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Am Abend des nächsten Tages saß Erich von Wölsick in seinem Zimmer, rauchte, sah gedankenvoll den Ringeln nach und tat nichts weiter. Das dumpfe, lähmende, ungeheuere Erstaunen von gestern lastete noch bleiern auf ihm. Es galt weniger Jakobe als ihm selber. Wer war er denn eigentlich, der in letzter Zeit kein Augenmaß mehr besaß, jeden Schritt falsch einschätzte und daneben trat, von einer Demütigung zur andern? Durfte man ihm so kommen? Und man tat es doch. Man frug ihn gar nicht erst. Man schickte ihn einfach heim, so selbstverständlich, als wäre er der erste beste. Man wies ihm buchstäblich die Tür. Das brannte wie ein Stich in seinem Herzen und in seinem Stolz. Das brachte ihn ganz außer sich vor dumpfer Wut.
Und dieser Zorn richtete sich wiederum nicht gegen Jakobe Ansold – dazu war er noch viel zu verblüfft – sondern gegen ihn selbst! Er machte sich höhnende Vorwürfe. Er schob sich nachträglich ganz andere Beweggründe unter. Das kam davon, wenn man seinen besseren Eingebungen folgte! Man brauchte sich nur so zu benehmen, wie es im Fibelbuch stand – gleich hatte man rechts und links seine Maulschelle vom Schicksal! Lächerlich machte man sich. Man würdigte sich herab. Man erschien sich wie ein Narr.
In dieser Stimmung ohnmächtigen Überdrusses sah er seinem Diener zu, der im Kamin ein Feuer anzündete – nur für das Auge, denn es war auch Luftheizung da – und dachte sich müßig: »Ob Michael eine Seele hat? schwerlich! Er ist nur ein mechanisch bewegtes Wesen. Er handelt aus bösen Instinkten.« Und dann zweifelte er wieder: »Am Ende ist er eben so wie ich und hat sein Leid und seinen Ärger für sich wie ich – es gibt innerlich gar keinen Unterschied zwischen den Menschen. Ich habe mir nur eingebildet, etwas anderes als andere zu sein!« Und schließlich ärgerte er sich, daß er sich nun schon mit seinem Diener verglich, und schickte ihn fort und versank bei einer neuen Zigarre in das alte Staunen.
Immer in das Staunen über Jakobe Ansold. Das war nun neben ihm gewesen, war vor seinen Augen aufgeblüht, hatte sich zu Licht und Luft hinauf entwickelt durch ihn, und er hatte es nicht gesehen. Wenigstens nicht so gesehen, wie es werden wollte. Nie hätte er ihr das alles zugetraut. Es war ihm jetzt noch ein Rätsel. Ein quälendes Rätsel.
Sie handelte doch wie eine Verrückte, bei Lichte besehen. Sie opferte hin, was sie hatte, und stieß ihn zurück, der ihr zehnfachen Ersatz dafür bot, und wollte bettelarm bleiben. Das hatte doch so gar keinen Sinn. Und was wurde denn schließlich aus ihr? In der stickigen Lavendelluft der Altjungferwohnung da drüben hielt sie es doch nicht lange aus. Es drängte sie hinaus ins Leben. Und dort wartete es ja nur auf sie, die schön, einsam, unglücklich und heißblütig war. Gefahr und Klippen von allen Seiten. Und niemand war da, um ihr zu helfen, der armen, armen Frau . . .
Er wollte sich in seinen Gedanken zu Mitleid mit ihr zwingen. Aber es gelang ihm nicht. Es wurde etwas ganz anderes daraus – eine unwillkürliche scheue Achtung vor ihrem Tun – und eine innere Stimme sagte ihm auf einmal: sie hat ganz recht! . . . mit ihrem Trotz gegen dich und alle Welt . . .
Und stärker als je war in ihm das schlechte Gewissen gegenüber ihr, die ihm so unbegreiflich über den Kopf hinausgewachsen war, und die Reue und – er mochte es wahr haben wollen oder nicht, und noch so erregt aufspringen und auf und nieder gehen – eine tiefe Beschämung.
Er blieb vor dem Spiegel stehen und lachte zornig sein Ebenbild an. Sonst war er zufrieden, wenn er das sah. Heute war ihm dieser schlanke Weltmann von ruhiger Eleganz im Glase ein verhaßter Anblick, und er sagte zu seinem Doppelgänger: Das kommt alles davon, daß du nicht mehr deinen geraden Weg verfolgst! Das rächt sich immer! Ein Etwas zieht dich seitlings seit diesem Sommer . . . Es lenkt dich aus deiner Bahn . . . Du bist steuerlos geworden durch Jakobe Ansold . . .
Und warum tut sie's? Und woher nimmt sie nur die Kraft, es zu tun? . . .
In einer plötzlichen Anwandlung von Ungeduld schüttelte er die Frage von sich ab. Was auch geschehen war, schließlich war er doch dadurch frei. Die Vergangenheit war nun tot. Er konnte sein Leben wieder neu anfangen, wie es ihm beliebte. Und hatte doch eigentlich auch nichts verloren. Es war noch alles da, was er früher besessen. Man war höchstens um eine Erfahrung reicher. Und die hatte auch ihr Gutes. Wer konnte wissen, wie eine Ehe ausfiel, die unter diesen Voraussetzungen, in dieser Stimmung zu stande kam? Eine Last fürs Leben wäre ihm die Vorgeschichte ihrer Heirat doch immer in Gesellschaft und Öffentlichkeit geblieben. Vielleicht hatte das gütige Schicksal ihn gerade noch in letzter Stunde, wenn auch mit rauher Hand, vor seinem größten Schwabenstreich bewahrt . . .
Dieser Einfall war ihm eine Erlösung. Der klärte alles. Durch ihn fand er sich allmählich zu sich selber zurück. Seine Niederlage von gestern erfuhr ohnedies keine Menschenseele. Jakobe Ansold schwieg. Davon war er überzeugt. Die machte der Stolz stumm. Es kam nur auf ihn an, sich gründlich im Vergessen zu üben!
Er nickte mit einem kalten Gesichtsausdruck vor sich hin und sagte sich: So – jetzt scheidet Jakobe Ansold für immer aus meinem Leben! sie wollte mich nicht haben. Ich brauche auch sie nicht!
Er besaß noch ein Bündelchen Briefe von ihr und ihr Bild, das sie ihm damals im Sommer gegeben. Das nahm er beides aus einem Schubfach. Das Kaminfeuer drüben war gut zu solch einem Autodafé. Zuerst die Blätter! billiges Schreibpapier aus der Kleinstadt, so recht nach dem schmalen Beutel einer jungen Hauptmannsfrau – er lächelte unwillkürlich zum ersten Mal – darauf ihre langen nervösen Schriftzüge. Die las er noch einmal, während er Stück für Stück ins Feuer warf – da die Einladung zu dem ersten und einzigen Essen in ihrem Hause:
»Sehr geehrter Herr von Wölsick! Wollen Sie meinem Mann und mir die Freude machen, morgen, Sonntag, Mittag 1 Uhr einen Löffel Suppe bei uns zu nehmen? Ihre ergebene
Jakobe Ansold.«
Die Suppe war wässerig gewesen, und der Hausherr hatte muffig und büffelig dagesessen und sich kaum die Mühe gegeben, seine Verstimmung halbwegs zu bemänteln, und Jakobe hatte ihrem Gast nachher einmal gestanden, sie sei froh gewesen, als das Mahl glücklich zu Ende war.
