Rudolph Stratz
Herzblut
Rudolph Stratz

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VII

Erich von Wölsick, seine Schwester und deren Mann blieben alle drei eine Weile stumm, nachdem der Name des Hauptmanns Ansold von der Karte abgelesen war. Michael stand wartend mit seinem unbeweglichen Gesicht vor ihm. Draußen im Flur räusperte sich eine tiefe Männerstimme. Man hörte das leise Klirren eines Säbels.

Frau von Teichardt warf einen bangen Blick auf die beiden Herren. Sie wagte nichts zu sagen. Sie fühlte, jetzt wurde es ernst. Der Geheimrat erhob sich langsam in seiner ganzen schweren Wucht und meinte gedämpft zu seinem Schwager: »Du empfängst ihn?«

»Natürlich! Michael – führen Sie den Herrn Hauptmann in den kleinen Salon! Ich komme so. fort!«

Als der Diener sich entfernt hatte, schüttelte Herr von Teichardt seinen narbigen, energischen Glatzkopf, setzte seinen Zwicker auf, um zu gehen, und sagte nur: »Verflucht . . .«

»Ja – da ist nun nichts zu machen!«

Erich von Wölsick war jetzt leidenschaftslos ruhig. In solchen Augenblicken, wo eine Gefahr aufstieg, unterdrückten Erziehung und Gewohnheit in ihm jede Erregung.

Der andere nickte: »Nein – gar nichts! . . . Komm, Helme! Wir wollen hier nicht weiter stören!«

Und leiser, damit es seine Frau nicht vernehmen sollte, setzte er auf der Schwelle hinzu: »Wenn du mich heute noch brauchen solltest, ich bin den ganzen Abend zu Hause . . .«

Als er gegangen, begab sich Erich von Wölsick hinüber in den Salon. In dessen Mitte stand der Hauptmann Ansold, in Uniform, die Mütze in der Hand, und der erste Gedanke des Eintretenden war: der Kerl hätte sich auch den Helm aufsetzen können, wenn er mir einen Besuch macht – gleichviel zu welchem Zweck. Der untersetzte, etwas plumpe Mann ihm gegenüber, mit dem großen, leeren Gesicht, den kleinen, ausdruckslosen Augen, der stockenden, einem langsam arbeitenden Kopf angepaßten Sprechweise war ihm von jeher unsympathisch gewesen. Er machte den Eindruck einer dumpfen Unbeholfenheit – jetzt, wo er sich stumm verbeugte, wie damals im Sommer, als Erich von Wölsick das erste und einzige Mal auf Jakobes Einladung Gast an seinem Tisch gewesen war. Sonst hatten sie sich nur auf der Straße im Vorübergehen oder Vorüberreiten sehr kühl und zurückhaltend gegrüßt.

Auch in diesem Salon standen, von Michael nur rasch in die Ecke geschoben, ein paar Kisten, die einen Sattel, eine Gummibadewanne, ein kleines, zusammenklappbares Zelt und einen mit Schafpelz gefütterten Schlafrock enthielten. Alles lag noch wirr und offen durcheinander. Der Hauptmann Ansold warf, nachdem er sich auf Erich von Wölsicks einladende Handbewegung hin gesetzt und seine Mütze neben sich auf den Parkettboden gelegt hatte, einen Blick darauf und sagte dann unvermittelt: »Sie beabsichtigen, eine Reise anzutreten, Herr von Wölsick?«

»Das habe ich allerdings vor!«

»Schon in nächster Zeit?«

»Übermorgen!«

»Und es scheint, daß diese Reise, nach den Sachen hier zu urteilen, Sie längere Zeit in unwirtlichen und entlegenen Gegenden festhalten wird?«

»Mindestens ein Jahr!«

Der Hauptmann Ansold räusperte sich wieder.

»Ihre Frau Mutter erzählte dieser Tage, als sie von Sommerwerk in die Stadt kam, zufällig der Frau unseres Obersten, daß sie vor Ihrer Weltumseglung noch Ihren Besuch erwartete. Dadurch erfuhr ich es gestern in meiner Garnison und nahm gleich Urlaub, um Sie aufzusuchen!«

»Und was steht Ihnen zu Diensten, Herr Hauptmann?«

Man mußte immer eine Zeitlang warten, ehe man von dem Hauptmann Ansold eine Erwiderung bekam. Er überdachte seine Worte sorgfältig und prägte sie schwer. So sagte er auch jetzt erst nach einer Pause: »Ich möchte vorausschicken, Herr von Wölsick, daß der Zeitpunkt, den ich meiner Frau für ihre Rückkehr zu mir festgesetzt habe, längst abgelaufen ist. Ich hatte Geduld und gab noch mehrfach ein paar Wochen zu. Aber ich habe mich überzeugen müssen, daß das gar nichts nützt. Die Geistesverfassung meiner Frau scheint unabänderlich zu sein, und es ist schließlich unter meiner Würde, da immer neue Versuche zu machen. Ich hatte vor kurzem meine letzte Unterredung mit ihr. Unter deren Eindruck habe ich ihr dann geschrieben, daß ich zu einer Trennung unserer Ehe bereit sei, vorausgesetzt, daß hinterher alles, so weit es meine bisherige Frau betrifft, wieder in Ordnung kommt . . . ich weiß nicht, ob ich mich da deutlich genug ausdrücke?«

»Ich glaube, Sie zu verstehen, Herr Hauptmann!«

»Ich will lieber ganz unumwunden reden! also ich will nicht, daß meine Frau nach der Scheidung weiter meinen Namen trägt – ich will auch nicht, daß sie etwa unter ihrem Mädchennamen oder sonstwie in auf die Dauer unhaltbare Verhältnisse kommt, wie jetzt als Sekretärin bei dem alten Fräulein von Kritzing, die schon längst daran denkt, ihre Schule aufzugeben und sich zur Ruhe zu setzen, sobald sie eine Käuferin findet. Was macht sie denn dann? Zu einer Abenteurerin in Berlin möchte ich meine frühere Frau nicht herabsinken sehen. Das bin ich nicht nur mir schuldig und dem Rock des Königs hier, den ich trage, sondern vor allem auch meinem Sohn! Mit einem Worte: ich erachte es als Bedingung unserer Ehescheidung, daß Sie der Frau, die Sie mir genommen haben, späterhin Ihren Namen geben. Sind Sie in der Lage, diesen Standpunkt eines Offiziers zu begreifen, Herr von Wölsick?«

»Ich bin selbst Offizier, Herr Hauptmann! Ihre Voraussetzungen sind die durchaus selbstverständlichen und richtigen!«

