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Der Präsident war lange vor dem letzten Zuge nach M** zurückgekehrt. Er hatte seine Tochter nur flüchtig begrüßt, dann war er in sein Arbeitszimmer gegangen und hatte dort bis tief in die Nacht hinein gearbeitet, um sich für den ganzen folgenden Tag frei von Amtsgeschäften zu machen.
Am nächsten Morgen war er schon früh auf. Er nahm aus dem kleinen eisernen Kasten in seinem Schreibtisch alle in demselben aufbewahrten Gelder und Geldpapiere. Es waren etwa 20,000 Thaler in Staatspapieren, welche zu dem Vermögen seines Mündels gehörten, die gesammte Kirchenbaukasse und einige Tausend Thaler in Gold und Papiergeld, welche theils aus dem Spielgewinn des vergangenen Abends, theils aus Zinsen, die er für sein Mündel eingezogen hatte, herrührten. Die gesammte Summe von Geldern und Werthpapieren steckte er, in zwei Brieftaschen und eine große Geldbörse vertheilt, zu sich, dann ging er, ohne von seiner Tochter Abschied zu nehmen, nach dem Bahnhof. Mit dem ersten Morgenzuge traf er in der Residenz ein.
Er nahm sich diesmal nicht, wie er sonst gewöhnlich zu thun pflegte, einen Wagen, sondern zu Fuß trat er die weite Wanderung nach einem entlegenen Stadttheil an.
Seit vielen Jahren hatte er die nur von Handwerkern, Fabrikanten und Kaufleuten bewohnte Gegend nicht besucht; aber er kannte sie von seiner Studienzeit her, und als er durch die engen, krummen, vom regsten Geschäftsverkehr belebten Straßen schritt, erwachten in ihm die Erinnerungen einer schönen, längst vergangenen Zeit. In diesem Theil der großen Residenzstadt hatte sich im Laufe von dreißig Jahren wenig oder nichts verändert. Während in anderen Stadttheilen Paläste entstanden, die früher engen Straßen verbreitert, große Plätze angelegt, ja ganze weit ausgedehnte Viertel mit neuen Straßen im Laufe weniger Jahre begründet worden waren, um Wohnstätten für die aus dem Lande sich nach der Residenz drängende Bevölkerung zu schaffen, während in jenem eleganten, das eigentliche Residenzleben repräsentirenden Theil selbst die Erinnerung an die Vergangenheit durch die überwuchernden Neu- und Umbauten fast verloren gegangen war, erkannte der Präsident hier noch die alten, verräucherten Häuser, an denen er vor dreißig Jahren als lebensfrischer Jüngling so oft mit seinen fröhlichen Kommilitonen vorüber gewandelt war.
In dem großen Hause dort, welches sich durch die schweren, vor den Fenstern des Erdgeschosses angebrachten eisernen Gitter und durch das breite Einfahrtsthor auszeichnete, hatte einer seiner liebsten Jugendfreunde, der Sohn des reichen Kaufmanns Samuelsohn, gewohnt. Jenes Eckzimmer im dritten Stockwerk, dessen Fenster offen standen, war der Sammelplatz der heiteren Burschen gewesen, denen das gastliche Haus des Kaufmanns stets geöffnet war. – Dort hatten sie manchen fröhlichen Abend verlebt, dort war auch eine kleine auserlesene Gesellschaft, meist wohlhabende Studenten und junge Offiziere, oft bis tief in die Nacht zusammen geblieben, um, nachdem der gastliche Hausherr zu Bett gegangen war, noch heimlich ein Spiel zu machen.
Wo waren sie jetzt alle, die lustigen Genossen froher Stunden? Viele waren längst verstorben, andere waren untergegangen, weil sie sich nicht emporzuraffen gewußt hatten aus dem Strudel der Lust, von Zweien wußte der Präsident, daß sie sich, nachdem ihr Vermögen verspielt war, eine Kugel durch den Kopf geschossen hatten. Sie waren Opfer der Spielwuth geworden, deren ersten Keim die lustigen, in jenem Zimmer verlebten Nächte in sie gelegt hatten.
Nur wenige aus dem Freundeskreise hatten sich emporgeschwungen zu einflußreichen Stellungen im Staatsdienst, – einer, der Sohn des reichen Kaufmanns Samuelsohn, hatte die Studien verlassen, er war Geschäftsmann geworden. Das große schwarze Haus mit den eisernen Gitterfenstern hatte er schon vor vielen Jahren verkauft; als einer der Geldfürsten der Residenz lebte er in seiner prachtvollen Villa in der vornehmsten, elegantesten Vorstadt; aber wenn auch der Besitzer gewechselt hatte, das alte Haus war dasselbe geblieben, sein Aeußeres war unverändert, wie es vor dreißig Jahren gewesen war.
