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Die Glöckchen am Pferdegeschirr erklangen leise, unter den Hufen knirschte und kreischte der hartgefrorene Schnee, sonst war kein Laut in der weißen Waldeinsamkeit, durch die Erich von Wölsicks Schlitten dahinglitt. Föhren zur Rechten, Föhren zur Linken, der märkische Sand des Bodens von der glitzernden Winterdecke verhüllt – alles, wohin er sah, sein Eigen – das Reich seiner Väter, das sie schon besaßen, ehe die Hohenzollern in das Land gekommen, und von dem aus sie dann den Hohenzollern mit ihrem Blut gedient und getreulich Jahr um Jahr, was an jungem Nachwuchs in dem großen, in jedem Jahrhundert einmal von Schweden, Russen und Franzosen zerstörten Herrenhaus flügge war, hinausgeschickt hatten unter die Waffen ihres Kurfürsten und ihres Königs. Es war immer ein zähes, ein nüchternes, ein strenges Geschlecht gewesen. Es hatte wohl manchen General, manchen Minister hervorgebracht, aber alles in allem galt doch der einzelne in ihm nicht viel. Er war eben ein Wölsick. Und andere Wölsicks wie er folgten, bis auf Erich, den gegenwärtigen Herrn, der als der erste der langen Reihe mit einem leichten Frösteln, wie vom Hauch des Winters um ihn, den Einzelmenschen in sich fühlte, den unsteten Sohn der neuen Zeit, losgelöst von der Scholle, über die hinaus es für seine Vorfahren nur noch den Willen des Kriegsherrn gegeben.
Aber war sein Horizont auch weiter geworden – vielleicht weiter als gut war – er liebte doch dies Stück väterliche Erde, er kannte es genau – dies weitgestreckte Gebiet, das er schon als Knabe und späterhin als Mann mit der Büchse in der Hand bis in die letzten Waldwinkel und Sumpflöcher hinein durchstreift hatte. Die Jagd war, sobald er sich in Sommerwerk aufhielt, seine Hauptbeschäftigung gewesen. Dabei war ihm der Tag stets schnell verstrichen. Man empfand den Winter, die Öde, den Mangel an Menschen kaum, zumal wenn man übersättigt von ihnen aus Berlin kam. Jetzt war das anders. Wohl standen auch jetzt die Rehe in Rudeln draußen auf den verschneiten Feldern, und zeigten die Spuren am Boden, wo das Rotwild zu Holze gezogen, aber ihn schmerzte bei jeder unvorsichtigen Bewegung noch das kaum geheilte Bein, das er eben erst, seit einigen Tagen, mit Hilfe eines Stockes wieder zu gebrauchen vermochte. Er hatte es nach der Verwundung nicht lange in der Klinik, wohin man ihn geschafft, ausgehalten. Schon nach einer Woche hatte er darauf bestanden, hier auf dem Lande, unter seinem eigenen Dach, die Genesung abzuwarten. Nun, zu Ende Januar, war er so weit, daß er keiner fremden Hilfe mehr bedurfte.
Und doch fühlte er sich immer noch als ein Gefangener wie zu der Zeit, als er noch den ganzen Tag ausgestreckt auf dem Diwan gelegen und stundenlang müßig in düsteren Gedanken zur Decke hinaufgestarrt hatte. Unter anderen Umständen hätte er seine Leidenschaft durch Jagd und körperliche Anstrengung betäuben können. Jetzt war sie immer da. Sie begleitete ihn auf den langen, einsamen Schlittenfahrten, die er, um die Zeit totzuschlagen, tagtäglich des Nachmittags unternahm. Die ganze Welt um ihn hieß Jakobe Ansold . . . Jakobe Ansold überall . . .! Nur nicht, wo er war. Und er sagte sich, in die Ecke des Schlittens gedrückt, finster, daß wohl noch nie ein Mann so blind, so wahnsinnig verliebt gewesen sei wie er – und so ohne Hoffnung wie er . . .
Der Wald hatte aufgehört. Das Gefährt bog auf die große Landstraße ein, die frei über das Feld führte. Hier war mehr Leben. Ein paar Leute am Wege zogen die Fuchspelzmützen vor dem gnädigen Herrn auf Sommerwerk. Dann kam dem ein anderer Herrschaftsschlitten entgegen. Damen vom Landadel der Nachbarschaft saßen darin. Er grüßte sie. Aber sie hatten gerade die Köpfe zur Seite gewandt, um sich vor dem Wind zu schützen, und ein spöttisches Lächeln ging, als er an ihnen vorüber war, über seine blaß und hager gewordenen Züge. Es war nicht das erste Mal in letzter Zeit, daß ihm derlei scheinbar zufällige Nichtbeachtung bei seinen Ausfahrten begegnet. Da begann schon eine Art von gesellschaftlichem Boykott gegen ihn, den Größten hier im Lande, vor dem sonst jede Mutter heiratsfähiger Töchter gekatzbuckelt hatte. Rings um ihn warteten die landgesessenen Familien, was nun eigentlich geschehen würde. Er hatte Jakobe Ansold, die jeder wenigstens von Ansehen kannte, zur Flucht bewogen, er hatte sich mit ihrem Mann geschossen, er beschäftigte Gericht und Presse mit dem Fall – nun mußte er sie doch heiraten . . . das war doch so einfach und selbstverständlich für die Vettern und Basen im Kreise . . .