»Das freut mich zu hören! Ich habe in der ganzen Sache mehr Geduld bewiesen, als recht ist. Andere wären wahrscheinlich schon ganz anders losgegangen. Aber ich sagte mir, daß solche Dinge ihre Zeit brauchten und daß man ihnen ihre Entwickelung lassen könnte, ohne etwas zu überstürzen – es lag ja, nachdem nun einmal alles schon so weit war, kein Grund zu besonderer Eile vor – da höre ich gestern mit einem Male, Sie wollten verreisen – gleich nach China oder Japan – auf unbestimmte Zeit – ja, das klärte freilich die Sachlage, Herr von Wölsick – aber in einer sehr unerwünschten Weise . . .«

»Darauf, Herr Hauptmann, erwidere ich Ihnen folgendes und bitte, meine Erklärung als Ehrenwort von Offizier zu Offizier zu nehmen. Ich habe alles, was in meinen Kräften stand, alles was nur menschenmöglich war, getan, um Frau Ansold zu bewegen, sich künftig Frau von Wölsick zu nennen! Sie hat es durchaus und hartnäckig und immer wieder abgelehnt!«

»Das hat sie auch mir gesagt! Aber warum tut sie das?«

»Da müssen Sie sie fragen und nicht mich!«

»Nein! denn sie ist eine schwache, irregeleitete Frau, die durch Sie aus ihrem ruhigen Lebenslauf herausgerissen und nun hier ihrem Schicksal preisgegeben ist . . . darum halte ich mich an Sie!«

»Und ich kann Ihnen nur noch einmal die Versicherung abgeben, daß ich den redlichsten und besten Willen hatte, und noch habe, die Schuld, die ich etwa auf mich geladen habe, wieder gut zu machen! Wenn Frau Ansold nicht will, dann vermag ich das nicht zu ändern! Sonst wäre es schon längst geschehen . . .«

Erich von Wölsick begleitete diese Worte mit einem heftigen Achselzucken. Es schien ihm so seltsam, dies Gespräch zwischen zwei Männern über eine Frau, von denen der eine sie nicht mehr hatte und der andere noch nicht, und die beide ihren Willen für etwas anstrengten, was ihrem Willen ganz entzogen war. Der Hauptmann Ansold aber sagte, mit der Hartnäckigkeit, mit der er unbeirrt seinen schon vor dem Besuche festgelegten Gedankengang verfolgte: »Meine Frau will nicht – gut! Aber das hätten Sie vorher wissen müssen! . . . Sie hätten sie danach fragen müssen, ehe Sie ihr im Sommer das alles in den Kopf setzten und dies unabsehbare Unheil anrichteten – Sie hätten sich und ihr damals ganz deutlich klar machen müssen, was daraus folgte, wenn sie von mir wegging! Aber ich glaube, Sie haben damals daran noch weniger gedacht als sie. Sie sind damals gleich hinterher ins Ausland gegangen, wie Sie jetzt wieder ins Ausland gehen wollen – offenbar gehen Sie immer ins Ausland, wenn – nein, bitte – lassen Sie mich reden! Das steht fest: Sie haben sich gar nicht weiter um meine Frau gekümmert und sie blindlings in ihr Verderben rennen lassen und jetzt, wo sie so verstockt und in sich verbissen ist, daß kein Mensch ihr mehr beikommen und helfen kann, auch Sie nicht – jetzt waschen Sie Ihre Hände in Unschuld und tun, als hätten Sie mit der Sache nichts weiter zu schaffen – nein, Herr von Wölsick – so leicht kommen wir beide doch nicht voneinander los . . .«

»Wenn Sie mir nur verraten wollten, Herr Hauptmann, was ich noch weiter beginnen soll, um meinen guten Willen zu zeigen . . .«

»Ihr guter Wille hilft nichts mehr! wissen Sie, warum? Weil meine Frau ganz offenbar an Ihrem Charakter zweifelt – leider jetzt erst – zu spät –! Sie hätte es viel früher tun sollen – dann wäre viel Unheil vermieden worden . . .«

»Herr Hauptmann . . .«

»Wenn sie nicht an Ihrem Charakter zweifelte oder vielmehr, wenn sie ihn jetzt nicht in Grund und Boden verurteilte, warum würde sie sich dann so hartnäckig und leidenschaftlich weigern! . . . sie hat Sie jetzt endlich durchschaut . . . das ist die einzige Erklärung . . .«

»Hat sie Ihnen die gegeben?«

»Sie spricht nicht mit mir über Sie! sie lehnt das ab. Sie meint, ich verstände das nicht! aber die Tatsachen sprechen so laut, daß ich, für so einfältig sie mich hält, es wohl verstehe. Sie hat sich überzeugt, wer Sie sind! Sie weiß offenbar Dinge von Ihnen, die es ihr unmöglich machen, selbst in ihrer jetzigen verzweifelten Lage Ihnen zu folgen! So sind Sie in den Augen meiner Frau gerichtet! Soll ich da noch viel Rücksicht üben?«

»Nun bitte aber deutlich, Herr Hauptmann! Meine Geduld ist zu Ende!«

»Meine auch!« Der Hauptmann Ansold hatte bisher langsam und bedächtig überlegt gesprochen. Jetzt, wo die Hitze über ihn kam, konnte er die Worte nicht mehr wählen – er stieß sie abgebrochen, beinahe stotternd heraus: »Wenn meine Frau von mir, weil sie sich so unglücklich fühlte, fortgegangen wäre, zu einem guten, ehrenhaften, anständigen Mann – ich liebe sie immer noch, in meiner Art – aber gerade darum hätte ich mich schließlich fügen müssen und Ja und Amen gesagt. Aber daß da einer daherkommt wie Sie und sie mit allem Vorbedacht toll macht und dann hier in Berlin aufs Pflaster schmeißt und denkt, so – nun könn' er ruhig seiner Wege gehen und anderswo von vorn anfangen – ne, Herr von Wölsick – ne – ne – so lasse ich mich nicht abspeisen . . . ich bin Offizier . . .«

»Das haben Sie schon mehrmals betont!« Erich von Wölsick hatte sich erhoben. Zugleich sprang auch der andere auf die Beine und wiederholte atemlos: »Ich bin Offizier! . . . Überlegen Sie mal gefälligst meine Lage! ich sitze daheim im leeren Haus – meine Frau verkommt hier in Berlin – mein Junge hat keine Mutter mehr – und Sie amüsieren sich inzwischen königlich auf einer Weltumsegelung und denken gar nicht mehr an die alten Geschichten – nein, Herr von Wölsick – da gehört ein Riegel davor – da werd' ich ja ausgelacht – wenn ich mit den Händen in dem Schoß dasitze und mir das gefallen lasse . . . daß man mir meine Frau wegnimmt und sie dann nicht einmal haben will . . . so scheint es doch nach außen! – man weist ja mit Fingern auf mich . . . mein Schwiegervater ist preußischer General . . . dem kann ich ja nicht mehr unter die Augen treten . . . nein . . . es muß etwas geschehen . . .«

»Was denn? sagen Sie es doch endlich bitte . . .«

»Es kann nur eines geschehen – ich weiß nichts anders,« der Hauptmann Ansold wurde plötzlich bleich und stieß dann unvermittelt mit einer Kraftanstrengung heraus: »Sie haben sich in der ganzen Angelegenheit absolut nicht als Ehrenmann benommen, Herr von Wölsick!«

Erich von Wölsick schwieg und sah ihn fest an.

