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Erich von Wölsick wußte an diesem Abend nicht, wie er heimgekommen. Er war durch die Straßen geirrt, gleichgültig gegen einen allmählich fast unerträglich werdenden Schmerz im Bein, und hatte sich plötzlich wieder vor dem Kritzingschen Hause gefunden und einen Augenblick mit zusammengebissenen Zähnen den Gedanken erwogen, mit Gewalt dort einzudringen – noch einmal – und fast zugleich war er schon scheu, auf den Stock gestützt, weitergeschlichen, den Kopf gesenkt, wie ein Verbrecher vom Ort der Tat. Von da oben leuchtete, grell als ein Lichtstrahl durch das Dunkel, eine furchtbare Reue auf ihn herab – der nachträgliche Schrecken über das, was er an Jakobe Ansold, seit er sie kannte, getan. Diese Frau, die die Arme weit ausstreckte, um von ihm den erlösenden Schuß in das Herz zu empfangen, das war sein Werk . . . zu dieser Verzweiflung hatte er einen Menschen gebracht . . .
Er konnte sich nicht mehr auf den Füßen halten. Ein leerer Wagen fuhr vorbei. In den stieg er und fand sich nach einer Viertelstunde ganz betäubt und lichtgeblendet im Flur seiner Wohnung, Michael neben sich, der ihn erschrocken ein paar Worte frug . . . ob dem gnädigen Herrn nicht wohl sei . . . oder etwas Ähnliches . . . die Sätze verklangen ihm im Ohr . . . er sah den Diener geistesabwesend an und schob ihn ungeduldig zur Seite, als jener ihm folgte und den Mantel abnahm. Dabei bemerkte er das verdutzte Gesicht des Mannes. Der hielt den Revolver in der Hand, den er aus einer Seitentasche des Überziehers, als er ihn über den Bügel hing, herausgeholt hatte. Kolben und Läufe waren naß vom Schneewasser und Straßenschmutz, und Erich von Wölsick, der nicht wollte, daß jener noch lange darüber nachgrübele, zog ihm die Waffe stumm aus der Hand und warf sie drinnen im Zimmer, das er mit schweren Schritten betrat, auf den Tisch, setzte sich in einen Sessel und blickte teilnahmslos vor sich hin. Jetzt kam der Rückschlag. Er war ganz erschöpft und mit kaltem Schweiß bedeckt und hatte einen verstörten und entsetzten Ausdruck in den Augen. Er sah immer noch Jakobe Ansold vor sich, die nicht mit ihm leben wollte – aber gern durch ihn sterben . . . Und die Stimme des Gewissens raunte in ihm: wenn sie auch lebt, ihr Herzblut kommt doch über dich . . . du bist ihr Mörder – gerade jetzt, wo du sie nicht ermordet hast . . .
Seine Atemzüge gingen schwer. Er fühlte eine bleierne Last auf der Brust. Durch die halbgeschlossenen Lider sah er einen Schatten sich geräuschlos in dem lampenhellen Raum bewegen. Es war Michael, der sich wieder da unnütz machte, und er sagte zu ihm langsam und müde, ohne sich erst die Mühe zu geben, die Augen zu öffnen: »Michael . . .«
»Gnädiger Herr . . .«
»Wenn sich jetzt noch einmal die Türe zu meinem Zimmer auftut, ohne daß ich gerufen habe, so schieße ich!«
Er hatte die Drohung gedankenlos ausgesprochen. Aber sein Vertrauter nahm sie ernst. Er huschte ungesäumt aus dem Gemach. Er schien seinem Herrn jetzt allmählich alles zuzutrauen.
Nun war es wieder ganz still. Erich von Wölsick dämmerte vor sich hin, in einem Zustand von Erschlaffung, in dem alles Wollen und Denken aufhörte. Er hatte nur manchmal die Vorstellung: Seltsam . . . in diesen Räumen hat doch früher ein Mann gewohnt – der war frisch und spannkräftig und tauglich zum Leben und hieß wie ich und war ich – wie kommt nun dies arme Bündel Menschheit hier im Klubsessel, dieser aus allen Rädern und Rädchen gegangene Organismus an seine Stelle? Und er zuckte zusammen und fröstelte, im Nachzittern der Viertelstunde am Landwehrkanal.
Ein starkes, entschiedenes Klopfen an die Türe schreckte ihn auf. Er furchte die Stirn und rief barsch: »Was soll es denn?« und hörte draußen zu seinem Erstaunen die Stimme seines Schwagers: »Erich . . . kann man hinein?«
»Ja – Warum denn nicht?«
»Dein Diener sagt, du schießt!«
»Michael ist ein Esel!. . . Was willst du denn eigentlich?«
Der Geheimrat von Teichardt steckte vorsichtig sein mit alten Schmissen bedecktes Gesicht, das an das einer sehr klugen und energischen Bulldogge erinnerte, durch den Türspalt. Dann folgte seine mächtige und breitschulterige Gestalt nach und er sagte sehr beruhigt: »Na – da bist du ja, mit Gottes Hilfe . . .«
»Woher weißt du denn das überhaupt?«
»Ich ging zufällig unten vorbei und sah Licht in den Fenstern. Da dachte ich, ich schau' einmal nach . . .«
Erich von Wölsick hatte seine halb liegende Stellung nicht verändert, kaum dem anderen die Fingerspitzen hingehalten. So sagte er träge und matt: »Lüge doch nicht, Schwager . . .«
»Erich!«
»Erstens gehst du nicht, sondern du fährst! Zweitens kommst du nie durch diese Straße . . . Und drittens bist du überhaupt um diese Zeit immer daheim . . .«
Herr von Teichardt lachte ärgerlich. Dann versetzte er: »Na ja – also gut! . . . Michael hat telefoniert! . . . Er habe eine wahre Todesangst, daß sich mit dir ein Unglück ereignen könne. Ich hab' ihn kaum recht verstanden – er faselte etwas von ganz verwirrtem Benehmen – und von einem nassen Revolver . . .«
Sein Blick traf die feucht glitzernden Metallläufe auf dem Tisch, dann seinen Schwager. Er wurde plötzlich sehr ernst. Und Erich von Wölsick sprang heftig auf.