Der Präsident warf einen Blick in den breiten, dunklen Thorweg. – Wahrhaftig, dort stand noch der mächtige, mit gewaltigen Wollsäcken beladene Frachtwagen. »Nimm Dich vor der Deichsel in Acht«, hörte er den Jugendfreund rufen, – war's ihm doch, als ob es gestern gewesen wäre. – Er sah sich wieder in heiterer Weinlaune oben auf dem Wagen von dem höchsten Wollsack herab den jubelnden Zechgenossen eine lustige Predigt halten.
Dreißig Jahre waren an diesen alten Häusern vorüber gerauscht, fast ohne Spuren zu hinterlassen; aber die Menschen hatten sich geändert. Am meisten er selbst! – Was war aus dem frischen, wenn auch oft leichtfertigen, doch für alles Edle und Schöne begeisterten Jüngling geworden?
Unwillkürlich griff er nach der geldgefüllten Brieftasche, die ihn an ein verbrecherisches Vorhaben mahnte. Noch konnte er umkehren, noch das Geld zurückbringen, noch war es nicht zu spät. Er blieb sinnend, die Welt um sich her vergessend, stehen. Sein unter schweren Seelenkämpfen in der vergangenen Nacht errungener Entschluß wurde wieder wankend, er grübelte und überlegte.
»Aufgepaßt! Nehmen Sie sich vor der Deichsel in Acht!«
Der laute, warnende Ruf eines Rollknechts, der einen leeren Frachtwagen nach der Straße herausschob, rief den Präsidenten aus seinen Träumen in das Bewußtsein der Gegenwart zurück. Er seufzte. »Es ist zu spät! Ich kann nicht mehr zurück! Also vorwärts. Geschehe, was da geschehen muß!«
Er setzte entschlossen seinen Weg fort. Das erste Ziel seiner Wanderung war eine enge Nebengasse. Hier wohnte in den Erdgeschossen der hohen Häuser, in dunklen Läden, in denen selbst an den sonnigsten Tagen eine trübe Lampe brannte, dicht zusammengedrängt eine große Anzahl von Schuh- und Stiefelhändlern. Die Schustergasse nannte deshalb das Volk bezeichnend den engen Gang, obgleich die Schilder an den Eckhäusern einen andern Namen trugen.
In einen von den dunklen Läden trat der Präsident. »Ich wünsche ein Paar kräftige Ueberschuhe für eine Gebirgsreise. Haben Sie dergleichen vorräthig?« fragte er den Verkäufer.
»Gott soll hüten! Werde ich nicht haben vorräthig Ueberschuhe für die Reise, und nicht für die Reise, für Herren und für Damen und für Kinder! Wollen Sie aussuchen nach Belieben!«
Bereitwillig brachte der Verkäufer eine große Auswahl von Ueberschuhen aller Art herbei, er musterte, während er zungenfertig seine Waaren anpries, mit einiger Verwunderung den Käufer, dessen vornehmes Wesen und elegante Kleidung in der meist nur von Kunden niederen Standes besuchten Schustergasse wohl auffallen mußte.
Der Präsident wählte ein Paar sehr grobe, plumpe Schuhe, die ihm zu weit waren, aus.
»Der Herr werden verlieren die Schuhe. Werden doch passen diese viel besser und sind sie auch besser für einen eleganten Herrn, als die groben Bauernschuh,« sagte der über die sonderbare Wahl erstaunte Verkäufer, indem er auf ein anderes Paar zeigte.
»Nein, diese sind gut. Nur müssen sie auf den Hacken und längs der Sohle mit starken Nägeln beschlagen werden. Können Sie dies sogleich besorgen lassen, dann will ich die Schuhe kaufen.«
»Werde ich nicht können? Wie heißt! In einer Viertelstunde kann ich. Aber die Schuhe werden zu schwer für einen feinen Herrn, wenn wir noch dran nageln ein halb Pfund Eisen.«
»Thut nichts. Für eine Gebirgswanderung sind sie gerade recht.«
»Werde ich sie lassen nageln meinetwegen mit einem Zentner Nägel. Was thut's mir?«
»Was kosten die Schuhe?«
»Mit den Nägeln sind sie natürlich um die Nägel theurer.«
»Das versteht sich. Ich bezahle sie Ihnen gleich. In einer Viertelstunde komme ich wieder, um sie abzuholen.«
Der Verkäufer nannte einen Preis, der mehr als doppelt so hoch war, als der, den er von einem seiner gewöhnlichen Kunden gefordert haben würde, das aber bemerkte der Präsident nicht einmal. Er zahlte, ohne zu zögern oder zu handeln, die geforderte Summe, dann verließ er den Laden.