»Ist das deutlich genug gesprochen, Herr von Wölsick, oder soll ich noch mehr sagen?«

»Danke! es genügt vollkommen! an wen darf sich mein Kartellträger wenden?«

»Mein Regimentskamerad, Hauptmann de Pierre, ist mit mir nach Berlin gekommen.«

»Wo wohnt er?«

Der Hauptmann Ansold nannte ein Absteigequartier in der Nähe der Linden, von dem Erich von Wölsick nie gehört hatte. Er dachte sich noch unwillkürlich: Gott weiß, was derartige Leute hier in Berlin immer für Schlupfwinkel aufstöbern! – dann machte er seinem Besucher, der fast ohne Gruß das Zimmer verließ, die Andeutung einer Verbeugung und war allein.

Und was zuerst von dem Gespräch in ihm nachzitterte, war keine Erregung wegen des bevorstehenden Zweikampfs, nicht einmal ein Zorn über den ihm zugefügten Schimpf – es war eine hilflose Wut gegen das Schicksal, das sich bei allem und allem, was er unternahm, ihm in den Weg stellte und immer wieder Jakobe Ansold hieß. Sie selber rührte sich nicht. Aber von ihr, durch sie, kam alles. Jetzt wieder ihr Mann. Dieser schwerfällige Philister. Man konnte sich ja in seine Geistesverfassung hinein versetzen. Lange Zeit hatte er gegrübelt. In seinem Kopfe war es dumpf. Halbes Hassen, halbes Hoffen, halber Schmerz wohnte da eng beisammen in dämmerigem Raum und draußen waren Rätsel. Denen stand er fremd und mißtrauisch gegenüber. Da kam die Erlösung. Der andere reiste ab! Nun hatte man doch einen Zipfel Wirklichkeit in Händen, nun konnte man endlich all diesen Seelenleiden und Nervenerschütterungen nach Väterbrauch mit Schießen und Stechen zu Leibe rücken, und er, Erich von Wölsick, mußte bei dieser Dummheit mittun!

Er hatte über den Zweikampf seine eigenen Ansichten und verhehlte die auch dem Geheimrat von Teichardt nicht, als er ihn noch am selben Abend aufsuchte und ihn bat, sein Kartelträger zu sein. »Ich bin nicht einmal ein Gegner des Duells!« sagte er, sich die zehnte oder zwölfte Zigarette anzündend, mit der er seine Ungeduld und seinen Unmut betäubte. »Ich kann nichts pro oder kontra vorbringen – überhaupt nicht darüber diskutieren! es steht ganz außerhalb meiner Verstandesbegriffe. Wenn mich dieser gute Hauptmann, der mich überhaupt an einen gereizten Bullen erinnert, auf offener Straße angriffe und unversehens mit seinem Säbel niederstäche und ich mit meinem Regenschirm parierte, das würde ich begreifen – das ist ein Ausfluß der Natur. Aber daß zwei Menschen sich wie zwei Meilenpfähle gegenüberstehen und einander als Zielscheiben benutzen – nein – in England . . .«

»Deine Britenseuchelei hilft dir hier gar nichts!« bemerkte der Bureaukrat stirnrunzelnd. »Du wirst schon nicht umhin können . . .«

»Natürlich nicht! Das kommt ja gar nicht in Frage . . .«

»Nun . . . dann weiß ich auch nicht, was diese Reden sollen! wenn man Reserveoffizier ist und Wölsick heißt . . .«

». . . ich tue es ja ohne Widerrede, Schwager! ich knipse auf Verlangen so oft mit der Pistole, als ihr mir vorschreibt. Oder vielmehr nicht eigentlich ich knipse, sondern eine Menge Wölsick vor mir, die zu ihren Zeiten das höchst nützlich und notwendig gefunden hätten. Wir Endglieder einer langen Ahnenkette sind immer die Geschobenen . . . sonst nehmen uns das die Leute aus dem Dreißigjährigen Krieg nachträglich in ihren Särgen höchst übel. Also gehe lieber und suche gleich diesen Hauptmann de Pierre auf und mache mit ihm alle Einzelheiten des Opferfestes aus . . .«

»Heute abend noch? Erich, bist du verrückt? es geht auf dreiviertel Neun!«

Erich von Wölsick stampfte mit dem Fuß. Während er bisher eine spöttische und gereizte Gleichgültigkeit zur Schau getragen, brach jetzt plötzlich ein fieberhafter Eigensinn bei ihm durch.

»Ich will es rasch hinter mir haben! Auf der Stelle! ich hab' keine Zeit, mich wieder mit dieser Eselei aufzuhalten! Meine Nerven sind herunter! Ich will fort! ich muß fort! . . . Du weißt selbst am besten, wie notwendig es mir ist . . . ich brauche Freiheit . . . die weite Welt . . . nun hängt sich einem der Mensch wieder an die Rockschöße! . . . Ich bitte dich, tue mir den einzigen Gefallen und schau, daß ich ihn mir bis übermorgen früh abgeschüttelt hab' . . .«

»Bis übermorgen früh?«

»Nun ja – dann kann ich noch ganz gut den Süd-Expreß Mittags nehmen und nach Genua reisen. Schlimmstenfalls kann ich sogar erst mit dem Abendzug fahren und fange dann den Dampfer noch in Neapel ab.«

»Aber doch immer nur, wenn an dem kritischen Morgen – hm – nichts passiert . . .«

Erich von Wölsick lächelte geringschätzig. Ein leidenschaftlicher Weidmann wie er! Er handhabte die Kugelbüchse mit tödlicher Sicherheit. Das gab auch Übung für die Pistole. »Ich werde ihn ins Bein treffen!« sagte er kurz, »damit er etwas für den ›Nichtgentleman‹ hat, den er mir ins Gesicht warf . . . Das mag er sich dann im Militärlazarett auskurieren! Davon erfährt die Polizei nichts! Laßt nur mich dann in Ruhe! – Ich fahre ohnedies schon bald aus der Haut vor Ungeduld . . .«