»Ach wo!« sagte er zwischen den Zähnen. »Denke das nicht. Nein! . . . den Gefallen kann ich ihr nicht noch tun – zu guter Letzt! Mein Lebensschiffchen ist ja ohnedies an ihr zerschellt. Aber daß sie allein von uns beiden zurückbleibt . . . und in allem recht behält über mich . . . und in allem stärker war . . . Es wehrt sich doch noch etwas in einem dagegen . . . Trotzdem . . . sehr wohl ist mir nicht in meiner Haut! Das kannst du mir glauben!«
»Was ist denn geschehen, Erich?«
»Nichts! . . . Das ist es ja eben!« Er setzte sich wieder, zündete sich eine Zigarette an und gab sich auf einmal den Anschein von Ruhe. »Gar nichts! An sich wäre es vielleicht viel besser, wenn Michaels kindliches Gemüt meine Absichten richtig geahnt hätte. Ich bin wirklich ein vollkommen verworfener Mensch! . . . Ich verdiene nicht zu leben!«
Der Geheimrat runzelte die Brauen: »Um Gottes willen . . . was heißt denn das? Erich . . . das ist ja krankhaft, unmännlich, mit derartigen Selbstanklagen um sich zu werfen . . .«
»Lasse du mir nur meine Meinung über mich!« sagte Erich von Wölsick dumpf und fuhr sich mit der Hand über die Stirn. »Meine Selbstanklagen sind sehr begründet! Ich bin ein Verbrecher, lieber Schwager, wenn ich auch euer Strafgesetzbuch nicht verletzt hab' . . . ein wie großer, das weiß ich jetzt erst!«
»Rätsel . . . Rätsel . . .« murmelte der Geheimrat und schaute sein Gegenüber an, wie einen, dessen geistigem Gesundheitszustand man nicht recht traut. »Du siehst elend aus! Ich fürchte überhaupt, du bist krank . . . Du müßtest überwacht werden!«
»Jetzt tut das nicht mehr not!«
»Aber man wird ja nicht klug aus dir . . .«
Erich von Wölsick hob den Kopf, sah den andern an und stieß sich zwei-, dreimal mit dem Zeigefinger gegen die Brust. »Selbstverachtung, Liebster,« sagte er, »Selbstverachtung . . . die Krankheit sitzt mir im Blute – die könnt ihr nicht heilen! . . . Wenn man jemanden berauben will und er wirft einem alles freiwillig vor die Füße – kein Opfer ist ihm zu groß, wenn er einem dadurch seine Verachtung zeigen kann – das öffnet einem die Augen über einen selbst.«
Herr von Teichardt war aufmerksam den abgebrochenen Sätzen gefolgt. Jetzt begriff er und fagte: »Du hast Frau Ansold wiedergesehen, Erich . . .«
Das klang in der Erregung wider seinen Willen vorwurfsvoll, beinahe schulmeisterlich strafend. Der andere lächelte auch nur darüber. Er gab ihm keine unmittelbare Antwort.
»Die Reue . . .« sagte er mit weit offenen Augen in die Lampe starrend und blies eine Zigarettenwolke nach der anderen in deren gelben, schon trübe umflorten Lichtkreis. »Wenn ich bedenke, wie alles hätte werden können – und was ich daraus für mich und sie gemacht hab' . . . Es ist zu viel! . . . Morgen nimmt Michael alle Spiegel hier in der Wohnung ab. Niemand kann mir zumuten, daß ich noch länger mein Gesicht ansehe . . .«
»Sei vernünftig, Erich . . . Du hast gefehlt, gewiß – aber du hast doch auch alles getan, um es wieder gut zu machen!«
»Wenn ich jemanden totschlag', was helfen alle Wiederbelebungsversuche? Die stellte nur jemand an, der so verrückt ist, wie ich! Unter uns gesagt, Schwager . . .«
»Ich fürchte wirklich, daß du krank wirst, wenn wir nichts dagegen tun!« versetzte der Geheimrat und stand auf. »Morgen früh schick' ich dir den Arzt . . .«
Erich von Wölsick hörte gar nicht auf ihn.
»Ich glaube, selten hat jemand so an seinem Glück gefrevelt wie ich! . . .« sagte er. »Meinem ganzen Leben hat die Liebe gefehlt. Von meinen ersten Kinderjahren ab. Was schlecht an mir ist – also das meiste – das kommt davon her. Ich vermißte, was ich nicht hatte, nicht so, weil ich es nicht kannte. Ich lebte frisch darauf los. Und doch, ohne zu suchen, fand ich die Liebe.« Er richtete aus seiner erschöpften, kauernden Stellung die Augen mit einem sonderbar scheuen Blick zu seinem Gefährten empor.
»Da stand sie am Wege!« sagte er, »und wartete auf mich! . . . Sie war demütig . . . sie war geduldig . . . sie war ohne Ende . . . kurz alles, wie es in dem Korintherbrief heißt . . . ich brauchte nur die Hand auszustrecken, um durch diese Liebe ein besserer Mensch zu werden, und wie hab' ich ihr gedankt! Mit Füßen hab' ich sie getreten – sie von mir gestoßen – ich wollte nur nichts mehr von ihr wissen und hören . . . Und als ich sie dann wieder suchte, da war es nur die Gier nach dem Besitz – und schließlich wollte ich sie gar töten – den einzigen Menschen auf Erden, der mich je geliebt hat . . . ich Blinder . . . ich Wahnsinniger . . . ich Verruchter . . .«
Er schrie es auf und verbarg sein Gesicht in den Händen. Er weinte nicht. Aber ein Krampf des Schmerzes schüttelte seinen ganzen Körper und schnürte ihm die Kehle zu und seine Stimme war erstickt, als er endlich, den Kopf auf die Ellbogen gestützt und vor sich hinstarrend, murmelte: »Weißt du, was das heißt, sein ganzes Leben hindurch zu bereuen? Tag um Tag und Jahr um Jahr diesen Menschen da in sich zu verfluchen, wenn er auch längst abgestorben ist? Was soll man machen, mit solch einem Abscheu gegen sich selber im Leib! Das hält auf die Dauer kein Neger aus! Und doch bin ich dazu verdammt! Eine schöne Aussicht – was? Man wird allmählich ausgehöhlt, morsch im Kern, das Mark ist weg! . . . Und solch ein Kerl wird dann noch künstlich vom Staat hochgehalten, als Majoratsherr . . . lächerlich! . . . Steine sollt' ich kloppen – an der Landstraße – das wäre viel gesünder! . . .«
Der Geheimrat von Teichardt wußte nicht, was antworten. Das vor ihm war nur noch eine Ruine von einem Mann! . . . Er legte dem andern die Hand leise auf die Schulter und murmelte: »Armer Kerl! . . . Armer Kerl!«
Erich von Wölsick entzog sich seiner Berührung. »Nein – tu mir den einzigen Gefallen: kein Mitleid!« sagte er nervös.