Es zuckte bitter um die Lippen des einsamen Mannes, während der Schlitten rasch dahinglitt durch das ewige weiße Einerlei und Schweigen, in dessen Nebelkälte die Pferde rauchten und die Glöckchen silbern widerklangen, und dann plötzlich scharf zur Seite bog. Dort drüben in der Ferne ragten Türme und Dächer durch die graue Luft. Dort lag die Garnisonstadt, in deren Nähe der Kutscher nicht kommen durfte. Das wußte er schon. Nur einmal hatte er seinen Herrn langsam, im Schritt, hindurchgefahren. Das war bei dessen Ankunft von Berlin, aus dem Krankenhaus. Da hatte Erich von Wölsick, erschöpft von der Reise, in dem Schlitten mehr gelegen als gesessen und nicht rechts und links gesehen, in einem bitteren Schmerz beim Anblick all der alten, wohlbekannten Stätten, beim feierlichen Läuten der Silvesterglocken durch die stille Abendluft, die das schicksalschwerste und unglücklichste Jahr seines Lebens zur Rüste trugen, und dann war er, als einmal sein Auge doch die breiten, fast menschenleeren Gassen streifte, plötzlich zusammengezuckt. Er hatte den Hauptmann Ansold drüben gesehen. Der ging, breitbeinig und etwas schwerfällig wie immer, auf dem Bürgersteig dahin. Er führte einen kleinen Kadetten an der Hand, Jakobes Sohn. Er brachte ihn, von einem Burschen mit einem Koffer gefolgt, zur Bahn, wieder in das Korps zurück, nachdem der Kleine die Ferien beim Vater verlebt. Er und der Mann im Schlitten sahen sich finster, ohne Gruß ins Gesicht. Dann schritten die beiden, der große und der kleine Soldat, weiter, und seitdem hatte Erich von Wölsick die Giebel und Schlote des märkischen Nestes nur noch undeutlich am Horizont gesehen, wo sie im trüben Schein milchfarbenen Schneegewölks verschwammen.
Er wandte auch auf dem Rückweg nicht den Kopf danach. Unbeweglich vor sich hinblickend, in seine Leidenschaft versunken, fiebernd in der Kälte, die ihn umgab, fuhr er dahin. Es dämmerte schon, als der Schlitten in Sommerwerk hielt. Der riesige, einem kleinen Exerzierplatz an Umfang ähnelnde Gutshof lag verödet, im Winterschlaf da. Die Sachsengänger, die den Sommer über hier in ihren Wellblechbaracken gehaust, waren nach Galizien und Ungarn heimgezogen, die Brennerei stand still, nur da und dort hantierte noch ein Knecht, eine Magd in den Ställen, in denen dumpfes Rindergebrüll erscholl, und der Inspektor stapfte in seinen Wasserstiefeln durch den Schmutz heran mit einem Haufen von Anfragen und Vorschlägen, und Erich von Wölsick tat ihm den Gefallen und machte mit ihm, am Stocke hinkend, einen Rundgang durch den Hof und hörte seine Klagen über den nassen Kartoffelherbst und die Wicken im Hafer und den Windbruch im Walde und hatte dabei immer einen Zwang, sich zu denken: das alles geht dich an! Es gehört dir! – Was ihn umgab, hing so gar nicht mit ihm zusammen – er war so losgelöst von allem, was nicht Jakobe Ansold hieß – er schämte sich der eigenen Verstellung, mit der er Interesse an diesen Dingen heuchelte, und sagte zu dem Verwalter: »Ich vertrag' das Stehen nicht länger!« und stieg langsam die Treppe hinauf in die lange Flucht der Wohnzimmer. Da setzte er sich am Fenster hin, auf das altmodische Biedermeierkanapee, auf dem vor Jahrzehnten vielleicht Großvater und Großmutter miteinander als Brautpaar getändelt, ehe sie ihr Nest auf Sommerwerk gebaut. Ein Hauch aus jener Zeit erfüllte jetzt noch die Stuben des großen, stillen, menschenleeren Hauses. Es roch in ihnen nach Staub und welken Äpfeln, auch wo gar keine waren, und nach morschem, uraltem Holz und stockigen Tapeten – alle Eindrücke der Kindheit, eines halben Lebens, das an diesen Räumen haftete, wachten wieder auf, wenn man ihre Luft einatmete, und Erich von Wölsick stützte den Kopf in die Hand und schaute stumm in die Finsternis vor den Fenstern, die immer tiefer wurde und was da draußen sein Erb' und Eigen war, Haus und Hof und Land, verschluckte und in das Zimmer kroch und bis in seine Seele . . .