»Na – Sieh mal: ich bin alter Korpsstudent und war – nu ja . . . doch schließlich ein ziemlich toller Bruder und hab' an die vierzig Mensuren gehabt und ein halbes Dutzend auf Säbel und auch mal die Pistole in der Hand gehalten. Und darum sag' ich dir: man soll in solchen Geschichten nie zu zuversichtlich sein! Daß du mit der Flinte umgehen kannst, beweist noch wenig für die Pistole . . . diese Fußfanteristen wie der Hauptmann da können auch schießen – das ist doch ihr Handwerk – kurz: die Üppigkeit rächt sich, Erich . . .«

Der andere schleuderte wütend seine Zigarette auf den Ofenvorsetzer in der Ecke. »Unke nur auch noch!« sagte er, mit langen Schritten wie ein Tiger im Käfig auf und ab gehend. »Ihr habt euch alle gegen mich verschworen! Ich soll nun einmal an der Kette zappeln! Aber ich will jetzt frei sein! verstehst du mich! . . . Ich hab' doch bis zu diesem Unglücksherbst immer meinen Willen im Leben durchgesetzt – ich möchte diese Gewohnheit wirklich nicht verlieren . . . also bitte lasse das Getrödel wie sonst – mit langen Ehrenratsitzungen und was weiß ich . . . gehe jetzt und verabrede die Landpartie auf übermorgen früh – sag nur, ich hätte in Ceylon zu tun – ich erwarte dich daheim . . .«

Als er durch den Flur schritt, sah er durch eine Nebentüre Frau von Teichardts verweintes Gesicht. Sie wußte natürlich genau, was bevorstand. Schluchzend drückte sie ihm die Hand und verschwand gleich wieder, und Erich von Wölsick dachte sich, obwohl er seine Schwester sehr gern hatte, auf dem Heimweg doch mit einem gewissen Galgenhumor, der zu seinem zerrissenen und fiebrigen Zustand paßte: Was war sie früher glücklich, mir zu melden, Jakobe sei in Berlin, und mir die Leviten zu lesen! Jetzt, wo es damit Ernst wird, zittert sie vor Angst, daß mich der Kuckuck holen könne und das Majorat in andere Hände kommt! Und meine Mutter, wenn sie es wüßte, auch! Und mein Schwager erst recht! Der wird bei dem Hauptmann de Pierre schon auf schonende Bedingungen drängen – oder ich kenn' ihn schlecht, so blutdürstig er sich auch mir gegenüber gebärdet . . .

Aber freilich: Darin hatte jener recht – man konnte nie wissen – Und als Erich von Wölsick wieder nach Hause kam und im Schein des elektrischen Lichtes in den unordentlichen Zimmern überall die halbgepackten Koffer herumstehen sah, sagte er sich: Ja, – das ist nun eine Reise! Die Frage ist nur: geht sie nach Japan oder ins Jenseits? Im letzteren Fall brauche ich wirklich nicht so viel Gepäck! – Und dann lachte er kurz auf. Denn er hatte sich eben gedacht: Sonderbar! da schießen sich nun zwei Männer um eine Frau und die will weder von dem einen noch von dem anderen etwas wissen! Warum tun sie's dann überhaupt? Das ist nur mir ein Rätsel! . . . Alle andern wissen es offenbar ganz genau!

Und dabei konnte er doch, wenn er ehrlich sein wollte, dem Hauptmann Ansold nicht unrecht geben. Von dessen Standpunkt aus. Irgend etwas mußte jeder Mensch tun, wenn man ihn so reizte. Und ein Schuß war auch eine Tat – die Nächstliegende für einen Offizier . . .

Mißmutig und ungeduldig ging er in seinem Zimmer herum und überlegte sich, ob er eigentlich ein Recht habe, jenen auch nur ins Bein zu treffen – er hatte ihm doch ohnedies schon Unglück genug zugefügt – und andererseits: er mußte sich doch wehren – er konnte doch nicht dastehen, wie eine Neuruppiner Zielscheibe – und so kam er zu keinem Entschluß, bis gegen Mittelnacht sein Schwager wieder erschien – noch würdevoller durch die Schwere seiner Verantwortung – noch mehr die Verkörperung von Gesetz und Ordnung wie sonst: – Also – es war soweit in die Reihe gebracht. Die Gegenpartei hatte keine Schwierigkeiten erhoben. Morgen wurde alles vorbereitet und übermorgen schoß man sich um sechs Uhr früh in der Nahe von Spandau, bei den Schießständen.

»Und die Bedingungen?«

»Einmaliger Kugelwechsel auf fünfzehn Schritte!«

Erich von Wölsick mußte in all seinem Ärger herzlich lachen. Das hatte er sich doch von dem besorgten Schwager gedacht! Das sah dem ähnlich. Oder doch – daß er ihn so in Watte wickeln würde – das war unerwartet!

»Können wir nicht lieber gleich mit zwei Besenstielen aufeinander losgehen, wie die alten Weiber?« sagte er. »Waren die anderen denn auch gleich so lammfromm?«

Der Geheimrat hob die Hand.

»Na – nun schelte bitte nicht! Erstens: 'ne Kugel ist 'ne Kugel – und wenn sie aus dem Rohr ist, gehört sie bekanntlich dem Deubel! . . . Zweitens: Was ist denn eigentlich passiert? Die häusliche Ehre des Hauptmann Ansold ist in sich durch dich nicht verletzt. Grundlage unserer Affäre ist lediglich ein beleidigendes Wort von ihm gegen dich. Für dies Wort schien ein Schuß von jeder Seite dem Hauptmann de Pierre wie mir genügend . . .«

»Na schön!«

An sich war Erich von Wölsick ganz froh. Jetzt hatte er doch alle Hoffnung, ungehindert abreisen zu können. Und diese Flucht vor Jakobe war eigentlich das einzige, was ihn bei dieser Spielerei mit Schußgewehr, der er sonst so innerlich gleichgültig wie ein ganz Unbeteiligter gegenüberstand, wirklich beschäftigte. Er nahm sich jetzt vor, überhaupt nicht auf den Hauptmann Ansold, sondern daneben zu zielen. Sie feuerten ja wahrscheinlich ohnedies beide ziemlich gleichzeitig. Zwei Löcher in der Natur – damit war die Sache erledigt und er konnte sich aufatmend sagen, daß er dann aber auch alles, was mit Jakobe zusammenhing und ihn hemmen konnte, hinter sich hatte.