Und da wieder ihre Visitenkarte – die Freiherrnkrone ihrer Mädchenherkunft über dem bürgerlichen Namen ihres Mannes und unter diesem nur ein paar Worte hingekritzelt: »sendet mit bestem Danke die Bücher zurück!« Die hatte er ihr von Berlin kommen lassen – das Neueste an Übersetzungen aus der skandinavischen und russischen Literatur. Es machte ihm Spaß, ihren ausgehungerten Kopf mit dem Fortgeschrittensten zu füllen, was über die Befreiung der Frau gedichtet und gedruckt worden war, und sie verschlang es gierig. Sie übersättigte sich daran. Es war viel zu viel für sie – auf einmal – dieser plötzliche Überschwall und Einbruch fremder Gedanken in ihre eigene, schon so unruhige Empfindungswelt – er wußte es wohl – aber es war für ihn eine Ablenkung von der Eintönigkeit seiner Waffenübung in der kleinen Garnison, lächelnd diesen Sturm im Wasserglase zu beobachten. Über die Folgen dachte er nicht weiter nach. Schließlich war sie doch auch schon nahe an dreißig. Er hatte doch keine Verantwortung für sie . . .
Nun ein längerer Brief. Sie schrieb:
»Lieber Herr von Wölsick! . . . Nein! ›zufällige Begegnungen‹ auf einem Spaziergang liebe ich nicht! Das sieht nach einem Stelldichein aus und ist auch eins und schmeckt nach schlechtem Gewissen. Wozu denn? Das haben wir doch nicht nötig! Holen Sie mich nur ruhig morgen zu einem Spaziergang ab. Es wird natürlich darüber geredet werden. Es wird jetzt schon geredet. Aber mir ist das gleich. Ich bin so kampflustig in letzter Zeit. Ich hab' solch einen Übermut. Das sind Sie und die Bücher – ich fürchte, das sind zwei recht gefährliche Berater, für jemanden wie mich . . .«
Erich von Wölsick ließ das Blatt aufflackern und dachte sich: Damals war es schon höchste Zeit! da hätte ich mich zurückziehen müssen! Die kleine Frau war ja schon ganz toll! – Und dann las er ein flüchtiges Billett:
»Lieber Freund! Das geht nicht! Schaffen Sie noch ein Ehepaar für die Automobilfahrt – sonst komme ich nicht mit! die Kommandeuse kriegt ohnehin schon beinah' Krämpfe. Sie hat mich gestern nachmittag eingeladen und allerhand Andeutungen gemacht, und ich habe geschwiegen und Blümchenkaffee getrunken und verstockt in meine Tasse gelächelt. Aber was zu viel ist, ist zu viel. Wir dürfen die Menschen nicht herausfordern, wo wir nichts zu verbergen haben . . .«
Das Feuer knisterte. Und dann kam ihr letzter Brief, am Abend, nachdem sie sich getrennt, geschrieben:
»Lieber Freund! Ihre Nähe ist noch um mich. Ich weiß Sie noch in derselben Stadt mit mir, wenige Straßen weit. Das gibt mir Trost, wenn ich Sie auch nicht mehr erreichen kann. Aber morgen früh fahren Sie nach Berlin, und ich weiß nicht, wann wir uns wiedersehen werden. Hoffentlich recht bald. Und inzwischen will ich meine Schuld bei Ihnen abtragen und Ihnen noch einmal von Herzen für das danken, was Sie mir gewesen sind. In diesen sechs Wochen ist in mir so unendlich viel gereift und klar geworden, durch Sie – ich habe einen wahren Schrecken davor bekommen, wie ich bisher gelebt habe. Ich verstehe mich gar nicht mehr, wenn ich zurückschaue. Es ist, als hätten Sie mich vor einen Spiegel geführt und mich mir selbst erst gezeigt. Es ist so viel Kleinliches und Klägliches um mich herum. Es hätte mich auf die Dauer erdrückt, wenn Sie nicht gekommen wären. Sie haben ein gutes Werk vollbracht und eine arme Seele befreit. Die möchte nun die Flügel ausbreiten und fliegen. Wird sie's können? Ich habe so viel Hoffnung in mir und guten Mut, weil ich Ihrer Freundschuft sicher bin. Seien Sie gewiß: ich werde in allem Ihrem Rat vertrauen und nichts ohne ihn oder gegen ihn tun, und Geduld haben! Gott – wie hasse ich dieses Wort . . . Geduld, Geduld – ob 's Herz auch bricht . . . Aber es gibt Herzen, die brechen nicht mehr. In denen ist zu viel Leben! Ich freue mich auf das Leben, zum ersten Mal, so weit ich denken kann. Und ich schreibe diese Zeilen guten Mutes in dunkler Nacht und grüße Sie durch die Nacht! Ihre dankbare
Jakobe Ansold.«
Er knitterte den Brief scheu mit einer Kraftanstrengung zusammen und warf ihn in den Kamin. Das Feuer erhaschte ihn eilig. Er war nur noch ein lichterlohes Bündel – ein Häufchen Asche – und im selben Moment widerfuhr Erich von Wölsick das Unerwartetste, ihm selbst Unglaublichste: er fühlte plötzlich helle Tränen in den Augen. Es wehte ein Hauch der Erinnerung aus dem Gezüngel der Flämmchen – verschollenes Sehnen – ein Träumen und Lächeln Aug' in Auge – halb Sommerspiel, halb Lebensernst – er hatte Jakobe Ansold vielleicht doch mehr geliebt, als er selber glaubte . . .
Und auf diese Zeilen voll geheimen Herzensjubels und demütiger Ungeduld hatte sie niemals eine Antwort bekommen! Er verließ den Platz am Kamin – es war jetzt ohnedies alles, was an Briefen da war, verbrannt – und ging bis in die Mitte des Zimmers und murmelte da vor sich hin zwischen den Zähnen: »du elender Mensch!« und dachte sich dabei: »das ist das Wahrste, was du dir je gesagt hast,« und begriff doch seine jähe Aufwallung gar nicht, diesen Rückschlag von Schmerz aus einer längst vergangenen Zeit . . .
Das war doch eine törichte, ihm ganz ungewohnte Schwäche. Man mußte sich gegen solche Kindereien wappnen! Er schämte sich seiner feuchten Augen und riß ungeduldig das Letzte vom Tisch, um es auch noch zu verbrennen – ihr Bild.
Das hatte sie ihm am Tage, ehe sie ihm jenen Brief geschrieben, geschenkt. Hinten stand kein Name, kein Datum, und – seltsam aus dem Zusammenhang – eine Zeile von Goethe: »Das alles hat nicht Anfang, hat nicht Ende . . .« Er drehte es um und betrachtete lange mit einer finsteren Aufmerksamkeit ihre Züge. Es schien ihm, als hätte sich deren zarte und sprechende Schönheit jetzt etwas gegen damals verändert. Sie waren nicht mehr so weich, so verträumt, so wartend. Sie kannten jetzt das Leben. Als sie gestern hochaufgerichtet vor ihm gestanden und nach der Türe gewiesen, da war ein herrischer Glanz in ihren blauen Augen gewesen und Härte um ihre Lippen. Aber sie war ihm hinreißend schön erschienen, schöner denn je. Was wollte das arme Bild da gegen diese lebendige Erinnerung besagen?