Der Verkäufer schaute ihm sehr verwundert nach.
»Laß die Schuhe vernageln, Rahelleben, wo nur ein Nagel sitzen will,« sagte er zu seiner im dunklen Hintergrunde des Ladens mit einer häuslichen Arbeit beschäftigten Frau. »Muß der Mann doch haben seinen Willen, hat er doch bezahlt. Aber ich sage Dir, faul, faul, faul! – Fehlt's ihm nicht hier,« er zeigte mit dem Finger auf die Stirn, »dann – – Na, was thut's mir? Er hat die Schuhe und ich hab's Geld.«
Der Präsident wanderte von der Schustergasse nach einer andern engen Straße, in welcher die Erdgeschosse fast sämmtlicher Häuser durch Trödlerläden und Handlungen mit Eisen, Handwerksgeräthen und dergleichen ausgefüllt waren. In einer Eisenhandlung kaufte er zwei starke scharfe Stemmeisen und einen schweren Hammer; dann ging er weiter.
Er bog in die Hauptstraße des Stadttheils ein; in dieser befand sich ein bedeutendes, aber nicht im besten Ruf stehendes Wechselgeschäft. Man behauptete in St**, der Bankier Salwitz nehme es mit dem Ankauf von Staatspapieren nicht gar zu genau; er fragte wenig danach, wie dieselben erworben seien; wenn er sie billig kaufen könne und nicht nöthig habe, eine Entdeckung zu befürchten, kaufe er. Er war vor vielen Jahren einmal in einen Prozeß verwickelt und als Hehler gestohlener Geldpapiere verdächtigt, aber freigesprochen worden, auch war es bekannt, daß er häßliche Wuchergeschäfte, die ganz nahe an der Grenze des Betruges hinliefen, vorzugsweise gern mache. An der Börse war trotz solcher schmutzigen Geschäfte der steinreiche Bankier als prompter Zahler eine angesehene Person; aber von den Gesellschaftskreisen, auf die er sonst durch seinen Reichthum Anspruch hätte machen können, war er ausgeschlossen. Er verkehrte mit Niemandem, und gerade deshalb hatte der Präsident sein Geschäft erwählt zu einem Einkauf von Staatspapieren, den er nicht gern in einem Bankhause, in welchem er vielleicht erkannt worden wäre, machen wollte.
In dem Salwitz'schen Wechselladen kaufte der Präsident für etwa 12,000 Thaler Staatspapiere und Prioritätsaktien von Eisenbahnen. Nachdem er auch dieses Geschäft beendet hatte, kehrte er nach der Schustergasse zurück, um seine inzwischen mit den verlangten Nägeln versehenen Ueberschuhe in Empfang zu nehmen, dann verließ er eiligen Schrittes den entlegenen Stadttheil. Sobald er die breiten Straßen der vornehmeren Gegend wieder erreicht hatte, nahm er an der nächsten Ecke einen Fiaker, durch diesen ließ er sich nach der Heinrichsstraße fahren.
Der Geheimrath von Samuelsohn, der seines unermeßlichen Reichthumes wegen in den Adelstand erhobene, größte Bankier der Residenz, war des Präsidenten alter Universitätsfreund; vor dem glänzenden Komptoir desselben in der Heinrichsstraße hielt der Fiaker.
Der Geheimrath, der trotz seines Reichthums mit nie rastendem Fleiß im Geschäft thätig war, befand sich schon auf dem Komptoir; er machte kein freundliches Gesicht, als er den alten Studiengenossen eintreten sah, und der Händedruck, welchen er mit demselben austauschte, war von seiner Seite nicht sonderlich herzlich. Er hatte schon davon gehört, daß der Präsident in der letzten Zeit bedeutende Spielverluste gehabt habe, da fürchtete er denn einen neuen Angriff auf seine Kasse, den er abzuweisen fest entschlossen war, da die Debetseite Wartenbergs im Hauptbuch ohnehin eine ziemlich hohe Summe enthielt. Seine Miene verfinsterte sich noch mehr, als der Präsident gleich nach der ersten Begrüßung sagte: »Ich komme heute zu Dir, alter Freund, um Deine Gefälligkeit in Anspruch zu nehmen.«
»Du kommst zu böser Zeit, Wartenberg,« entgegnete der Geheimrath sehr kühl abweisend, »meine Kasse ist in der letzten Zeit von so bedeutenden Ausgaben belastet worden, daß ich Dir in der That nicht werde dienen können.«
»Wer spricht davon?« sagte der Präsident empfindlich. »Es fällt mir nicht ein, Dich um ein Darlehn angehen zu wollen, da ich ohnehin schon zu sehr Dein Schuldner bin. Es ist eine andere Gefälligkeit, die ich von Dir erbitten wollte.«
Das Gesicht des Geheimraths heiterte sich merkwürdig schnell auf, als er hörte, daß kein Geld von ihm verlangt werde; jetzt schüttelte er dem Freunde außerordentlich herzlich die Hand und versicherte, daß er zu jeder Gefälligkeit stets mit Freuden bereit sei.