Er war entschlossen, die Sache von dem Gesichtspunkt anzusehen, daß sie für seine Reisepläne keine Bedeutung hatte. Deswegen fuhr er seinem ursprünglichen Vorsatz getreu am nächsten Tag, während sein Schwager allerhand geheimnisvolle Besorgungen und Besprechungen mit dem Hauptmann de Pierre und einem jungen Privatdozenten der Chirurgie hatte, hinaus nach Sommerwerk, um seiner Mutter vor der Abfahrt Adieu zu sagen! Die Bummelei der Kleinbahn war ihm verhaßt. Er benutzte sein Automobil, das ihn ebenso rasch wie jene durch die neblige, kalte, von Winterreif weiße, märkische Ebene brachte. Der Anblick des toten Landes, der windgepeitschten kahlen Bäume, der grauen Wolken am Himmel, stimmte ihn seltsam trübe. So wenig er sich sonst mit Gedichten und Sentimentalität abgab – der alte Vers fiel ihm ein: »Zum Abschiednehmen just das rechte Wetter . . .« es frug sich nur: Abschied von was – ob vom Leben? – ob für ein Jahr von Berlin? In jedem Fall war es die Trennung von Jakobe. Und bei dem Gedanken krampfte sich sein Herz in einem leidenschaftlichen Schmerz zusammen und er biß die Zähne aufeinander und sah düster vor sich hin in die verschleierte, traurige, grau in grau verschwimmende Ferne.

Und aus der tauchten die niederen, dicken Türme und bröckeligen, alten Backsteinmauern des Garnisonstädtchens auf, in dem er diesen Sommer die schicksalsschweren sechs Wochen verbracht. Von allen Seiten stiegen bekannte Bilder hervor. Überall war die Erinnerung wach. Da war der große See, um den sie beide so oft des Abends gegangen, wenn über den Schilfkranz am Ufer hin die untergehende Sonne das flache Gewässer in geheimnisvollem Opalglanz verklärte. – Da war die Windmühle auf dem Hügel, neben deren sausendem Rade sie oft gestanden und sich lachend, mit dem Blick in die Weite, von dem Sturm hatten durchschütteln lassen, da waren die alten Linden vor dem Tor, unter denen sie sich zuletzt getroffen. Damals lastete schwere Sommerschwüle über der erntegesegneten Erde, im schattigen Geäst sangen die Finken, der Himmel war blau – jetzt senkten sich leise, fast unmerklich, die ersten Schneeflocken, die Winterboten, aus fahlem Gewölk, die dürren Blätter tanzten, der Wind pfiff im welken Röhricht des Sees . . . vorbei . . . vorbei . . . Damals hätte er Jakobe Ansold haben können, für immer, es hätte ihn nur das eine Wort gekostet: mache dich frei und werde meine Frau! Sie hätte aufjubelnd, eine Dankbare, eine Erlöste, seine Hand ergriffen. Jetzt war ein Herz hart geworden in der Not und wollte nichts mehr von ihm wissen. Und doch sprach jeder Stein am Weg zu ihm von Jakobe. Jede Mauer sprach: hier ist sie gegangen. Jeder Baum winkte: unter meinem Schatten hat sie gestanden. Sie war ja so lange bei uns. Sie hat auf dich gewartet, Jahre und Jahre . . . bis du kamst . . .

Nun schien ihm die ganze Stadt tot und leer ohne sie. Er begriff gar nicht bei der Fahrt über das holperige Pflaster der breiten öden Gassen, wie die paar Menschen, die man sah, nach wie vor ihren Geschäften nachgehen konnten, als wäre nichts geschehen. Und da marschierte ein Trupp Soldaten, blau angelaufene Färbergesellen kamen aus der Fabrik, Knaben aus der Schule – das Leben lärmte und lachte. Jakobe Ansold war vergessen. So als sei sie tot und begraben. Und er hatte einen Augenblick die beklemmende Vorstellung, als sei sie wirklich tot. Oder er. Jetzt noch nicht. Aber bald. Morgen. Schließlich war es gut so. Was hatte man vom Sein? Und eine tiefe unendliche Traurigkeit, wie er sie noch nie zuvor im Leben empfunden, breitete ihre schwarzen Flügel über ihn aus und beschattete ihn den ganzen Tag, auf dem Weg nach Sommerwerk hinaus, wo er sich nur eine Stunde aufhielt, mit seiner Mutter zu Mittag aß und nach dem Kaffee ihr die Hand küßte und wieder seinen Automobilpelz umnahm. Es gab keine gefühlvollen Auftritte zwischen ihnen beiden – sie beobachteten nur als Menschen von Welt peinlich vor sich und ihrer Umgebung die Höflichkeit gegenseitiger Rücksichtnahme – und ebenso blieb ihm auf der Heimfahrt die düstere Stimmung. Mechanisch nickte er zu den untertänigen Verbeugungen der Ladeninhaber unter den Türen und grüßte ein paar ihm bekannte Offiziere, die mit ihren Damen den Bürgersteig entlang gingen. Er wußte, alles blieb stehen und sah ihm neugierig nach. Das ganze Nest, hoch und niedrig, erzählte sich heute abend, daß er, zum ersten Male seit dem Sommer, wieder hiergewesen – er war froh, als er das Städtchen im Rücken hatte, das ihm in der Gegenwart verhaßt war und ihn in der Erinnerung zu tiefster Wehmut stimmte, und er, die Augen unter der Schutzbrille feucht von unerklärlichen Tränen, auf der langen, leeren Chaussee schnurgerade in die Dämmerung hineinschoß, auf Berlin zu. In Berlin war Jakobe. Um sie kreiste er in seinen Gedanken wie die Motte um das Licht.

Zu Hause angelangt, überlegte er sich, ob er ihr schreiben solle, einen Abschiedsbrief für den Fall seines Todes. Dann sagte er sich mit einem bitteren Lachen: Nein! Sie glaubt dir ja doch nicht! Auch wenn du für sie stirbst! Sie will ja gerade, daß du an ihr zu Grunde gehst! Dann hat sie erst recht ihre Rache!

Er ärgerte sich, daß er sich überhaupt einen solchen Ausgang der dummen Geschichte morgen als möglich vorstellte. Dies winzige Stückchen Blei, das da durch die Luft fliegen würde, konnte doch nicht mit einem Schlage das alles auslöschen. Es war wenigstens höchst unwahrscheinlich, auf diese Entfernung! Er sprang auf und reckte die Arme aus und holte schwer Luft wie ein Gefangener. Gott sei Dank – morgen um diese Zeit war er schon unterwegs! Der Schnellzug trug ihn durch die Nacht dahin, über die Alpen, an das Meer! Die Wellen rauschten, die Möwen schrien – da nickten schon drüben die Kokospalmen über dem weißen Streifen der Brandung – die farbige Weite tat sich auf – und irgendwo dahinten, vergessen, lag Europa mit seinem Leid und Weh . . .

Diese Stimmung der Flucht vor Jakobe, der Betäubung durch fremde Eindrücke blieb jetzt in ihm. Sie wuchs noch in einer langen, schlaflosen Nacht und war zu einer ungestümen Ungeduld geworden, als der Geheimrat von Teichardt noch in der Dunkelheit seinen Schwager, der ihn sich der Kürze halber auch als Sekundanten erbeten hatte, zu der Fahrt nach Spandau abholte und bei ihm gar kein Interesse für den bevorstehenden Zweikampf, sondern nur für den Eisenbahnfahrplan und die Dampferanschlüsse fand.