Er nahm es und kniete am Kamin nieder und schob es behutsam, als wolle er ihm nicht wehe tun, gegen die Feuerzüngelchen hin. Die leckten daran. Aus einem Flammenkranz grüßte Jakobe Ansolds Antlitz leise lächelnd zu ihm empor, der gedankenvoll davor stand. Noch widerstand es der Glut. Aber sie war schon nahe. In kurzem mußte ihr Bild geschwunden sein und mit ihm das Letzte von ihr aus seinem Leben. Nichts erinnerte ihn dann mehr an sie. Sie war für ihn tot. So als hätte er sie nie gekannt. Und dieser Gedanke war ihm plötzlich unerträglich. Es zuckte in seiner Hand. Er wollte doch etwas von ihr zurückbehalten, etwas, wodurch er noch mit ihr zusammenhing. Und mit einem kurzen Entschluß beugte er sich nieder und fuhr mit der Hand in die Glut und holte sich Jakobes nur an den Rändern angekohlte Photographie wieder hervor und rieb den Ruß mit seinem Taschentuch ab und schloß sie wieder in den Schub.
Dann wurde es ihm auf einmal unheimlich in dem Zimmer, so als ob er darin eine böse Tat begangen hätte. Er verließ es schuldbewußt und lief draußen stundenlang in leise rieselndem, kaltem Winterregen durch die Straßen – er ging in letzter Zeit, von seiner inneren Unruhe getrieben, viel mehr als sonst zu Fuß wie ein einfacher Müller oder Krause, und ließ Pferde und Automobil daheim – und schob sich mechanisch, die Hände in den Paletottaschen, den Kopf vornübergesenkt, zwischen den Regendächern der schon mit den ersten, verfrühten Weihnachtsgeschenken bepackten Menge dahin und hatte dabei nur den einen hartnäckigen Gedanken im Gehirn festgebohrt: Jakobe Ansold hat mich verschmäht . . .
Und als er am nächsten Morgen aufwachte, zuckte er vor Schmerz zusammen wie ein Verwundeter bei einer unvorsichtigen Bewegung. Es war ihm wieder eingefallen: »Jakobe Ansold hat mich verschmäht! . . .« Und seine Eitelkeit blutete. Er zitterte, als er sich rasierte, er überflog beim Frühstück die Morgenzeitung, ohne daß er irgend etwas von den Nachrichten behielt, er öffnete seine Briefe und warf sie halbgelesen, mit einem Achselzucken der Langeweile, auf den Schreibtisch, er zündete sich seine Havanna an und ließ sie wieder ausgehen, in seinem steten, finsteren Brüten: Jakobe Ansold hat mich verschmäht . . .
Endlich nahm er behutsam ihre Photographie wieder heraus, hielt sie in der Hand und musterte sie feindselig. Das war nun der Mensch, der ihm zum Stein des Anstoßes im Leben geworden. Und er wußte zum Dank nichts Besseres zu tun, als dies Bild der jungen Frau, dies schmale Oval der zarten, nervösen Züge, die großen, lebensvollen Augen sich mit einer förmlichen Andacht einzuprägen und sich dabei zu sagen: »Sie ist ja viel schöner als ihr matter Abklatsch hier, dies bißchen Pappendeckel und chemische Substanz. Hundertmal schöner ist sie!«
Und dann faßte ei einen Entschluß und legte das Lichtbild wieder in das frisch flackernde Kaminfeuer und diesmal blieb es darin. Das mußte ein Ende haben! Er machte sich ja vor sich selber lächerlich. Er stand und sah, wie es verbrannte, und zugleich fühlte er schon eine Leere, eine Reue: »Ich hätt' es lieber nicht tun sollen! . . . Nun ist es zu spät! . . .«
Voll Zorn gelobte er sich: So – das war der Abschluß! Von nun an wollte er sich Jakobe Ansold völlig aus dem Sinn schlagen, jede Erinnerung an sie, die etwa in ihm aufstieg, gewaltsam unterdrücken, bis er im stande war, achselzuckend darüber zu lächeln, daß sie, die verblendete, arme, kleine Frau, ihn verschmäht hatte, statt daß ihm wie jetzt bei der leisesten Mahnung daran das Herz im Sturm zu hämmern begann. Um sich seinen Vorsatz zu erleichtern, ging er heute wieder unter Menschen, was er die ganze Zeit vermieden hatte. Er traf in einem Hotelrestaurant ein paar ihm eigentlich bodenlos gleichgültige Leute, mit denen er frühstückte, aß mit ein paar ähnlichen zu Mittag, nachdem er des Nachmittags mit Bekannten ausgeritten war, besuchte dann ein Theater, schaute nach langer Zeit einmal wieder in den Klub, wo es ihm noch stumpfsinniger erschien als früher, und fuhr nach Hause in dem angenehmen Bewußtsein, daß er einen Tag verloren und doch gut angewendet hatte. Denn er hatte seit dem Morgen wirklich nicht mehr an Jakobe Ansold gedacht . . .
Es war eine Dame bei ihm gewesen! . . . Vor noch nicht langer Zeit! . . . Er merkte es sofort beim Eintreten in den Flur an dem leisen undefinierbaren Hauch von Parfüm in der Luft. Und zugleich erfüllte ihn ein stürmischer toller Jubel. Er hätte laut auflachen und im Triumph in die Hände klatschen mögen! Wenn Jakobe . . . das war undenkbar! Die würde gerade zu ihm kommen, allein. – Aber warum auch allein? Sie hatte ja Vater und Brüder hier. Wenn einer von denen mitging – wenn sie sich besonnen hatte – ihn bitten wollte, ihre gestrigen Worte zu vergessen – er fühlte selbst: seine Gedanken gingen mit ihm durch wie die scheuen Pferde – querfeldein – in die blinde Unvernunft hinein – und doch bebte seine Stimme, als er Michael frug: »Wer war denn da?«
»Frau Geheimrat von Teichardt, gnädiger Herr! Gnädige Frau haben sehr bedauert und den Brief dort geschrieben . . .«
Nur seine Schwester! Er lachte ärgerlich auf. Er hätte es sich ja vorstellen können, daß es etwas Derartiges war. Und dann fiel ihm zu seinem Schrecken der Grund ihres Besuches ein! Er hatte ihr ja mitgeteilt, daß er Jakobe Ansold heiraten würde – kurz und bündig – bereits als Tatsache – eine Ablehnung seines Vorschlags hatte er sich in seiner Verblendung ja auch nicht einmal träumen lassen – nun war sie gekommen, um Stellung dazu zu nehmen . . . und er las:
»Lieber Erich! Mein Mann und ich haben gestern die halbe Nacht miteinander gesprochen, und wenn ich überhaupt noch gezweifelt habe, so hat er mich überzeugt, daß Dein Schritt vielleicht ein ungewöhnlicher oder auch unvorsichtiger, aber sicher kein unedeler ist. Jedenfalls haben wir nicht darüber zu richten. Du weißt selbst am besten, wo Deine Pflicht liegt. Nun will auch ich nicht halb sein, sondern Deine treue Schwester: es wird mich freuen, Frau Hauptmann Ansold recht bald bei mir zu sehen. Bitte, sage ihr das! Oder soll ich ihr selbst ein paar Zeilen schreiben? Ich tue es gern! Grüße sie von mir. Hermine.«
Das hieß auf deutsch: Wir haben Angst, deine freigebigen Zuschüsse, wenn wir dich erzürnen, zu verlieren! Darum kommen wir der künftigen Schwägerin mit offenen Armen entgegen! Es ist ja gräßlich – eine geschiedene Frau – aber sich plötzlich einschränken müssen, ist noch gräßlicher – Erich von Wölsick zerfetzte mit zwei zornigen Rissen den Brief. Da war ja glücklich wieder alles aufgerollt. Er mußte zu den Verwandten hingehen, ihnen sagen: »Fürchtet euch nicht! sie kommt nicht, sie hat mich verschmäht!«