»Aber du tust einem doch höllisch leid! Du bist ja in einer greulichen Verfassung . . .«
»Hab' ich denn mit ihr Mitleid gehabt? . . . Sie hat nichts mehr zu verlieren! . . . Warum soll ich denn da etwas behalten? Es sind nur noch unsere Leben übrig! Das sind zwei alte Lappen! Die wären auch schon dahin, wenn nicht . . . ich sag' dir, Schwager . . . es hing an einem Haar . . . dann säße ich jetzt als Mörder auf dem Polizeipräsidium – zwischen Taschendieben und Gelichter . . . das wäre ein Spaß für eine Ordnungsstütze wie dich, mich da herauszusuchen!«
Der Geheimrat beugte sich nieder und fühlte ihm den Puls.
»Fieber!« versetzte er, sich wieder aufrichtend. »Kein Wunder . . . du phantasierst ja schon! . . . Wenn du nicht selber so vernünftig bist, zum Arzt zu schicken, so müssen wir es tun! . . . Das ist unsere Pflicht . . . als Verwandte . . .«
»Freilich!« sagte Erich von Wölsick nachlässig und rauchte. »Pflegt nur eure goldene Henne! . . . Für euch ist's ein Verlust, wenn sie der Teufel holt! . . . Sonst für niemanden auf der Welt! . . . Es wäre mir eigentlich lieb, wenn du jetzt gingst, Schwager – ich bin furchtbar müde . . .«
»Ja, ich merke, daß ich hier überflüssig bin!« Herr von Teichardt sprach das etwas scharf und wandte sich halb ab, dem Mitteltisch zu. Dort lag der Revolver. Den wollte er im Gehen durch eine geschickte Bewegung unauffällig in seiner Hosentasche verschwinden lassen und mit sich nehmen . . . für alle Fälle . . . Aber Erich von Wölsick bemerkte das Manöver und lachte: »Gib dir keine Mühe! Ich habe noch einen im Schrank!«
»Aber man kann dir das Dings nicht lassen.«
»Ruhig kannst du's! . . . Stelle dir vor, wie närrisch: Ich bin ausgegangen, um sie zu treffen – und komme heim, und richte die Waffe gegen mich selber! . . . Nein, man muß auch nicht zum Kinderspott werden . . .«
Der Bureaukrat sah entsetzt erst ihn an, dann die feuchte Mündung der Läufe.
»Das ist wahr? damit wolltest du? . . .«
»Ich rede schon die ganze Zeit davon!«
»Aber Erich . . . um Gottes willen . . . Wenn man . . .«
»Keine Fibelverse, Schwager! . . . Ungeschehen ist ungeschehen! . . . Und die Mitternacht rückt näher schon . . .« Erich von Wölsick breitete die Arme aus und seufzte tief auf: »Schlafen kann man freilich nicht! . . . Mich hält mancherlei wach! In mir ist jetzt eine große Wandlung, Schwager! Ich häute mich vom Verbrecher zum Büßer – kein schöner Anblick! Na – grüße deine liebe Frau! . . . Und die Kinderchen!«
Der Geheimrat von Teichardt stand unschlüssig an der Türe. Er wollte noch etwas sagen. Aber dann besann er sich eines anderen. Jeder Wortwechsel mit einem derart zerrütteten Menschen war ja zwecklos. »Also gute Nacht und gute Besserung!« versetzte er und verließ rasch das Zimmer. Man hörte ihn draußen noch gedämpft und eindringlich mit Michael murmeln. Dann wurde alles still.
Diese Ruhe tat Erich von Wölsick wohl. Er saß, ohne sich zu rühren, bis tief in die Nacht. Auch die Zigarette war seiner Hand entglitten. Allmählich verlosch die Lampe auf dem Tisch. Das Feuer im Ofen ging aus. Es wurde kühl. Ihn störte das alles nicht. Er war froh, daß er keine Menschen mehr zu sehen und nicht mehr zu reden brauchte. Auch Michael hatte Angst. Er ließ sich nicht blicken und strich höchstens lauernd auf Strümpfen im Flur herum. Man hörte da einmal eine Diele knarren. Sonst nichts.
Die Uhr schlug schon ein Uhr Morgens. Erich von Wölsick dachte nicht daran, zu Bett zu gehen. Er hatte überhaupt nicht die Vorstellung, daß er noch etwas ebenso zu tun habe wie andere Menschen. Man saß ja hier ganz gut im Dunkeln. Da ebbte allmählich alles. Es stand still. Er schloß die Augen, er kämpfte, schon im Halbschlaf tiefster Ermattung, mit den Gedanken, die schattenhaft, unbestimmt immer wieder aus der Tiefe stiegen, und zwang sie gewaltsam nieder, und endlich verfiel er in einen bleiernen, ohnmachtähnlichen Schlummer.
Als er erwachte, graute der späte Wintermorgen durch das Fenster, an das er trat, steif, übernächtig, ohne Lebenswärme. Er gähnte und sah hinaus in das fahle Zwielicht und hörte im Flur zwei Stimmen – erst die Michaels, dann die eines fremden Herrn. Sie sprachen gedämpft. Er vernahm ein geheimnisvolles »Jawohl – er ist da drinnen!« seines Dieners und dachte sich noch: »Was hat der verfluchte Kerl von mir per ›er‹ statt ›gnädiger Herr‹ zu reden?« während er ungeduldig die Türe öffnete. Und sein erster Eindruck beim Anblick des zurückhaltend sich verbeugenden, ihm vom Teichardtschen Hause her flüchtig bekannten Arztes war: »Es ist nicht zu glauben – mein Schwager schickt mir wirklich den Doktor – mir! Es gibt Dinge, die gehen nun einmal nicht in ein preußisches Gehirn wie seines . . .!« Dann sagte er höflich: »Bitte – treten Sie ein . . . Sie kommen von Teichardts? Man macht seinen Verwandten gern eine Freude! . . . Wissen Sie übrigens, daß Sie recht elend aussehen? . . . Sie haben wohl viel Arbeit, was?«
»Ja. 's ist Influenza-Zeit!«
»Sie sollten sich mehr schonen – wissen Sie das? Sie sollten einmal gründlich ausspannen – aber das können Sie eben nicht . . . Sie kommen nicht von hier weg . . . das versteh' ich . . . Sie müssen hier aushalten! . . . Ich auch, lieber Doktor . . . ich auch! . . . Und damit haben wir eigentlich schon alles, was Sie mir sagen wollten, in umgekehrter Reihenfolge erledigt. Abgekürztes Verfahren, nicht wahr? . . . Ihre Zeit ist ja auch kostbar . . .«
Der junge Arzt sah ihn aufmerksam an. Er war eine elegante Modegröße des Berliner Westens, an viel Menschen und Dinge gewöhnt. Er schüttelte leicht den Kopf.