Während sie stehend den von Michael gebrauten schwarzen Kaffee tranken, frug er gedämpft: »Hast du mir keine Briefe einzuhändigen? – Ma – mache doch nicht ein so erstauntes Gesicht! Es ist doch schließlich ganz nett, wenn man auf alle Fälle zum Beispiel seiner Mutter . . .«

»Der hab' ich doch gestern schon Adieu gesagt. Sie kriegt noch von Genua aus eine Karte, ehe ich mich einschiff'!«

»Na . . . hör mal . . .« der Geheimrat schüttelte den Kopf.

Das reizte Erich von Wölsick und er versetzte heftig: »Nein, meine Lieben . . . ich mache schon in Gottes Namen mit, heute morgen! Aber es ernst zu nehmen – das könnt ihr nicht auch noch von mir verlangen! Michael . . . bis ich zurückkomme, sind die Koffer hier zu Ende gepackt. Die Leute vom Lloydbureau holen sie im Lauf des Vormittags. Dann gehen Sie selbst hin und besorgen meine Schlafwagenkarte für heute abend . . . verstanden? Ich will kein Gehetze im letzten Augenblick . . . Na – nun komm! . . .«

Draußen wandelte sich das Schwarz langsam in Grau, aber ein dicker, bitterlich riechender Nebel hing über Berlin. Sie mußten ganz langsam fahren. Auf den totenstillen Straßen warnte die Huppe des Automobils fortwährend Menschen und Wagen, die nicht da waren. Es schlief noch alles auf dieser Schwelle zwischen Tag und Nacht. Auch der junge, Erich von Wölsick gegenübersitzende Arzt gähnte fortwährend, die eine Hand vor dem Mund, die andere auf sein mitgebrachtes schwarzes Kästchen gestützt. Das machte den anderen auf die Dauer nervös. Mißmutig schaute er zur Seite in die schattenhaften Umrisse des Tiergartens, der Häuser von Charlottenburg, der Kartoffelfelder und Kieferforsten, bis man plötzlich auf einen Wink des Geheimrats an einem Gehölz hielt.

Herr von Teichardt war gestern mit dem Hauptmann de Pierre hier gewesen und hatte sich, wie er sich ausdrückte, eine »lauschige Stelle«, eine Lichtung im Walde, ausgesucht, zu der ein Fußpfad hinführte. Gestern, am hellen Mittag, war der deutlich zu erkennen gewesen. Heute, in dem zähen, ringsumher brauenden Nebel, liefen alle Wege sonderbar durcheinander. Der, den man einschlug, war es nicht. Er lockte immer weiter in Nadelholzgestrüpp und Kaninchenlöcher. Man mußte umkehren und auf die Straße zurück und Erich von Wölsick sah zornig auf die Uhr und sagte zu seinem Schwager: »Tu mir den einzigen Gefallen und schau, daß wir rechtzeitig an Ort und Stelle sind! Das ist deine verfluchte Pflicht und Schuldigkeit! Ich hab' keine Lust, den Dampfer zu versäumen, weil die Geschichte auf morgen verschoben werden muß . . .«

Zum Glück kam eben, von irgend einem nahen Gut, ein Milchfuhrwerk im Schritt durch das Grau heran. Herr von Teichardt stellte sich in seiner ganzen Breitschultrigkeit vor den Gaul und rief den Mann auf dem Bock an: »Sagen Sie mal: haben Sie nicht hier 'rum eben ein paar Offiziere gesehen?«

»Ja – da hinten! . . . drei!«

»Drei?«

»Sie haben doch natürlich noch einen Militärarzt bei sich!« versetzte Erich von Wölsick ärgerlich und halblaut. »Du denkst heute aber auch rein an gar nichts!«

»Na – dann stimmt's ja!« Der Geheimrat atmete erleichtert auf. »Danke schön! . . . Übrigens . . . da kommt ja auch schon einer!«

Aus dem Dämmern am Walde löste sich eine Gestalt in Offizierspaletot und Mütze los und schritt auf die Gruppe zu. Es war der Hauptmann de Pierre, der verbindlich grüßte, sich vorstellte und mit einem freundlichen Lächeln sagte: »Wir hören schon die ganze Zeit Ihre Stimmen! Ich dachte mir schon, daß die Herren am Ende mit dem Nebel nicht gut zurechtkommen! . . . Gestatten Sie, daß ich die Führung übernehme! Hier, wenn ich bitten darf . . .«

Er ging elastisch über den Sand und die Baumwurzeln eines Fußpfads voraus, die anderen hinterher. Es war ein schweigsamer Gänsemarsch im Zwielicht, und Erich von Wölsick, der als letzter dem liebenswürdigen Hauptmann folgte, sah sich bei einer Wegbiegung mißmutig die feierlichen Gesichter vor ihm an und dachte sich mit einem spöttischen Unbehagen: Was die sich alle wichtig tun, auf meine Kosten!

Am meisten gefiel ihm jetzt noch der Hauptmann Ansold selber. Dessen großes, ausdrucksloses Gesicht paßte endlich einmal so ganz in diese fahle und übernächtige Stimmung. Er stand mit einem Stabsarzt seines Regiments zusammen. Etwas abseits der Unparteiische, ein bürgerlicher Rittergutsbesitzer und Rittmeister der Reserve, der in dem Berliner Landwehrbezirkskommando, dem Erich von Wölsick angehörte, Vorsitzender des Ehrenrats war. Darum hatte man ihn gewählt. Er drückte den Ankommenden die Hand. Wieder gab es Vorstellereien und Verbeugungen der beiden Ärzte gegeneinander, gegen die anderen – man stand mit den Stiefeln im nassen Grase und ging geschäftig hin und her und verhandelte flüsternd miteinander – alles war etwas erregt, bloß Erich von Wölsick nicht. Der lehnte anscheinend ganz teilnahmlos, die Hände in den Taschen, an einem Baum und sah, wie man mit sonderbaren Sprungschritten, fast hüpfend, die Entfernung abmaß und Stäbchen in den Boden steckte und die Pistolen zum Vorschein brachte, und hatte nur den Wunsch: Wären doch schon acht Tage vorüber und ein Meer zwischen mir und Jakobe Ansold . . .