Er haßte jetzt Jakobe Ansold! mit einer grausamen und rachsüchtigen Einbildungskraft. Wenn es ihr jetzt schlecht und immer schlechter erging, er hatte mit ihr kein Mitleid. Sie hatte sich ja selbst gestraft. Sie würde noch ihren Herrgott erkennen lernen und schließlich, vom Schicksal mürbe, froh sein, sich unterzuducken und wieder zu ihrem Mann zurückzukehren, wenn der sie noch nahm. Und eine wütende Eifersucht packte ihn bei der Vorstellung, daß jener sie wieder haben sollte – der plumpe Barbar in Uniform, der blinde Dummkopf – und nicht er, der sie nach ihrem Wert zu würdigen verstand. Sie wäre so ganz eine Frau für ihn gewesen. Er verbiß sich da hinein. Es hätte ihn schließlich alle Welt um sie beneidet. Sie war schön. Sie war – ach was bedeuteten Worte für ihre Vorzüge. Sie war eben sie. Es ging von ihr ein Zauber aus wie von keinem anderen Wesen auf der Welt. Es war ein Geheimnis um ihre Nähe – ein Rausch – ein Sehnen – man konnte schon froh sein, wenn man nur ihren leichten Schritt, das Fegen ihres Kleidersaums im Nebenzimmer hörte! Und diese Frau sollte man nicht haben – sich umsonst im Zorn nach ihr verzehren? Und er malte sich aus, wie schön das sein würde, wenn sie zusammen, Jakobe und er, jetzt zu Frau von Teichardt führen, in seinem Automobil, sie hart neben ihm im Halbdunkel, ein Hauch von Pelz und Spitzen um ihre schlanke Gestalt – sie berührten sich, sie küßten sich, ehe der Wagen hielt und er sie hinauf zu seinen Verwandten brachte, seine künftige Frau – und statt dessen saß er mißmutig und einsam am nächsten Tage auf den Lederkissen seines Gefährts und sah durch die regenblinden Scheiben die Welt draußen grau in grau und stieg langsam wie ein kranker Mann die Treppen zu der Teichardtschen Wohnung empor. Seine Schwester erwartete ihn mit fieberhafter Spannung. Sie war allein. Ihr Mann noch im Ministerium, die Kinder in der Schule. Sie war sehr stolz auf das Opfer, das sie ihrem Bruder durch die Einladung Jakobes gebracht, und ihre ersten Worte waren: »Nun – kommt sie? Hast du es ihr gesagt?«
Und er setzte sich und erwiderte mit einem leichten Kopfschütteln: »Du bist ein guter Kerl, Helme! Ich danke dir! Aber was mich betrifft – ich weiß nicht . . . es stimmt rein gar nichts mehr . . .«
»Also kurz gesagt – kannst du dir das vorstellen, daß ich eine Werbung vorbringe und man sagt: nein . . .?«
»O ja!«
Frau von Teichardt sprach das ganz überzeugt, vom Standpunkt einer Schwester und deren kühler Kenntnis brüderlicher Eigenschaften. Das verletzte aufs neue sein Selbstgefühl. Er versetzte unmutig: »Ich meine natürlich nicht eine Werbung im allgemeinen – das kann mir so gut passieren wie jedem – so größenwahnsinnig bin ich nicht, um etwas anderes zu glauben . . .«
»Aber Frau Ansold hat zu dir ›nein‹ gesagt?«
Er nickte und erzählte der Geheimrätin den ganzen Vorgang. Er hätte es ja nicht nötig gehabt. Er hätte den Verlauf der Dinge ja verschleiern und bemänteln können. Wer konnte seine Worte nachprüfen? Aber er empfand einen beinahe krampfhaften Drang, sich mitzuteilen, und schonte sich nicht.
Und endlich schwieg er und sah seine Schwester an. Und die elegante, schmächtige kleine Dame, die sich sonst so konventionell ausdrückte, vergaß sich ganz und rief zum Schluß bewundernd: »Donnerwetter . . . ist das eine Frau!«
Das klang förmlich erfreut, von einem instinktiven weiblichen Gemeinsamkeitsgefühl gegen den Mann erfüllt, der da einmal eine verdiente Lehre erlitten! Für gewöhnlich hätte sie sich gehütet, so unvorsichtig eine Art Schadenfreude zur Schau zu tragen. Aber jetzt in der Überraschung ließ sie sich gehen, und ihr Bruder dachte sich: »Gegen mich haben doch alle Menschen zwei Gesichter. Eines, wenn sie mich brauchen! und das zweite – wenn sie mich hinterher auslachen.« Er war tief verletzt. Aber er zeigte es nicht, sondern erhob sich ruhig und sagte: »Ich will dich lieber deinem Frohsinn überlassen und gehen! Mir selber kommt die Sache nicht so komisch vor!«
Nun war Frau von Teichardt nachträglich erschrocken. Sie legte ihm beschwichtigend die Hand auf den Arm.
»Bleib doch! bleib! es war ja nicht so gemeint! es fuhr mir nur so heraus! . . . Du mußt ja doch auch zugeben: es ist etwas Erstaunliches! Diese Ansold ist keine Dutzendfrau . . . die hat den Teufel im Leib!«
Sie kam unwillkürlich wieder in Begeisterung – aber sie hielt sich noch rechtzeitig zurück und fuhr fort: »Armer Erich! Ja – weiß Gott . . . das ist eine dumme Geschichte: Und das Dümmste, daß du dir's so zu Herzen nimmst!«
Er hatte sich wieder gesetzt und zuckte die Achseln.
»Ich hätte ja wirklich nun das moralische Recht, über Frau Ansold zur Tagesordnung überzugehen, mag ich mich früher richtig benommen haben oder nicht! Aber wenn ein Mensch einem auf dem Lebensweg immer wieder in die Quere kommt – einem überall Nachteil zufügt – und sich hartnäckig und blindlings weigert, den eigenen Vorteil zu erkennen – es ist nur natürlich, daß sich da schließlich ein Maß von Groll und Erbitterung in mir anhäuft . . . ich leide zu sehr unter dieser Frau . . .«
Seine Schwester sah ihn mit großen Augen an, als ob er etwas ganz Ungereimtes gesprochen hätte. Endlich meinte sie langsam: »Sonderbar seid doch ihr Männer! . . . da sitzt du nun und stellst dich doch wahrhaftig an, als haßtest du Frau Ansold nach Noten!«
Er machte eine zornige Bewegung.
»Ja! das tue ich! da kann ich mir nicht helfen! . . . soll ich sie etwa lieben?«
»Sag mal: geliebt hast du sie früher, im Sommer, eigentlich wohl kaum?«
Diese Frage seiner Schwester erschien ihm so verblüffend und so indiskret zugleich, daß er sie finster ansah und schwieg. Und sie fuhr fort: »Es war wohl mehr ein unbestimmtes Wohlgefallen an einer hübschen Frau, so in deiner lächelnden verwöhnten Art. Das kann ich mir lebhaft vorstellen. Die Änderung in dir scheint erst jetzt eingetreten zu sein – wahrscheinlich erst nach eurer letzten Unterredung . . .«
»Was für eine Änderung?«
»Guter Gott!« sagte die Geheimrätin und rang die Hände. »Er weiß es wirklich selber noch nicht! Jetzt bist du in Frau Ansold verliebt . . . oder fängst wenigstens gründlich damit an . . .«
»Ich?«
»Ja. Du!«
»Höre mal, Helme . . . Wir sprechen doch hier ernst miteinander! . . . Also laß bitte die Witze!«
»Grundgütiger Himmel! ich mache doch nicht diesen Witz, sondern das Schicksal!«
Er war aufgesprungen und erregt durch das Zimmer geschritten. Jetzt blieb er vor ihr stehen und schlug mit der Faust auf den Tisch, daß die schmächtige Dame dahinter nervös zusammenfuhr. »Du bist doch sonst eine gescheite Frau!« sagte er, sich mühsam mäßigend. »Wie verfällst du denn eigentlich auf diese Tollheiten? . . . Hat dir das dein Mann eingetrichtert oder . . .«
»Der konnte doch nichts davon wissen! Ich hab' es doch selber jetzt erst aus deinen Worten und aus deinem Aussehen gemerkt!«
»Was denn, zum Kuckuck?«
»Du bist ja ein ganz anderer Mensch, wenn du von Frau Ansold sprichst! Du wirst bald rot und bald weiß! Deine Summe ist gepreßt! Du zitterst unwillkürlich! Dein Auge hat einen Ausdruck . . . Erich . . . was bist du in sie verliebt! . . . O Gott . . . was bist du in sie verliebt! Das hätte ich nie geglaubt, daß du das fertig brächtest!«
Er lachte höhnisch auf.
