegen ihren reichen Busen; dann strich sie ihm das Haar, bis er einschlief. Aber drei Stunden musste sie unbeweglich sitzen.
Ein Riesenkind an einem Riesenbusen, so lag der grosse Kämpe des Herrn da; und das Gesicht wurde so klein, die hohe Stirn wurde von der langen Mähne verborgen, der Mund stand offen, und er schnarchte wie ein kleines Kind, das schläft!
Als er schliesslich erwachte, blickte er zuerst auf, erstaunt, sich dort zu finden, wo er war. Darauf lächelte er, sagte aber nicht »danke« und koste auch nicht.
– Jetzt wollen wir was zu essen haben! Das war das erste Wort, das er sprach. Dann wollen wir was zu trinken haben, und dann ein grosses Feuerwerk! Das werde ich selbst unten am Strand anzünden. Aber Jaen Scheerborck muss dabei sein.
– Du hast Jaen ja hinausgeworfen.
– Habe ich? Er war betrunken, der Kerl! Schicke sofort nach ihm!
– Du bist so wunderlich, Peter; nie der selbe in zwei Minuten.
– Ich will nicht der selbe sein. Dann würde es einförmig. Immer Neues! Und ich bin immer neu! Was! Ich langweile dich nicht mit dem ewigen Einerlei!
Es wurde so, wie er gesagt hatte. Jaen wurde geholt, aber gebunden, denn er war böse auf Peter wegen der Wasserpumpe, und wollte nicht kommen. Als er aber an Land war, wurde er umarmt und auf den Mund geküsst. Da war sein Groll vorbei.
Man ass und trank, und es endete mit Feuerwerk – das war ein grosses Vergnügen für den Zaren.
Und so endete der merkwürdige Tag, der dem Haus Romanow die Thronfolge sicherte. Und so war der Mann, der sich selber nannte: »Der Grosse, der Selbstherrscher, der Kaiser aller Reussen.«
Der Barbar, der sein Russland zivilisierte; der Städte baute und selbst nicht darin wohnen wollte; der seine Gattin schlug und dem Weib ausgedehnte Freiheit gab. Sein Leben war gross, reich und nützlich im Öffentlichen; im Privaten, wie es sein konnte. Aber er hatte einen schönen Tod, denn er starb an den Folgen einer Krankheit, die er sich zuzog, als er bei einem Schiffbruch ein Menschenleben rettete – er, der mit eigener Hand so vielen das Leben genommen hatte!