Nun schien ihm wenigstens endlich alles für die kurze Zeremonie der beiden Schüsse geordnet zu sein. Die beiden Sekundanten hatten sich an die Stellen begeben, wo die Stäbchen staken, beugten sich weit vor und äugten sich zweifelnd und kopfschüttelnd an. Dann trat der Geheimrat zu ihm heran und sagte: »Dumm! Aber nichts zu machen, Erich! Wir müssen noch warten!«

»Ja warum denn, zum Kuckuck?«

»Der Nebel ist zu dick! Ihr könnt euch auf die Entfernung gar nicht ordentlich sehen!«

Der andere fuhr zornig auf.

»Und ich hab' keine Lust, hier noch lange herumzustehen! Dann nehmt doch einfach eine kürzere Distanz!«

»Was fällt dir denn ein? Das ist nicht mehr zu ändern! Überhaupt: Debatten gibt's da nicht! Wir sind die Sekundanten . . .«

Es entstand ein allseitiges, unbehagliches Schweigen. Erich von Wölsick zündete sich eine Zigarette an und blies finster den Rauch vor sich in die kalte Winterluft. Jetzt auf einmal, in dieser erzwungenen Kunstpause, hatte er die erste unbehagliche Empfindung, die mit dem Zweikampf selbst zusammenhing – nicht Angst, aber das Vorgefühl von etwas Unangenehmem, etwa wie im Wartezimmer des Zahnarztes. Nur daß dort ein nützlicher Eingriff geschah, während hier . . . Es ging ihm durch den Sinn: Wenn ich Philosoph wäre, würde ich fragen: was wird nun damit bewiesen? Jede Ursache muß doch eine Wirkung haben! Aber wird durch das Abfeuern von zwei Kugelpatronen mein Verhältnis zu Jakobe geändert? Oder das ihres Mannes zu ihr? Nein – es bleibt alles beim alten! Also wozu diese ganze aschgraue Szene hier – die bleichen Gesichter – das tiefe Schweigen? Warum bewegt mich mein Schwager und Vertrauensmann hier förmlich wie eine Puppe hin und her, stellt mich auf einen bestimmten Platz, sagt mir, was ich tun soll? – Auf das, was hier geschieht, kommt es gar nicht an – nur darauf, was aus mir durch Jakobe wird – ob ich die Kraft finde, mich noch von ihr frei zu machen, oder ob ich an ihr zu Grunde gehen werde . . .

Eben wollte er ungeduldig zu seinem Schwager sagen: »Nun los oder ich fahre nach Berlin zurück!« – da entstand in der Gruppe der anderen Herren eine Bewegung und eine gedämpfte Stimme sprach: »Zur Not ginge es jetzt allenfalls!« und eine andere lautere: »Na – fangen wir schon in Gottes Namen an . . .!« und Herr von Teichardt kam: »All right, Erich?« und er nickte, und ging mit jenem in die Mitte der Lichtung.

Drüben stand der Hauptmann Ansold stumm und unbewegt wie eine Schildwache. Es hätte aber ebensogut auch der Hauptmann de Pierre sein können. Man sah wahrhaftig nur einen Offizier im grauen Nebel. Er trug Mütze und Überrock. Den Mantel hatte er abgelegt. Er hörte aufmerksam, den Kopf nach dem Unparteiischen gewendet, während der in einem hellen, jovialen, zuweilen von einem Räuspern unterbrochenen Ton etwas erzählte, daß Versöhnung auch im letzten Augenblick – hm – keine Schande sei – und wenn nicht – dann möchten die Herren die Güte haben, zwischen eins – zwei – und drei zu schießen . . . ja . . . hm . . . also bitte . . .

Und Erich von Wölsick sah sich inzwischen, immer in einer sonderbaren Zerstreutheit, den fremden Mann im Nebel drüben an. Der war jetzt wieder halb unsichtbar. Es war ein Dämmerlicht wie an einem Novemberabend. Oder wie in London an einem Nebeltag. Er hatte ein paar solche durchgemacht – diesen Herbst – als er nach beendeter Übung ohne Aufenthalt von der kleinen Garnison in vierundzwanzig Stunden an den Themsestrand gefahren war. Dort war er durch die Straßen gegangen, umflutet vom brausendsten Wellenschlag des Lebens, und hatte kaum mehr an Jakobe Ansold gedacht. Das sollte hinter ihm liegen und fing doch da erst an und wuchs ihm über den Kopf und erdrückte ihn . . .

Da hörte er wieder die helle Stimme: »Sind die Herren bereit? . . . Ja? . . . hm . . . dann also . . . Eins . . .«

Er feuerte rasch, etwas nach rechts vorbei. Sein Jägerohr hörte deutlich das trockene Knacken des Kugelschlags in einem Kiefernstamm. Fast zugleich war drüben im Nebel ein roter Blitz, ein Knall – dann war die Sache schon vorbei. Er stand aufrecht da, wie drüben der Hauptmann Ansold auch. Der Geheimrat kam auf ihn zu. Die feierliche Ruhe der seitlings aufgestellten Herren löste sich in Bewegung und Gespräch auf – es war eigentlich lächerlich – diese plötzliche Wandlung nach Nichts und wieder Nichts. Erich von Wölsick trat mit seinem Schwager zur Seite und dabei kam ihm eine nachträgliche Erinnerung: »Wer hat mich denn eben mit dem Stock an das Bein geschlagen? Es war doch niemand neben mir?« – und er griff sich unwillkürlich mit der Hand an das linke Knie und zog sie über und über blutrot zurück, und zugleich schrie der Geheimrat erregt: »Herr Doktor! Herr Doktor! Lassen Sie doch Ihren verfluchten Kasten offen! . . . Kommen Sie doch! . . . Hier sitzt ja ein Schuß!«

Alles lief herzu. Und vom Augenblick der Entdeckung ab fühlte Erich von Wölsick auch schon Kälte und Taubheit und Schwere im Bein. Er setzte sich auf einem Plaid am Boden nieder. Der Arzt kniete daneben, trennte mit einem Messer das Beinkleid auf und murmelte: »Na natürlich . . . da haben wir die Bescherung – gerade über dem Knie!«

»Ernste Sache?« frug Herr von Teichardt.

»I wo: Fleischschuß! das kurieren wir in vierzehn Tagen – einfach mit Heftpflasterstreifen und anderen Schikanen der Neuzeit! . . . da seien Sie unbesorgt . . . Herr von Wölsick kann bald wieder tanzen gehen, wenn er will!«

Die beiden Hauptleute standen abseits, im Begriff zu gehen. Der eine half eben dem anderen in den Mantel. Und der Unparteiische murmelte zu dem Geheimrat: »Was meinen Sie? Wäre nicht jetzt die Zeit für eine Versöhnung . . .?« Aber Erich, der es verstanden, machte eine heftige Handbewegung. Er war ergrimmt und empfand es fast als eine Schmach, daß er hier als Krüppel am Boden lag und Jakobes Mann drüben aufrecht auf beiden Beinen stand und mit einem finsteren Seitenblick auf ihn heruntersah. »Auf diesen Shakehands verzichte ich durchaus!« sagte er. »Ich sehe nicht den geringsten Anlaß dafür . . . Wir haben der Kultur Genüge getan und uns geschossen. Und nun basta!«

»Wie du willst! Er scheint ja auch keine Lust zu haben!«

Der Geheimrat hatte das gesprochen und der andere nickte ihm zu, während ihm der Arzt große Mengen von Gazestreifen, die sich rasch blutig färbten, um das Bein wickelte.