»Das fehlte gerade noch!« sagte er. »Und es ist ja auch so naheliegend, Helme – nicht wahr? – wenn man von einem Menschen möglichst schlecht behandelt, geschädigt und zurückgestoßen wird, dann verliebt man sich zum Dank schleunigst in ihn! Das weiß ja jedes Kind!«
»Bei einem andern wäre es unwahrscheinlich, Erich! . . . Bei dir gar nicht . . ., wenn man dich so kennt wie ich – im Gegenteil . . .«
»Und warum gerade bei mir?«
»Weil du ein Mensch bist, der von seinen Widersprüchen lebt, bei all seinen großen Gaben – das Leben hat dich so verwöhnt, du nimmst alles als selbstverständlich hin! Wer dir etwas gibt, der ist dir gleichgültig! Wer dir etwas verweigert, auf den wirst du erst aufmerksam! Und es hat dir noch nie jemand ernsthaft etwas verweigert. Erst diese Frau hatte den Mut dazu! Nun willst du sie gerade haben! . . . Du hast die Wahl unter hundert, die mit Freuden ›ja‹ sagen würden – darum willst du die eine, die ›nein‹ gesagt hat . . . Solange in diesem Sommer Frau Ansold Wachs in deiner Hand war, warfst du sie achtlos weg. Jetzt, wo sie hart gegen dich geworden ist – jetzt . . .«
Um Erich von Wölsicks Lippen spielte immer noch ein kühler Spott.
»Jetzt wäre ich in sie verliebt? Na – Helme – lassen wir's! . . . Deine Paradoxen in Ehren – aber . . .«
»Du bist in sie bis über die Ohren verliebt – Gerade wie du gesagt hast: – aus lauter Haß und Zorn heraus . . . Du willst ihr beikommen und hast keine andere Waffe mehr, ihr beizukommen, als daß du dich in sie verliebst . . . lehre mich dich kennen, Erich! Das bist ganz du!«
»Und wenn mein Verstand mir sagt . . .«
»Du wärst der erste, der mit dem Verstande liebt!« Die Geheimrätin stand auf. Sie hörte im Flur die Stimme ihres Mannes. »Das ist die gerechte Strafe für euch Egoisten – ihr wollt immer so lange euer Ich durchsetzen, bis ihr einmal an einen Stärkeren geratet! Nimm mir meine Offenheit nicht übel, lieber guter Erich – aber das Leben gibt dir ja jetzt von allen Seiten so viel Lektionen – da geht meine mit darein . . . Du tust mir ja von Herzen leid . . . aber ich fürchte: Frau Ansolds wirkliche Rache an dir – die fängt jetzt erst an . . .«
Der Geheimrat brachte unglücklicherweise einen Gast zu Tische mit, einen zufällig getroffenen, auf der Durchreise in Berlin befindlichen, grauköpfigen Korpsbruder aus Ostpreußen. So konnte nur über gleichgültige Dinge gesprochen werden. Erich von Wölsick hätte die Kösener S. C.-Simpelei, in die sich die beiden Herren leidenschaftlich vertieften, auch unter gewöhnlichen Umständen gelangweilt. Heute wurde ihm die Hypothekenfrage beim Erweiterungsbau des Göttinger Korpshauses gleich nach Beendigung der Tafel zu viel. Er empfahl sich kurz und ging und sagte noch zwischen Tür und Angel seiner Schwester beim Händedruck ganz ruhig und halblaut: »Es ist Unsinn, Helme . . .«
Und wirklich bemerkte er in den folgenden Tagen keine besondere Veränderung in seinem Wesen. Es lastete eine etwas dumpfe Stimmung auf ihm. Er hatte die sonderbare Vorstellung, fortwährend etwas zu erwarten – und wußte doch nicht was. Doch ging er aus, aß und trank, sprach mit anderen Leuten, sah sich den Monatsbericht des Gutsinspektors aus Sommerwerk durch, hörte Michaels Vortrag über die Notwendigkeit einer neuen Frackgarnitur mit seidenen Aufschlägen an – ganz wie sonst. Aber dann weckte ihn am dritten Morgen ein wahrhaft tosendes Herzklopfen. Er fuhr auf. Um ihn war es noch stockdunkle Nacht. Draußen alles still. Er frug sich, was geschehen sei. Nichts. Aber das Hämmern blieb. Alle Pulse arbeiteten. Alles in ihm fieberte und zitterte. Alle Gedanken tanzten. Die Uhr auf dem Kaminsims tickte: Jakobe! . . . Die Sonntagsglocken draußen läuteten es! . . . Der Hufschlag der Droschkengäule vor den Fenstern gab einen gleichmäßigen Dreitakt ihres Namens auf dem Pflaster . . . Die grauen Wolken am Himmel segelten eilig über die Dächer in der Richtung nach Jakobes Haus . . . dort waren Leute, die sie täglich sehen, die mit ihr sprechen durften, wie mit einem gewöhnlichen Menschen – dort war alles hell von ihrer Schönheit – und er war ausgeschlossen, wie ein Paria – er hatte keinen Teil an ihr . . . nichts war mehr von ihr da – nichts! Und er war elend – war allein!
Er beachtete das Frühstück, die Briefe nicht, die ihm Michael brachte! Für ihn war nur noch Jakobe Ansold auf der Welt. Oder vielmehr außerhalb der Welt. Unerreichbar. Vielleicht für immer! Er stöhnte bei dem Gedanken und warf sich auf die Ottomane nieder und biß die Zähne zusammen und ballte die Fäuste wie im heftigsten körperlichen Schmerz und sprang wieder auf und lief durch das Zimmer und klingelte und ließ satteln und ritt aus und kam wieder und tat das alles doch ganz mechanisch mit einem verstörten Gesichtsausdruck und trockenen, brennenden Augen – und griff nach der Zeitung, als ob darin etwas über sie stehen könne – und ging wieder aus, die Linden entlang, wo er Menschen begegnete, die vielleicht mit ihm über sie reden würden. Aber von allem anderen sprachen sie natürlich eher! Die Welt hatte Takt. Sie schwieg. Um ihn war ein einziges großes Schweigen. Durch das drang er nirgends durch bis zu Jakobe Ansold, die jetzt, ohne es zu wissen und ohne es zu glauben, Aug' um Auge, Zahn um Zahn an ihm Vergeltung übte – ihn an sich riß, indem sie ihn von sich stieß . . .