»So banal bin ich doch nicht, Herr von Wölsick . . . Ich pflege individuell vorzugehen . . .«
»Schön! . . . Also richten Sie doch bitte meinem Schwager aus, individuell sei ich verrückt – aber für die Allgemeinheit unschädlich . . . darauf kommt es ja hauptsächlich an . . .«
Sein Gegenüber lächelte. Er hatte kluge, nußbraune Augen unter dem goldenen Zwicker.
»Der ersteren Behauptung widerspreche ich, Herr von Wölsick! . . . Sagen wir lieber: Sie haben sich gegen früher verändert . . .«
»Ja . . . und Sie mögen mir glauben, daß ich nie verrückter war als früher, wo ich noch meine Vernunft hatte – eine ungewöhnliche sogar, auf die ich sehr stolz war! . . . Warum sehen Sie mir so ins Auge? . . . Studieren Sie Pupillenerweiterung oder Halluzinationszeichen?«
»Ich beobachte Sie pflichtgemäß und glaube, daß Ihr Herr Schwager über Ihr körperliches Befinden sich unnötig ängstigt!« sagte der Arzt kurz und stand auf. »Und damit ist meine Mission beendet! Haben Sie besten Dank, Herr von Wölsick, und verzeihen Sie die Störung . . .«
Damit ging er nach der Türe. Erich von Wölsick war anfangs sitzen geblieben. Plötzlich sprang er empor und folgte ihm. An der Schwelle holte er ihn ein. Er faßte seine Hand, ungeduldig, fieberig. Er hatte sich ganz verwandelt. Sein bisheriger, geistesabwesend lächelnder Spott war weg. Die Angst sprach aus ihm.
»Ein Wort, Herr Doktor!« versetzte er schnell. »Kennen Sie meine Geschichte?«
»Ja.«
»Von meinem Schwager? . . . Aus den Zeitungen?«
»Durch beide!«
»Also . . . was soll ich denn nur mit mir machen?«
Es war eine Art von innerlichem Zusammenbruch für ihn – diese hilflose Frage an einen Fremden – einen Menschenkenner, der ihn ruhig ansah und erwiderte: »Sie machen auf mich den Eindruck eines Mannes, der durch unglückliche Zufälle seinen inneren Halt verloren hat, Herr von Wölsick . . .«
»Ja . . . ganz und gar . . .«
»Ja – und das geht über die Grenzen meines Berufes und meiner Kunst hinaus! Da bin ich nicht zuständig!«
»Als Arzt nicht, aber als Mensch! . . . Wenn Sie zum Beispiel in irgend solch einer Lage wären, daß Sie nicht mehr aus und ein wissen – was würden Sie da tun?«
»Ich würde wieder gesund werden wollen!« sagte der Arzt, die Klinke in der Hand. »Augenblicklich sind Sie in einem Zustand völliger Willenslähmung. Aus dem heißt es heraus! Auch in leiblichen Krankheiten können wir von außen so wenig! Das Beste hat der Mensch in sich – tausend Wege zur Genesung! Jeder von uns ist sich selber Gift und Gegengift! Seien Sie stark, Herr von Wölsick! Mehr kann ich wirklich nicht sagen . . .«
Er drückte dem anderen fest die Hand und ging. Aber seine Worte klangen in dem still gewordenen Zimmer nach. Sie wollten Erich von Wölsick nicht aus den Ohren. Sie waren wie ein Ruf des Lebens. Schließlich lebte er ja noch – also war noch Hoffnung. Hundert Dinge – jedes einzelne winzig und alltäglich – waren um ihn und verbanden ihn mit der Gewohnheit des Seins und Atmens und dienten dem Mechanismus der körperlichen und geistigen Bedürfnisse, in dem man sich durch die Erziehung als Menschen fühlte. Es war ja lächerlich, aber selbst der Seifenschaum des Rasierschüsselchens, der Dampf der Badewanne, der Glanz des Plätthemds, der weißleuchtende Stoß von Briefen und Zeitungen drüben auf dem Tisch – alles war wie die Häkchen kleiner, überkommener Pflichten – sie schmerzten, wenn man sich von ihnen losreißen wollte – sie fesselten einen an die Notwendigkeit, so zu sein, wie man immer gewesen, und Erich von Wölsicks Kopf war klarer, als er nach einer Stunde wieder, an den warmen Kachelofen seines Arbeitszimmers gelehnt, dastand und die Worte des Doktors überdachte.
Dem gingen in dem großen, gefräßigen Berlin so manche Menschentrümmer durch die Hände. Der wußte, was er sprach. Gift und Gegengift . . . freilich: an sich selber zu genesen, wie man an sich selber krank geworden – das war die Kunst! Und der Weg hieß: ich will . . .
Und Erich von Wölsick sagte sich: Nein. Ich muß! . . . Wie komme ich denn sonst weiter? Da heißt es mit mir ringen, wie mit einem bösen Feind! Sonst bleib' ich auf der Strecke!
Er setzte sich an den Tisch und schrieb hastig ein paar Zeilen an seine Schwester. Seine Hand zitterte noch merklich.
»Liebe Helme! Es fängt an, mir besser zu gehen! Ihr könnt unbesorgt sein! . . . Es war auch ganz gut, daß Ihr den Doktor geschickt habt! Er soll aber ja nicht wiederkommen! Ihr, bitte, auch nicht in nächster Zeit! . . . Ich muß mich jetzt allein durchkämpfen! Es hilft ja nichts! Es muß geschehen! Gruß Dir und Deinem Mann!
Erich.«
Mit diesem Briefe schickte er Michael fort. Er war froh, daß ihn nun der Schwager nicht wieder stören würde. Dieser Mann hatte immer recht, wenn er kam und etwas sagte. Seine Selbstverständlichkeiten waren schrecklich. Sie reizten zum Widerspruch. Erich von Wölsick schlug ihn sich aus dem Kopf. Irgendwo hatte er einmal etwas von »Robustheit des Gewissens« gelesen. Das Wort gefiel ihm. Es klang jetzt in ihm nach. Es goß Wärme ins Herz. Man atmete freier. Man biß die Zähne zusammen. Und andere solche Worte fielen ihm ein. Abgebrauchte. Von einem »Weg über Leichen«! . . . Und er erschrak. Er sah Jakobe Ansold vor sich liegen – die glanzlosen, tiefblauen Augen auf ihn gerichtet – und er hob den Fuß – er wollte über sie hinweg – und konnte doch nicht – und von hinten stieß es und drängte ihn . . . Augen zu! . . . Vorwärts! du mußt! – und er setzte sich schwer nieder und fühlte sich wieder schwach werden, hin und her geworfen von den beiden Menschen, die sich in seiner Brust bekämpften.