»Du – hast du gehört? – In vierzehn Tagen kann ich reisen?«

»Herrgott – hast du denn immer nur die Reise im Kopf?«

»Nur die Reise, Schwager! Ich muß fort von hier! Darum bin ich so hartnäckig!«

»Ja – das seh' ich!«

»Also dann sei so gut und gehe jetzt gleich in Berlin zum Lloydbureau, damit sie mir meinen Kajütenplatz umschreiben! Die Ostasiaten gehen ja alle vierzehn Tage. Da kann ich mich gerade mit dem nächsten in Genua einschiffen!«

»Na – wie du willst! . . . Grundgütiger Himmel, was ist denn das?«

Der breitschulterige Bureaukrat wies nach dem Ende der Waldlichtung. Dort standen immer noch die beiden Offiziere und vor ihnen stramm, aber mit einem pfiffigen Lächeln, ein Gendarm in Helm und in Dienstausrüstung, und man hörte, wie der Hauptmann Ansold zornig ausrief: »Sie haben mich überhaupt gar nichts zu fragen! Ich trage Uniform! . . . Ich brauche Ihnen keine Antwort zu geben!«

»Ist ja auch gar nicht nötig, Herr Hauptmann!« versetzte der Gendarm beschwichtigend. »Herr Hauptmann brauchen sich ja gar nicht so aufzuregen! Ich sehe ja die Achselstücke . . . zwei Herren Hauptleute . . . Beide von den 217ern – genügt ja vollkommen für die Anzeige – danke sehr, Herr Hauptmann – na – und nun die anderen Herrschaften! . . . Schönen, guten Morgen, meine Herren . . .«

Er wünschte das laut und kräftig, während er zu der Gruppe um den Verwundeten herantrat, und der Geheimrat erwiderte erbittert: »'Morgen! . . . Wo kommen Sie denn zum Donnerwetter her?«

»Gott – ich bin auf Patrouille und wollt' drüben im Schützenhaus an der Chaussee frühstücken – da sagt mir der Kellner: Eben ist der Milchkutscher von Güstrow hier durchgefahren. Der erzählt, die ganzen Kuscheln drüben seien voll von Offizieren und feinen Herren aus Berlin. Was die wohl vorhätten? – Na – und da fielen denn auch, richtig wie 'ne Antwort, zwei Schüsse und ich hab' meinen Kaffee ungetrunken gelassen und bin in der Richtung hierher . . . Nun darf ich mir wohl die Namen notieren? Die Nummer vom Automobil draußen hab' ich mir auch schon gemerkt! . . .«

Herr von Teichardt legitimierte sich als Geheimer Rat im Auswärtigen Amt und gab die weiteren Ausweise, die der nunmehr sehr respektvoll gewordene Gendarm in sein Taschenbuch schrieb. Damit war diese Formalität erledigt und Erich von Wölsick konnte es versuchen, mit einem Fuß humpelnd und auf seinen Schwager gestützt, den Weg bis zu der Straße, wo das Automobil harrte, zurückzulegen.

»Das ist ein rühmlicher Abgang!« sagte er zwischen den Zähnen – denn er mußte den Schmerz verbeißen – zu jenem. »Ich weiß nicht, was das ist, daß seit dem Herbst alle Menschen, mit denen ich in Berührung komme, stärker sind als ich! Jetzt sogar dieser Esel – dieser Ansold! Auch der streckt mich nieder! Ebenso seine Frau! Ebenso Sophie Neerlage! Ich bin rein verhext . . .«

»Na . . . es ist immerhin noch glücklich abgelaufen!«

»Ja – dafür, daß ich nach seiner Erklärung kein Ehrenmann bin, habe ich als Genugtuung einen Schuß im Bein. Wenn das keine ausreichende Sühne ist . . .«

»Das schlimmste ist nur, daß Sie nun nicht reisen können, wie Sie es doch offenbar so sehr wünschen!« versetzte von hinten der Unparteiische, der – nach einem erregten Wortwechsel, weil der Gendarm anfangs durchaus mitfahren wollte und sich nur mit Mühe davon abhalten ließ – nachgekommen war und die letzten Sätze gehört hatte.

»Wieso denn?«

»Sie sind doch Reserveoffizier. Sie müssen doch Urlaub haben!«

»Den hab' ich schon! Auf ein Jahr!«

»Aber der wird Ihnen doch jetzt wieder entzogen, sobald eine kriegsgerichtliche Untersuchung wegen Zweikampfs auf die Gendarmerieanzeige hin gegen Sie eröffnet wird! Sie müssen doch zu der Verhandlung erscheinen und Ihre Strafe absitzen! Damit und mit dem Verfahren gegen Ihren Gegner kann man doch nicht warten, bis Sie einmal nach Jahr und Tag wieder nach Deutschland kommen . . .«

»Und wie lange dauert wohl die ganze Geschichte? Sie haben doch in derlei Erfahrung, in Ihrer Stellung?«

»Bis alles erledigt ist, gut ein Jahr! So lange müssen Sie sich schon in Berlin und später auf der Festung aufhalten!«

Erich von Wölsick schwieg. Sein Gesicht wurde bleich – aber nicht von Blutverlust oder plötzlicher Schwäche, sondern von einem furchtbaren Schrecken. Jetzt auf einmal wurde ihm erst klar, was eigentlich geschehen war! Seine Reise war unmöglich geworden! Das Geschwätz eines Milchkutschers zu einem Kellner hatte genügt, alle Pläne umzustoßen, die seinem Leben eine neue Richtung geben sollten. Er war durch einen pflichteifrigen Gendarm wieder willenlos in Jakobes Nähe gebannt! Auf ein Jahr! Auf ein langes Jahr . . . Und ein Bruchteil dieser Zeit genügte doch, um ihm den letzten Halt gegenüber der Verzweiflung, der Hoffnungslosigkeit, des Wahnsinns seiner Liebe zu rauben. Nun schlugen die Flammen über ihm zusammen. Nun mochte geschehen, was wollte. Er sprach kein Wort mehr. Leer vor sich hinstarrend, sank er in die Lederkissen des Automobils und ließ sich von dem Doktor zurechtbetten, und so fuhren sie langsam, vorsichtig, in immer dichter wirbelndem Schneegestöber nach Berlin zurück.



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