Es war eine blinde, wilde Leidenschaft, die ihn beherrschte. Nie in seinem Leben hatte er ähnliches gespürt. Er war sich selber fremd. Er zergrübelte sich den Kopf, wie er sich Jakobe erobern könne. Er lebte wie im Traum, von einer fixen Idee befangen. Er lachte über sich, seine Wünsche, seine Hoffnungen! Er sprach Jakobes Namen ein Dutzend mal hintereinander – er kritzelte ihn ebenso oft vor sich auf weißes Papier und hatte nasse Augen dabei. Und lechzte nach ihr! Er verzehrte sich nach ihrer Schönheit. Er lag die Nächte wach und dachte an sie und lief bei Tage umher und hatte sie im Sinn und ging wie ein Schlafwandler durch die gleichgültige Außenwelt . . .
Er wurde bleich und magerte ab. Seinen Bekannten fiel seine veränderte Gesichtsfarbe, sein seltsames Wesen auf. Er hörte nicht mehr zu, während man zu ihm sprach, sondern ließ dabei die Augen unruhig hin und her schweifen, als suche er etwas – er gab zerstreute und unzusammenhängende Antworten und bemühte sich, sich möglichst schnell loszumachen, und allein die Straße weiter zu eilen, ganz gleich, ob man kopfschüttelnd hinter ihm herschaute, und selbst der getreue Michael räusperte sich eines Abends und wagte die Frage: »Ist dem gnädigen Herrn nicht wohl?«
»Nein – gar nicht wohl, Michael!«
»Da sollten aber der gnädige Herr etwas dagegen tun!«
»Dagegen kann man nichts tun, Michael.«
Sein Herr, der sich auf dem Diwan ausgestreckt hatte, seufzte und sprang plötzlich auf: »Geben Sie Hut und Mantel! Ich muß ausgehen! schnell!«
Eine halbe Stunde später stand er im Halbdunkel vor dem Kritzingschen Hause. Das Fenster oben, das er suchte, war hell. Aber kein Schatten bewegte sich hinter dem Vorhang wie neulich. Vielleicht war sie ausgegangen. Er wartete, neben einem Laternenpfahl im Strom der Lasttagsmenschheit stehend, die an ihm vorbeiflutete, und belauerte das große dunkle Schulportal dort drüben, das sie durchschreiten mußte, aber die schwarze Wölbung blieb leer. Und ebenso war es die nächsten Abende. Er wechselte schließlich seinen Posten. Er stellte sich vor dem Grünkramkeller, vor dem Fleischerladen auf, wo er Jakobe damals bei ihren Einkaufen zum ersten Mal nach dem Sommer wieder gesehen. Er beneidete den dicken hemdsärmeligen Budiker in seinem Gewölbe, die Schinken schneidenden Mamsells hinter der Marmorplatte, daß sie mit Jakobe hatten reden, sie bedienen dürfen. Er kam sich selber kläglich und abgeschmackt vor. Aber er wich und wankte nicht. Er machte höchstens einmal einen kurzen Gang durch ein Straßenviereck und kehrte dann wieder auf seinen Beobachtungsstandpunkt zurück, in der Hoffnung, das Glück müsse ihm Jakobe unversehens, um die Ecke herum, in den Weg führen.
Schließlich dachte er sich, sie sei vielleicht einmal des Abends bei einem Ausgang belästigt worden und getraue sich nach Einbruch der Dunkelheit nicht mehr auf die Straße. Seitdem fand er sich dort auch am lichten Tage ein – in den Mittagsstunden zwischen zwölf und zwei, wo sie, wie er wußte, frei hatte. Gegenüber der Schule war eine räucherige, kleine Bierkneipe. Da setzte er sich hin. Der dicke Wirt und die Weißbierphilister am Stammtisch sahen sich neugierig den feinen Herrn im Zylinder und modischen Paletot an. Er kümmerte sich nicht darum, sondern schaute hartnäckig durch die Scheiben seines Fensterplatzes auf die Straße. Da wimmelten die Kinder, wenn drüben die Glocke scholl, Lehrerinnen kamen heraus – aber sie erschien nicht.
Möglicherweise ging sie nun gerade während der Schulstunden aus! Er brachte es fertig, eines Morgens von acht Uhr ab das Kritzingsche Haus zu umkreisen – es war schönes klares Wetter – der erste wirkliche frostige Wintertag, noch ohne Schnee, mit blauem Himmel – Erich von Wölsick strich müßig hin und her, um so wenig Verdacht wie möglich zu erwecken, und wartete und wartete, und allmählich ward es dunkel und von Jakobe war nichts zu sehen.
Und plötzlich erfaßte ihn eine furchtbare Angst, sie könne am Ende überhaupt gar nicht mehr hier wohnen, sie könne gleich nach ihrer Unterredung Berlin derlassen haben, irgendwo hingegangen sein, wo er ihre Spur nicht mehr fand. Nun war ihm alles gleich. Er ging quer über die Straße, direkt auf das Haustor zu, und trat ein und frug eine ältliche Person, die sich da unter der Wölbung zu schaffen machte – es schien ihm die Pförtnersfrau zu sein: »Sagen Sie mal: hier oben bei Fräulein von Kritzing wohnt doch eine Dame – Frau Ansold! . . . Ist die am Ende verreist?«
Die Alte sah ihn mißtrauisch an und schüttelte nur stumm den Kopf. Er gab ihr ein Markstück in die Hand.
»Warum sieht man sie denn dann aber nie? Sie muß doch einmal ausgehen!«
»Seit acht Tagen jeht Frau Ansold überhaupt nich mehr aus!«
»Ist sie denn krank?«
»Det nu nich! Aber sie jeht bloß noch hier des Abends so 'n Stündeken mang den Jarten . . .«
Der »Garten«, auf den sie wies, war ein kümmerlicher Rasenflecken mit ein paar Bäumen zwischen den Hintergebäuden im Hof. Ein Gitter sperrte ihn ab und hielt Unberufene fern. Erich von Wölsick drehte sich um und ging rasch in die Nacht hinaus. Er wandte den Kopf nicht mehr. Es war ja vergeblich. Jakobe Ansold hatte ihn offenbar bemerkt, vom Fenster aus, schon lange! Seitdem vermied sie es, die Straße zu betreten . . .
Nun blieb nur noch übrig, ihr zu schreiben. Zu Hause angelangt, kämpfte er einen schweren Kampf mit seinem Stolz. Er sah sie immer noch vor sich, wie sie ihm mit ausgestreckter Hand die Türe wies, und dann lachte er bitter auf, setzte sich an den Tisch und warf fiebernd-hastig, als könne es ihn gleich wieder gereuen, die Zeilen auf das Papier:
»Ich muß Sie noch einmal sprechen, Jakobe! Verstehen Sie, was diese Bitte heißt? Dies Opfer meines Selbstbewußtseins, nach der Art, wie Sie mir begegnet sind? Wenn ein Mann das fertig bringt, dann liebt er! Einen besseren Beweis kann ich Ihnen nicht geben, daß ich Sie blindlings, wahnsinnig liebe! Ich war das vorige Mal unter dem Eindruck des schlechten Gewissens viel zu kalt und ruhig! Diesmal überzeuge ich Sie! Das weiß ich! Wenn Ihnen nur ein bißchen an Ihrem und meinem Glück liegt, dann erhören Sie meine Bitte! Sagen Sie mir bitte, wann ich kommen darf! Ich zähle die Stunden, die Minuten! . . . Glauben Sie mir, es hängt alles für uns von dieser Unterredung ab. Wir beide vertragen auf die Dauer den Zustand nicht, den Sie geschaffen haben. Ein bißchen Vertrauen von Ihnen zu meiner Liebe – nur fünf Minuten zwischen uns machen alles gut! Antworten Sie mir mit ja! Sie haben mein Schicksal in Händen!