Drunten vor dem Hause hielt eine Equipage. Er rauchte sie gedankenlos an. Es ging ihm flüchtig durch den Kopf: Merkwürdig, daß die Leute in Berlin nie fähig sind, ein ordentliches Gespann zu halten! Wenn es auch noch so viel Geld kostet, am letzten fehlt's immer! . . . Wer fährt denn nur mit derart überfütterten Pferden? Und dann kamen ihm die fetten Tiere auf einmal bekannt vor – der Wagen auch – der Kutscher – dessen inzwischen schon in das Haus getretener Herr mußte der Generalkonsul Neerlage sein . . .
Und Erich von Wölsicks erster Vorsatz war: Wenn er zu mir kommt, ich empfange ihn nicht. Zum Glück ist Michael schlau genug. Der weiß, wie es mit mir steht. Der verleugnet mich. Gleich darauf aber fiel ihm ein, Michael war ja mit dem Briefe weg. Er pflegte dann den Chauffeur in der Zwischenzeit als Stellvertreter in das Dienerzimmer zu setzen. Der Mann wußte natürlich nicht Bescheid. Da klopfte er schon und meldete den Besucher an, und der folgte ihm auf dem Fuße und stand schon in der Türe, die kleine gedrungene Gestalt durch den halboffenen, kostbaren Biberpelz in den Schultern noch verbreitert, den weißen runden Vollbart bereift, den Zylinder in der Hand, daß die Glatze im Halbdunkel des Flurs leuchtete.
»'Morgen, mein lieber Herr von Wölsick . . .« sagte er gemütlich und mit jener schallenden Stimme, die er bei keiner Gelegenheit zu mäßigen pflegte, und trat ein, als sei gar nichts vorgefallen. »Ich wollt' nur mal gerade auf, einen Augenblick bei Ihnen 'reinschauen . . . selbstverständlich nur in Geschäften . . . rein in Geschäften! . . . Ich komme nur in meiner Eigenschaft als vielgeplagter Aufsichtsratmensch! . . . Wir haben ein Anliegen an Sie! . . . Wollen Sie's hören?«
Er wartete die Antwort gar nicht erst ab, sondern zog sich einen Stuhl heran, nahm Platz und stellte den Zylinder umständlich neben sich auf den Boden. Dann wischte er seine goldene Brille ab, setzte sie wieder auf und ließ seine kleinen durchdringenden Augen fest auf seinem Gegenüber ruhen. Das tat er stets, wenn er mit jemandem sprach. Viele Leute brachte er dadurch völlig in Verwirrung.
»Wissen Sie, daß Sie noch ganz elend aussehen, Herr von Wölsick?« sagte er endlich.
»Ja.«
»Na – kein Wunder! . . . Ich hab' mir gleich gedacht, daß es mit Ihrer Verwundung wohl doch ein bißchen ernster sein würde, als man zugab. Sie haben da, scheint's, doch einen ganz netten Denkzettel abgekriegt!«
»Hm!«
Erich von Wölsick ärgerte sich über den Ausdruck »Denkzettel«. Wie das klang! Als ob er irgend eine Dummheit begangen hätte und dafür gestraft worden wäre! Er sah den jovialen alten Herrn drüben gereizt an. Aber auf den machte das gar keinen Eindruck.
»Gestern abend beim Diner saß der dicke Mayer neben mir!« begann er. »Sie wissen – von der Stettiner Bank. Der schimpfte wie ein Rohrspatz! Wegen dieser Fresserei habe er schon am frühen Nachmittag von der Jagd heimkehren müssen. Und dabei sagte er: ›Apropos . . . Herr von Wölsick war auch im Zug. Er stieg unterwegs ein und fuhr bis Berlin!‹ Da dacht' ich mir, ich versuch' es heute einmal bei Ihnen! . . . Na – lassen Sie sich mal die Hand drücken. Also glücklich von den Toten wieder auferstanden! Wäre auch schade gewesen um Ihren Kopf! Wenn ich einen Sohn hätte, den wünschte ich mir für das Kontor von Ihrem Schlag . . .«
Erich von Wölsick hörte eisig sein Lob. Er schwieg und dachte sich nur: Aber ich dankte für dies Rauhbein als Vater! Da ist mir mein eigener lieber, wenn ich ihn auch kaum gekannt hab'! . . . Und trotzdem hatte er gegenüber diesem kleinen, gedrungenen Selfmademan, dieser Börsenausgabe von Bismarck, der sich da eben bedächtig eine Havanna aus der stumm angebotenen Kiste nahm, das Gefühl: Da sitzt nun ein Mann, der ist ein Tatenmensch. Die Welt ist ein Kurszettel – die Menschen sind Ziffern – zwei mal zwei ist vier –. Wer Arm in Arm mit dem geht, kommt durch dick und dünn! Und er versetzte trocken: »Ihre Worte ehren mich, Herr Generalkonsul! . . . Aber Sie wollten doch in Geschäften mit mir reden!«
»Ja – ja! . . .« der andere lachte und streckte den kurzen, dicken Zeigefinger gegen ihn aus. »Sie sind das Geschäft . . . Wir brauchen Sie. Wir wollen jemanden nach Amerika schicken! Sofort! . . . Es liegt da eine große Sache in der Luft – na – haben Sie Lust . . .?«
»Nein!«
»So–o? Das wundert mich! Ich bildete mir ein, Sie würden jetzt vielleicht gerade . . . Und was haben Sie für Gründe zu Ihrer Ablehnung?«
»Nun – zum Beispiel?«
Erich von Wölsick schwieg eine Weile. Dann sagte er gleichgültig: »Zum Beispiel – da Sie ja schon die Güte hatten, von meinem Duell und was dazu gehört zu reden – den einen Grund, daß Frau Ansold in den nächsten Wochen nach Amerika übersiedelt und also meine gleichzeitige Reise dorthin ganz anders gedeutet werden würde . . .«
Der Generalkonsul riß die Augen auf.