»Du wirst von der Erfüllung meiner Bitte keine große Unbequemlichkeit haben,« bemerkte der Präsident, bitter über die freundliche Bereitwilligkeit des zähen Geldmannes lächelnd, »ich wünsche nur in Deine Kasse eine nicht mir gehörende bedeutende Werthsumme in Geld und Papieren niederlegen zu dürfen. Es ist mir vom Komité für den Bau unserer St. Marienkirche das Schatzmeister-Amt übertragen worden und man hat mir die gesammten Baugelder zur Aufbewahrung übergeben. Heut Nacht ist mir zum ersten Mal der Gedanke gekommen, wie unsicher eigentlich mein einsames Haus liegt. Ich habe kaum einschlafen können vor der peinigenden Sorge, daß vielleicht Diebe erfahren könnten, welche große Summen ich in meinem Schreibtisch aufbewahre. Mein Arbeitszimmer liegt nach dem Garten hinaus, während die Fenster meines Schlafzimmers nach der Straße führen. Wie leicht wäre da in der Nacht ein Einbruch möglich! Allerdings sind die Fenster ziemlich hoch vom Boden, auch bewahre ich das Geld in einem eisernen Kasten, der schwerlich ohne Geräusch erbrochen werden dürfte; trotzdem aber beunruhigt mich doch der Gedanke, daß ein Einbruch bei mir versucht werden könnte. Ich wollte Dich deshalb bitten, das Geld der Kirchenbaukasse, soweit ich es nicht in der allernächsten Zeit gebrauche, und etwa 32,000 Thaler, welche ich vom Vermögen meines früheren Mündels, des Barons von Rechtenberg, in Verwahrung habe, in Deine Kasse aufzunehmen. Es würde mir dies eine große Beruhigung gewähren, denn es ist mir ohnehin noch immer ängstlich genug, daß ich etwa 12,000 Thaler von der Kirchenbaukasse bei mir behalten muß, da sie vielleicht morgen schon, jedenfalls in den nächsten Tagen vom Kassirer zur Deckung der Baurechnungen abgefordert werden können. Darf ich auf Deine Gefälligkeit rechnen?^
»Mit dem größten Vergnügen. Das versteht sich ja von selbst.«
»Ich danke Dir herzlich. Ich hätte nun allerdings noch einen andern Wunsch.«
»Sprich! Ich stehe zu Diensten!«
»Ich möchte der Kirchenbaukasse gern Zinsen für das baare Geld zuwenden.«
»Hm. Das wird schwerlich gehen. Ich nehme grundsätzlich keine verzinslichen Depositen, welche täglich wieder abgehoben werden können.«
»Die Summe ist nicht übergroß. Bedenke, daß das Geld einem wohlthätigen Zweck, einem Kirchenbau zufließt. Seine Majestät interessirt sich für den Bau und ich werde Gelegenheit finden, Deine Bereitwilligkeit bei Gelegenheit rühmend zu erwähnen.«
»Du weißt, daß ich nicht nach Ehren und Orden strebe, sagte der Geheimrath, sich stolz aufrichtend; »aber als guter Patriot wirke ich gern für die Seiner Majestät angenehmen Zwecke mit. Es ist zwar ganz ungeschäftsmäßig; aber ich will der Kirchenbau-Kasse vier Prozent jährlicher Zinsen berechnen, um den Bau der Kirche zu fördern.«
Die beiden Freunde verstanden sich; sie tauschten noch einen kräftigen Händedruck aus, dann übergab der Präsident die mitgebrachten Gelder und Papiere dem Kassirer. Nach der Abwickelung dieses Geschäftes fuhr er nach dem Bahnhof, wo er gerade zur rechten Zeit eintraf, um noch mit dem Mittagszug nach M** zurückkehren zu können.