Erich von Wölsick.«
Er verschloß den Brief und klingelte seinem Diener. Er wagte ihm, als er eintrat, nicht in das glattrasierte, kümmerliche Gesicht zu sehen, so litt er innerlich unter der Demütigung, die er sich selber auferlegte.
»Michael!« sagte er gepreßt. »Dies hier muß bestellt werden – verstanden? Sie kennen Frau Hauptmann Ansold – vom Sommer her – wo wir die Übung machten – Sie wissen?«
»Jawohl, gnädiger Herr!« es zuckte nichts auf Michaels verkniffenen Zügen. Er wußte alles. Er hatte Nachschlüssel zu sämtlichen Fächern des Schreibtisches seines Herrn.
»In deren Hände persönlich geben Sie diesen Brief! Wie Sie das fertig bringen, ist Ihre Sache! Stellen Sie den Fuß zwischen Tür und Angel, verkleiden Sie sich, steigen Sie von der Hintertreppe in die Küche – mir ganz einerlei! Aber kommen Sie mir nicht ohne eine eigenhändige Antwort von Frau Ansold vor Augen! Verstanden? Es soll Ihr Schaden nicht sein!«
Gleich hinter dem schweigsamen Diener verließ auch er am nächsten Morgen die Wohnung. Es litt ihn vor Ungeduld nicht in seinen vier Wänden. Erst nach drei Stunden lehrte er von einem einsamen stürmischen Spaziergang den Kurfürstendamm entlang zurück. Michael war schon wieder da und bürstete Kleider. »Die Antwort der gnädigen Frau liegt auf dem Schreibtisch!« meldete er trocken.
»Sie haben eine bekommen?«
»Ja. Ich ging hinter dem Briefträger hinein. Da war die gnädige Frau. Sie hat sich einen Augenblick besonnen. Aber wie ich in allem Respekt sagte: ›Ich gehe nicht ohne Bescheid weg – und wenn man den Schutzmann holt –!‹, da nahm sie den Brief mit sich in ihr Zimmer und brachte mir nach einiger Zeit ihre Antwort heraus!«
Erich von Wölsick holte aus seiner Brieftasche einen Hundertmarkschein, warf ihn ohne ein Wort vor Michael auf die Hose, an der er eben rieb, und eilte in das Zimmer. Ja – da schimmerte es weiß auf der grünen Schreibtischplatte und machte ihm das Herz heiß und jagte ihm das Blut durch die Adern. Was sie ihm auch schrieb – das tödliche Schweigen war doch gebrochen! Es war wieder ein Band zwischen ihnen! Das schlang er bald enger und enger!
Er riß den Umschlag auf. Das war nicht ihre Schrift! Das waren seine eigenen Züge! Sein eigener Brief lag, sorgfältig zusammengefaltet, vor ihm. Keine Zeile von ihrer Hand war dabei . . .
Und als Michael nach einiger Zeit zufällig in das Zimmer trat, war er vor Staunen starr. Da lag sein Herr auf dem Diwan, das Gesicht in die Kissen vergraben, die Hände geballt, und schluchzte, schluchzte so bitterlich, daß er nicht einmal die Nähe des Dieners merkte. Und der zuckte mißfällig die Achseln und zog sich zurück. Das war ihm ganz neu. Er liebte es nicht, wenn seine Herrschaft sich so gehen ließ! Er selber tat das doch auch nie . . .
Einige Tage später trat Erich von Wölsick des Nachmittags bei seinem Schwager auf dessen Bureau im Auswärtigen Amt ein. Er war bleich und erschöpft.
»Störe ich?« fing er.
»Ja.«
Daraufhin setzte er sich und sagte leer vor sich hinstarrend, den Hut in der Hand, den Stock zwischen den Knien: »Trotzdem! Ich muß hier mit dir sprechen. Ohne deine Frau! Die triumphiert zu sehr, daß es mir so übel geht! das macht mich nervös! Hat sie dir von meinem letzten Besuch bei euch erzählt?«
»Gewiß!«
»Alles?«
»Ich denke!«
»Nun – dann richte ihr nur aus, sie hätte damals ganz recht gehabt, wenn ich auch anfangs darüber gelacht hätte! Ich sei wirklich so weit . . . ich sei mitten in einer Liebe darinnen – für die gibt es gar keinen Ausdruck! . . . es ist keine Leidenschaft mehr – es ist einfach, als ob man wahnsinnig wäre! Und das Gräßliche dabei ist die Hoffnungslosigkeit. Kein Rückweg – kein Ausweg – keine Möglichkeit, die Sache vorwärts zu bringen, wohin man auch sieht . . . daran verzweifle ich . . . es wäre mir schon bald das schlimmste Geschehnis lieber als dies ewige Nichts und wieder Nichts! Und dabei darf ich mit keiner Menschenseele auf der Welt darüber reden als mit euch! Da hab' ich vorhin, als ich es gar nicht mehr aushielt, meinen Hut genommen und bin zu dir gelaufen!«
»Ja – wenn ich dir nur helfen könnte!«
»Stell' mit mir an, was du willst! Ich gebe dir alle Vollmacht. Bringe mich zum Nervendoktor – das wäre vielleicht noch das beste – oder lieber gleich ins Tollhaus oder mache die Sache kurz und schmeiße mich ins Wasser – mir ist alles recht . . . ich bin abgestumpft . . . ich habe nur noch die fixe Idee im Kopf . . . ich will Jakobe Ansold und kriege sie nicht – und lange geht das so nicht mehr so weiter . . . das fühle ich selbst . . .«
Er brach ab und schaute, immer halb geistesabwesend, in eine Ecke des Zimmers. Der Geheimrat schüttelte den Kopf und meinte endlich: »Früher, als du noch mit Frau Ansold sprachst und ihr euch schriebt, hattest du diese Leidenschaft noch nicht? Es ist also jetzt . . . wie soll ich sagen – es ist die verbotene Frucht, die dich reizt . . .?«
»Mag es sein, was es will!« versetzte Erich von Wölsick ungeduldig. »Ich habe bei ihr hartnäckigen, unerbittlichen Widerstand gefunden – ich muß ihn brechen. – Ich kann ihn aber nicht brechen – und darüber werde ich allmählich verrückt . . .«
Der Geheimrat von Teichardt war ein Philister. Aber ein kluger Philister. Er war nicht immer der Würdenträger der Wilhelmstraße und eine Säule der Sitte und Kirchenzucht in preußischen Landen gewesen. Es lebten im Verwandtenkreis noch unbestimmte Sagen von Abenteuern aus seiner fernen Göttinger Studentenzeit . . . Jetzt hatte er, seit seiner Verheiratung, unerschütterliche Grundsätze. Aber das Verständnis für manches Menschliche war ihm geblieben, und so sagte er lebhafter, als es sonst seine Art war: »Da gibt es nur ein Mittel, Erich! . . . beatus ille qui procul amore . . . fort – fort – mache, daß du von hier fortkommst – so weit wie möglich und möglichst lange! Packe deine Koffer! Unter neuen Eindrücken vergißt man am leichtesten . . .«
»Ich kann doch nicht fort!«
»Du mußt! Du bist dein ganzes Leben lang so nüchtern und zielbewußt gewesen – was man bei uns sich austoben nennt, als junger Mensch, das erschien dir zu unbritisch, zu unmodern – na, schön ist's ja auch nicht – Gott sei es geklagt . . . aber nun kommt solch ein Anfall über dich wie eine verspätete Kinderkrankheit und natürlich zehnmal so heftig, als bei einem Jüngelchen von zwanzig! . . . Dagegen tut eine ausgiebige Luftveränderung Wunder!«
»Ja, aber . . .«
»Was denn aber! Du bist doch in der glücklichen Lage, ein ganz freier Mensch zu sein, ganz anders wie wir Galeerensklaven von der Regierung, mit unseren sechs Wochen Interlaken oder Borkum in den Hundstagen! . . . Du hast doch immer geklagt, daß du nie dazu kämst, eine Weltumsegelung zu machen. Nun mal dalli! . . . Das ist der Zeitpunkt dafür in deinem Leben. Bleib ein Jahr weg . . . komm sonnenverbrannt wieder – dann haben alle Dinge hier im alten Deutschland ein anderes Gesicht . . .«
»Nun laß mich mal zu Worte kommen! . . . Es wäre ja sehr schön, Schwager . . . aber ich bin doch hier an Berlin gebunden. Ich muß doch warten, was dieser Hauptmann Ansold schließlich angibt. Ich darf mich dem doch nicht entziehen!«
Der Geheimrat zuckte die Achseln.