». . . nach Amerika übersiedelt? . . . Ja . . . dauernd?«
»Gewiß!«
»Ja und Sie? Verzeihen Sie – das fuhr mir nur so in meinem Erstaunen heraus . . . es geht mich ja natürlich nichts an . . .«
»Ihnen bin ich vielleicht am ersten Offenheit schuldig,« versetzte Erich von Wölsick, »obwohl Sie ja schon damals meinem Ehrenwort, daß meine Beziehungen zu Frau Ansold völlig gelöst seien, offenbar mißtrauten!«
»Na – das war nicht so gemeint, Herr von Wölsick!«
»Das war insofern gerechtfertigt, als doch noch nachträglich eine Begegnung zwischen Frau Ansold und mir stattgefunden hat, was ich damals nicht voraussehen konnte. In ihr hat sich die Notwendigkeit unserer Trennung für immer ergeben. Das ist nun völlig entschieden! In kurzem wird der Atlantische Ozean zwischen uns sein, und Sie begreifen, daß ich dann den nicht in Geschäften kreuzen kann!«
Er hatte ganz ruhig gesprochen und sah nun seinen Besucher so an, als erwartete er, daß damit diese finanzielle Unterredung zu Ende sei. Der Generalkonsul Neerlage hatte sich in der Tat erhoben. Aber er machte keine Miene, sich zu verabschieden, sondern ging nachdenklich, die Zigarre in der Hand, im Zimmer auf und ab, als sei er hier zu Hause.
»Sieh mal an!« sagte er endlich, stehen bleibend. »Also so ist das? . . . Ehrlich gestanden, Herr von Wölsick . . . mich freut's für Sie! . . . Geschäftlich mein' ich natürlich! Wir sind ja hier immer nur beim Geschäft . . . Reiner Tisch! . . . Das ist ein Segen für jeden, der vorwärts will . . .«
»Diese Erwägung war für mich vollkommen gleichgültig!« sagte Erich von Wölsick mit einer leisen Nervosität der Ungeduld. Aber der Generalkonsul ließ sich nicht anfechten.
»Ja, für Sie vielleicht. Aber für andere nicht! . . . Sehen Sie mal, lieber Herr von Wölsick: Jeder, der es mit Ihnen gut meinte, hatte die aufrichtige Angst, daß die Geschichte hinter Ihnen herschleppen würde, in irgend einer Form – wie 'ne Kugel am Bein durchs halbe Leben . . . oder durch das ganze . . . Und der Kampf ums Dasein ist heutzutage für jeden von uns so schwer – ob er nun Schnee schippt oder auf Gummi fährt – ganz egal – daß man dazu seine volle Kraft braucht. Ich wenigstens hab' sie bei mir zusammengehalten und lass mich auch mit keinem ein, der sie vertrödelt und verplempert . . .«
Der Generalkonsul hatte die letzten Sätze noch schallender als sonst gesprochen. Er stand mitten im Zimmer – klein, stämmig, mit hitzigen Augen unter weißen Brauen. Und Erich von Wölsick hatte ein unbehagliches Bewußtsein: dort ist der eiserne Topf und hier der tönerne . . .
Sein Besucher zuckte die Achseln.
»Ja, das versteh' ich ja nun alles wohl, Herr von Wölsick! . . . Also mit Amerika ist's nichts! Legen wir's ad acta! . . . Aber wie wäre es denn mit irgend etwas anderem?«
Erich von Wölsick sah ihn erstaunt an. Hörte jener denn noch nicht auf? Ein Verdacht stieg in ihm empor, daß dies gesamte Geschäftliche nur ein Vorwand sei, und er versetzte kühl: »Sie erstaunen mich, Herr Generalkonsul! Ich wußte gar nicht, daß ich noch so hoch im Kurse stehe!«
»Und ob! Sie kann man brauchen! . . . Sie haben einen klaren Kopf. Sie wissen, wo das Geld steckt . . .«
Dabei stieß der Alte seinen goldknöpfigen Rohrstock lebhaft zweimal vor sich auf den Boden, als lägen da unter dem Parkett Schätze vergraben. Dann hob er den energischen Graukopf: »Na – wie ist es?«
»Es tut mir leid . . . Nein!«
»Das verstehe ich wirklich nicht! . . . Warum wollen Sie sich denn bei einer anderen Finanzgruppe betätigen als bei unserer . . .«
»Ich will gar nichts mehr mit derlei zu tun haben!«
»Ja, aber irgend etwas müssen Sie doch anfangen!«
Das verdroß Erich von Wölsick. Er sagte absichtlich etwas von oben herab: »Ich bin der Herr auf Sommerwerk, Herr Generalkonsul!«
»Aha! Spiritus brennen – Kartoffel bauen – Ochsen mästen . . .« Der Bankier spitzte seine wulstigen Lippen und pfiff leise durch sie vor Erstaunen. Es sah komisch bei ihm aus und er lachte selber, während er fortfuhr: »Und wie lange, Herr von Wölsick? Ein Vierteljahr? – ein halbes? Na – sagen wir ein ganzes! Aber mehr auch nicht!«
»Ich weiß nicht, warum das Ihre Heiterkeit erweckt, daß ich das tue, was meine Vorfahren seit fünfhundert Jahren taten!«
Er betonte nachdrücklich seine Ahnen. Und der Millionär aus dem Bürgerstand vor ihm wurde plötzlich ernst und sagte: »Sie können das eben nicht mehr tun, Herr von Wölsick!«
»Warum nicht?«
»Sie sind viel zu sehr ein moderner Mensch. Ein Kind der neuen Zeit. Ihre Empfindungen in Ehren – die mögen von gestern sein! Aber Ihr Verstand ist von morgen. Darum sehen Sie nicht nur mehr, sondern auch anders als der Durchschnitt Ihrer Standesgenossen. Sie sehen so, wie irgend einer, der nichts von fünfhundertjährigen Ahnen weiß – etwa Ihr ergebener Diener hier . . . mit den zwei Augen im Kopf kommen Sie nicht zurück in die Postkutschenzeit!«
»Lassen Sie es schließlich meine Sache sein, Herr Generalkonsul, wie ich mich damit abfinde, daß ich nun einmal ein Wölsick bin!«
»Guter Gott! Es hat gewiß schon so mancher Wölsick den lieben Nächsten beim Pferdehandel übers Ohr gehauen!« sagte der Generalkonsul Neerlage, indem er sich nun ernstlich zum Gehen zu rüsten schien. »Ihr seid gar nicht so schüchtern in Geschäften, ihr Junker da draußen! Nehmen Sie mir's nicht übel: Wenn ein Mensch seinen Vorteil in Preußen kennt, dann seid ihr es! . . . Und nicht erst seit gestern! . . . Ihr habt euch allem angepaßt! Nur war Preußen bisher arm. Darum konntet ihr euch der Hochfinanz noch nicht anpassen . . .«
Es war, als unterdrückte er etwas, während er seinen Zylinder nahm und den Pelz zuknöpfte. Und Erich von Wölsick ergänzte sich: außer als Schwiegersöhne! Und der da will keinen unnützen Brotesser im Haus, sondern einen, der ihm hilft. Und dies alles bisher war nur eine Finte.
Und mitten in seinen Verdacht hinein sagte sein Besucher trocken und geschäftsmäßig: »Schade! Na, wie Sie wollen! . . . Ich brauche so notwendig eine Stütze! . . . Nicht für die eigentliche Arbeit – da ist schon Nachwuchs . . . tüchtige junge Leute! . . . Aber nach außen hin – die verfluchte Kinderstube, wissen Sie – da hapert's – das Selbstverständliche im Auftreten und in den Manieren . . . Wenn ich an Ihre Verbindungen denke: da ein Onkel als Minister – dort ein Vetter im Auswärtigen Amt – hier ein Flügeladjutant, das fleckt! . . . na . . . es muß ja auch so gehen! Aber ich muß sagen: ich bin schon recht alt und mürbe . . .«
Dabei war er ein Bild weißköpfigen, rüstigen Lebens, und Erich von Wölsick sah sein ernsthaft bekümmertes Gesicht und dachte sich: Auch noch Krokodilstränen zum Abschied . . ., da nickte der andere und meinte: »Sie wissen doch: Ich habe Schweres in letzter Zeit durchzumachen gehabt. Meine Tochter war doch so krank! Na ja, natürlich: Sie lagen selber fest! Da haben Sie's nicht gehört . . .«
Nun nannte er wirklich Sophies Namen. Deswegen war er gekommen! Und er setzte hinzu: »Sie ging doch noch vor Neujahr nach Petersburg, zu Verwandten. Dort hat sie sich's geholt. Irgend ein gastrisches Fieber, anfangs – das Wasser ist doch dort so schlecht – oder was es nun war. Jetzt scheint es sich mehr auf die Nerven geworfen zu haben – seit vierzehn Tagen haben wir sie wieder im Haus . . . aber sie kann und kann sich nicht recht erholen . . .«
»Darf ich bitten, meine besten Wünsche auf baldige Besserung zu übermitteln!«
»Danke! Soll geschehen!« Und, schon mit der Hand an der Türklinke, fügte der Generalkonsul Neerlage plötzlich unvermittelt hinzu: »Na – lassen Sie sich doch wieder mal bei uns sehen, Herr von Wölsick! . . .«
»Wie meinen Sie, Herr Generalkonsul?«
»Ich meine, daß Sie lange nicht bei uns waren! . . . Natürlicherweise . . .« Er schaute flüchtig am Knie des anderen hinunter. »Aber wenn Ihr Bein Sie jetzt bis zu uns trägt . . .«
»Mich?«
»Nun ja . . .«
»Ich verstehe das wirklich nicht, Herr Generalkonsul – wie Sie nach allem Vorgefallenen auf die Vermutung meines Besuches kommen können . . .«
»Erlauben Sie mal . . .« Der andere ging bis in die Mitte des Zimmers zurück. »Es ist nur, damit Ihr Diener nicht horcht!« erklärte er. »Die Kerle schnaufen zum Glück immer so laut am Schlüsselloch – also, klipp und klar: Ich habe Ihnen seinerzeit, hier in eben diesen vier Wänden, gesagt: Machen Sie sich von der ganzen Sache los, daß nichts mehr davon für Ihr ferneres Leben übrig bleibt! Und dann wollen wir weiter sehen! . . . Nun . . . und Sie haben diesen Strich unter die Vergangenheit gezogen . . . vollkommen, wie Sie mir eben versichern, und ich bin zufällig zu Ihnen gekommen – wenn auch eigentlich in Geschäften – und das andere machte sich dann so hinterher . . . ich will um Gottes willen nicht taktlos erscheinen! Tun Sie natürlich ganz, was Sie wollen . . .«
Erich von Wölsick hätte ihm am liebsten geantwortet: »Guter Mann, Sie sind ja die Taktlosigkeit selber! Und die bewußte Taktlosigkeit!« Aber er erwiderte ihm nur mit höflicher Kühle: »Ich danke Ihnen herzlichst für Ihre Einladung! Folgen kann ich ihr leider nicht.«
»Warum denn nicht?«
»Aus dem sehr einfachen Grunde: weil meine Selbstachtung mir das verbietet.«
»Ich kann Ihnen doch keinen Triumphbogen in der Tiergartenstraße bauen lassen. Es ist doch wahrhaftig schon alles mögliche, daß ich überhaupt hier bin . . . daß ich . . .«
»Gewiß, Herr Generalkonsul: wenn es auf Sie ankäme! . . . Aber es handelt sich um Ihr Fräulein Tochter! . . . Es ist das unbestrittene Recht einer jungen Dame, wem sie will, zu verstehen zu geben, daß er ihr unwillkommen ist! Aber es ist dann auch das Recht des Unwillkommenen, sich fernzuhalten. Oder, vielmehr seine Pflicht . . .«
»Ich sage Ihnen ja – das war damals! Jetzt hat sich die Lage doch ganz geändert!«
»Das können Sie nicht ermessen, Herr Generalkonsul!«
»Weil in solchen Dingen Ihr Fräulein Tochter wohl kaum einem Einfluß von Ihnen zugänglich ist. Ich möchte bezweifeln, daß sie Sie in allem ins Vertrauen zieht . . .«
»Das hab' ich auch nicht behauptet . . .«
»Und ohne das können Sie kaum eine Verantwortung übernehmen! . . . Also nochmals meinen Dank!«
»Bitte! . . . bitte!« Der Generalkonsul Neerlage hob abwehrend die Hände, als wollte er alles zurücknehmen, was er gesagt. Er war zu Erichs Erstaunen keineswegs sonderlich verschnupft. Er schien seinen Mißerfolg philosophisch aufzufassen. »Nun gut!« sagte er. »Wir haben als Männer darüber geredet – ohne überflüssigen Schnickschnack – und nun Schluß! Lassen Sie es sich gut gehen, Herr von Wölsick! . . . Bleibt Ihr Bein eigentlich steif?«
»Nein!«
»Famos!« Der alte Herr trat in den Flur. Der andere begleitete ihn bis zum Ausgang. Dort schüttelten sie sich noch einmal die Hände. Dann rollte der Wagen davon, und Erich von Wölsick hatte das unbehagliche Gefühl: So! Jetzt hast du's auch da verspielt! . . .