»Ich finde, du hast ihm lange genug zur Verfügung gestanden,« sagte er. »Rechne doch einmal nach! Frau Ansold ist während des Manövers von zu Hause fort – das war also in der ersten Hälfte September. Jetzt haben wir Anfang Dezember! Ja – mag das Gehirn des Hauptmanns Ansold noch so langsam arbeiten, im Laufe eines Vierteljahrs muß er sich doch schlüssig gemacht haben, was er eigentlich tun und lassen will. Er hat sich, scheint's, für das Lassen entschieden! Umso besser . . . Länger brauchst du auf diesen Phlegmatikus nicht mehr zu warten! Er kommt doch nicht mehr!«
»Eigentlich hast du recht!« sagte Erich von Wölsick langsam.
»Die Geheimräte haben in Preußen immer recht!« sein Schwager wandte sich halb im Sessel zum Schreibtisch und tauchte eine Feder ein. »Wozu wären wir denn sonst da? Aber jetzt muß ich meinen Hafer verdienen! . . . Sieh dies Aktenbündel! Das wächst mir jeden Tag auf diesem Platze neu! komm doch heute abend zu uns – oder wann du sonst willst . . .«
»Jedenfalls danke ich dir für deinen Rat!« sein Besucher drückte ihm die Hand und ging. Und als er allein die winterlichen, menschenwimmelnden, vom ersten Aufleuchten der Schaufenster und elektrischen Lampen erhellten Straßen hinabschritt, da war er neu belebt von der Vorstellung, daß doch etwas geschehen könne – und wenn es auch eine Flucht vor Jakobe Ansold war.
Denn das hieß diese Reise. Das machte er sich gleich klar. Aber was lag schließlich an einem neuen Glied in der Kette der Niederlagen, die er durch sie erlitten? Das ging nun schon in einem hin und war, je mehr er darüber nachdachte, das beste. Er kam aus diesem unerträglichen Zustand hier heraus – er zeigte auch seinerseits, daß er sich zur Wehr setzen und verzichten könne, er fand draußen unter fremden Menschen sich selber wieder, er heilte sich aus, er vergaß, und wenn er in zwölf Monaten heimkam, war auch hier so vieles vergessen. Und es gab dann – das sagte er sich in dem blinden Trotz, der ihn jetzt beherrschte – ein Dutzend für eine in der Berliner Geld- und Adelsweit, die gerne Frau von Wölsick wurde.
Er war sich freilich bewußt, daß er da in seinen Plänen mit sich wie mit einem ganz Fremden spielte, den nach Belieben gleich einem Schachstein hin und her schob. In Wirklichkeit war neben Jakobe in ihm für nichts Raum, nicht in der Gegenwart, nicht in der Zukunft. Aber er wollte sich das jetzt nicht zugestehen, um seinen Entschluß nicht zu schwächen! Er brauchte die letzte Faser seiner vollen Kraft, um sich hier loszureißen. Sein Kopf arbeitete schnell. In dem spiegelten sich schon die Moscheen und Palmen und Pagoden und Wunder der Tropen, die er demnächst schauen würde – und doch sah er eigentlich immer nur das graue Kritzingsche Haus drüben in der nüchternen Berliner Straße vor sich – und hoffte kaum mehr, daß es, wenn er vom Bug des Schiffes zurückblickte, hinter ihm im blauen Meer verschwunden sein würde . . .
Mit fieberhaftem Eifer betrieb er seine Reisevorbereitungen. Am liebsten wäre er gleich in den nächsten vierundzwanzig Stunden auf und davon, aber es gab noch so manches zu erledigen: Den Urlaub vom Bezirkskommando, die Abrechnungen und Anweisungen an die Gutsverwaltung von Sommerwerk, die Empfehlungsbriefe an die deutschen Vertreter im Ausland, die ihm der Schwager vom Auswärtigen Amt verschaffte, die nötige Ausrüstung, die Buchung einer Kabine auf dem nächsten, von Genua fälligen Reichspostdampfer nach Asien – und so ward beschlossen, daß Erich von Wölsick am 18. Dezember von Berlin abreisen würde.
Die Zeit bis dahin verging ihm rascher, als er gehofft, in den hundert kleinen und großen Einkäufen, Besorgungen, Besuchen, die einer Reise um die Erde vorausgingen. Er gönnte sich absichtlich nicht eine freie Minute, denn er wußte, daß in ihr sofort wieder der Gedanke an Jakobe wie ein Feuerbrand aufflammen würde – er betäubte sich förmlich in diesen Erörterungen über Kreditbriefe, Schiffsanschlüsse und Paß- Visa, er ging zum Zahnarzt und zum Büchsenmacher und zum Buchhändler, er ließ sich Glück wünschen und mit Ermahnungen beladen und beneiden und hatte dabei doch immer nur im Sinn: ich fliehe vor Jakobe Ansold und alles andere ist ganz gleich.
Und endlich war es so weit, daß er daran denken konnte, seiner letzten Pflicht zu genügen und sich von seiner Mutter in Sommerwerk vor Antritt der Weltumsegelung zu verabschieden. Er hatte sich schon vor einer Woche angesagt. Morgen wollte er hinfahren und dann am nächsten Tag nur auf ein paar Stunden nach Berlin zurückkehren, um gleich seine Reise nach Genua fortzusetzen. Es war Abends gegen sieben Uhr. Die Teichardts waren zu ihm gekommen, um noch in Ruhe mit ihm zusammen zu sein. Denn übermorgen gab es doch nur eine Hetze auf dem Bahnhof. Sie saßen mit ihm in seinem großen Arbeitszimmer. In dem sah es wirr aus. Schubfächer und Kästen mit Papieren waren aufgeklappt, Kleidungsstücke lagen umher, und draußen im Vorraum standen flache schwarze Schiffskoffer und mächtige, gewölbte Transatlantics und blechbeschlagene Kisten, und zwischen ihnen hantierte Michael, der Unentbehrliche, der, so unpraktisch es war, mit auf die Reise gehen sollte. Und dann tönte plötzlich im Korridor der dumpfe Schlag des Gongs, und der Diener ging zur Flurtür, um nachzusehen, wer da kam, und brachte zu den dreien, die drinnen in ernster und ziemlich bedrückter Stimmung mehr miteinander schwiegen als sprachen, ein Tablett mit einer Visitenkarte und bot es seinem Herrn. Und der nahm die Karte und las:
Ansold,
Hauptmann und Kompaniechef im
III. Westpriegnitzschen Infanterieregiment Nr. 217.