Es war keine Reue. Er würde gleich wieder so gehandelt haben. Er konnte ja gar nicht anders. Und doch: Wohin kam man mit der Verneinung aller Dinge? Der Alte hatte vorhin ganz recht: Irgendwie und irgendwo mußte man doch leben. Daheim – auf dem väterlichen Erbe? – Ein bitteres Lächeln zuckte um seine Lippen – Selbst wenn er da zum eingesessenen, hinter Pflug und Sense herwetternden Krautjunker wurde – dort drüben am Horizont ragten die Türme der wohlbekannten Stadt. Und es klang von ihnen über das weite Feld und der Wind trug eine Mahnung ans Ohr, einen Ton von einst – und wenn er ein alter Mann war und seine Haare weiß, so zuckte ihm plötzlich dort wieder das Herz zusammen und der bittere Schmerz lebte auf . . .
Nein, die Erinnerung machte ihn heimatlos auf Sommerwerk. Sie schied ihn von seiner Scholle. Und draußen, die weite Erde? Man konnte sie nicht ewig durchstreifen. Und Berlin – dies Berlin der Müßiggänger – die Welt der Klubs? Er hatte stets einen Abscheu davor gehabt. Berlin – das hieß Arbeit – vom Morgen bis zum Abend – vom Kaiser bis zum Kärrner – es war das Reich der Neerlages. Und er brauchte die Arbeit mehr als jeder andere . . .
Der Diener trat ein und brachte ihm die Antwort seiner Schwester, auf die paar Zeilen, die er ihr geschickt. Frau von Teichardt schrieb sehr erfreut:
»Gott sei Dank, liebster Erich, daß es mit Dir besser geht. Hoffentlich ist nun das Schlimmste überwunden! Kopf hoch! Es wird schon noch alles werden!«
Er ließ das Blatt sinken und dachte sich: Merkwürdig, wie viel Heroismus doch wir alle im Ertragen fremder Leiden haben! – dann las er weiter:
»Ich bin so froh und möchte Gott danken, daß Du nun dies alles als beendet ansiehst. Bleibe dabei, Erich: Ich beschwöre Dich! Schaue nicht mehr rückwärts! Dann wirst Du bald gesunden und ganz der alte werden und bleiben, was Du uns immer warst: der Stolz und die Hoffnung der Familie . . .
»Ich komme heute gegen Abend bei Dir heran! Ich täte es gerne jetzt gleich! Aber es ist so schrecklicher Trubel im Hause mit den Kindern – ich kann nicht fort. Also auf Wiedersehen, lieber Bruder! Einen warmen Händedruck von meinem Mann! Deine
Helme.«
Erich von Wölsick warf den Brief in das Feuer und freute sich, als er aufflammte. Die Egoisten um ihn langweilten ihn. Und er war doch selber einer gewesen und mußte es wieder werden, wenn er weiter leben wollte.
Immer mehr erfüllte ihn dieser Wille zur Umkehr. Sein Herz verhärtete sich in den langen einsamen Vormittagsstunden, in denen er in finsterem Schweigen sein Zimmer durchmaß. Nur einmal endlich wieder festen Boden unter den Füßen haben, diesen ewigen Zweifeln und Schmerzen entronnen sein – er sehnte sich danach. Es war der Drang des Kranken nach Erlösung. – Die Schwester hatte ganz recht. Aber was sollte er ihr sagen, wenn sie zu ihm kam? – Ich habe mir wiederum die Zukunft verriegelt. Ich habe den alten Neerlage mit leeren Händen heimgeschickt . . .
Es war schon gegen zwei Uhr Nachmittags, als sich Michael wieder zu seinem Herrn ins Zimmer wagte. Auf dem Tablett in seiner Hand schimmerte ein Brief. Ein Diener hatte ihn eben aus der Tiergartenstraße gebracht. Und Erich von Wölsick erkannte auf den ersten Blick die Handschrift Sophie Neerlages.
Einen Augenblick stand er stumm und wartete, bis Michael gegangen, dann öffnete er langsam den Umschlag und las:
»Mein Vater erzählte vorhin bei Tisch, Sie seien wieder in Berlin. Darf ich die Gelegenheit benutzen und Sie an eine Kleinigkeit erinnern? Ich gehöre nämlich zu den pedantischen Menschen, die gerne ihre ausgeliehenen Bücher wieder zurück haben, zumal wenn sie meine Ex libris und den eigenen Einband besitzen wie die zwei Bände Aphorismen von Chamfort und Larochefoucauld, die Sie anfangs Dezember vorigen Jahres einmal auf meinen Rat mit nach Hause genommen und sicher seitdem nicht wieder angesehen haben. Bitte, geben Sie sie doch dem Diener mit oder bringen Sie sie bei Gelegenheit selbst, wenn Sie sie nicht gleich finden können. Ich bin, wie Sie wohl gehört haben, auch noch so ziemlich Halbinvalide und selten aus, um die Teestunde niemals. Mit bestem Dank für die Rückerstattung der beiden Bändchen im voraus
Ihre ergebene
Sophie Neerlage.«
Erich von Wölsick preßte das zarte Blatt in seiner Faust zu einem Knäuel. Sein Gesicht wurde hart. Dann trat er mit einem raschen Entschluß hinaus auf den Flur. Draußen stand ein Lakai und wartete. Und sagte zu dem sich verbeugenden Mann: »Bestellen Sie dem gnädigen Fräulein, ich würde mir erlauben, die Bücher heute nachmittag persönlich abzugeben!«
»Sehr wohl!«
Der Diener entfernte sich. Vom Fenster seines Zimmers aus sah Erich von Wölsick ihn um die Ecke gehen. Es zuckte in ihm, die Scheiben aufzureißen, ihn noch einmal zurückzurufen, ihm zu sagen – ja, was ihm zu sagen? . . . Und da war die Livree schon verschwunden. Und er wandte sich schwer aufatmend ab und sah mechanisch auf die Uhr – es war ein Viertel auf Drei – und sagte sich: »Also noch zwei Stunden! Und nur an nichts denken, sich an nichts erinnern, nichts bereuen in dieser Zeit . . .«