Draußen flimmerten in winterlicher Klarheit die Sterne. Der Mond stieg fahl leuchtend über den schwarzen Föhrenmauern in der Ferne auf. Ein undeutlicher Schimmer ging von den weiten Schneefeldern davor aus. Es war eine schöne, kalte Nacht, und als Erich von Wölsick in die hinausblickte, zog plötzlich eine Sternschnuppe ihren raschen feurigen Bogen über den Horizont, und es fiel ihm ein, was man ihn in der Schule gelehrt, daß diese Meteore Teile von zwei zertrümmerten Weltkörpern seien, die einander einst in ihrem Lauf begegnet – und er dachte sich: So haben auch Jakobe Ansold und ich uns unwiderstehlich angezogen und haben uns zerschellt, eines am anderen, nach einem ehernen Gesetz, und sind ins Dunkle hin verschwunden und eigentlich schon tot, und nur etwas von unseren zerstörten Seelen leuchtet noch in finsterer Nacht.
Und dann ballte er wieder die Fäuste. Ihn empörte diese Unmännlichkeit, diese Tatenlosigkeit. Er mußte sich doch losreißen, sonst gab es noch ein Ende mit Schrecken – und während er hastig aufstand, hatte er wieder den alten, ungestümen Drang: Ich muß fort von hier! . . . fern übers Meer! . . .
Er klingelte und ließ die Lampe kommen. Bei ihrem Glanz erlosch sein Sehnen in die Weite in Hoffnungslosigkeit. Da auf dem Schreibtisch lag ein großes, weißes, amtliches Schriftstück. Die Vorladung zur Vernehmung wegen Zweikampfs mit tödlichen Waffen. Der mußte er nächstens Folge leisten, nachdem er bisher sich durch ein ärztliches Zeugnis entschuldigt, und im kommenden Monat vor dem Kriegsgericht seiner Division erscheinen und bald darauf seine Festungshaft antreten. Ehe das alles erledigt war, bekam er vom Bezirkskommando keinen Urlaub, und fahnenflüchtig konnte er, ein Wölsick auf Sommerwerk, doch nicht werden! Jeder Blick auf die Ahnenbilder an der Wand, diese würdevoll steifen friderizianischen Zopfträger und Offiziere bis in die Neuzeit hinein, ließ den bloßen Gedanken als eine Lächerlichkeit erscheinen.
Er ging langsam im Zimmer auf und ab und ärgerte sich über seinen eigenen schweren, ungleichmäßigen Tritt, die Folge der Verwundung, der in dem tiefen Schweigen des Winterabends an den Wänden widerhallte. Sonst war kein Laut als einmal ein Krachen im wurmstichigen Gebälk, ein Windseufzen vor den Fenstern, und ihm war, als hinke die Einsamkeit in Gestalt seines Lampenschattens hinter ihm her, als verfolge er sich selbst und sei sein eigener Feind und seiner selbst müde und sich zum Überdruß. Er war ganz allein in dem großen, weitläufigen Hause. Seine Mutter hatte es wie immer schon zwischen Weihnachten und Neujahr verlassen, um den Winter im Süden zuzubringen. Vorher war sie in Berlin einmal an sein Krankenlager getreten. Er hatte ihr gar nicht gesagt, daß er schon in den nächsten Tagen nach Sommerwerk hinauswollte. Er hätte es vielleicht gar nicht getan, wenn sie da draußen gewesen wäre. Es stand etwas zwischen ihnen, von seiner Kindheit an. Und wie er jetzt mit einem verlorenen Blicke stehen blieb, da sah er im Dämmerlicht der Erinnerung aus jenen Tagen wieder den großen, stattlichen, linkischen Mann mit dem dröhnenden Schritt und der stets unsicheren Haltung vor sich, den Stiefvater, der eigentlich nur Inspektor auf Sommerwerk gewesen und den die Mutter geheiratet, ehe drei Winter die Schleifen und Kränze auf dem Grabe des Vaters gebleicht. Er entsann sich noch der großen roten Hände des fremden Mannes, seines lauten, verlegenen Lachens, wenn er ihm, dem kleinen Erbherrn, auf dem Flur begegnete, er sah ihn noch eines Morgens gläsernen Auges an der offenen Türe zum Weinkeller sitzen, in dem er den Kummer über seine schiefe Stellung im Hause betäubte, und die schadenfrohen Gesichter der Dienerschaft. Von da ab schlich der Stiefvater mehr und mehr wie ein verprügelter Jagdhund umher – es ging zu Ende – eines Morgens war er fort und kam nie wieder. Und ein Jahr später nannte sich die Mutter wieder Frau von Wölsick wie einst. Sie war geschieden. Aber zwei Jahrzehnte lang ging noch zu jedem Quartalsersten eine Geldsendung aus den Einkünften von Sommerwerk hinüber nach Amerika. Erich hatte sie ein für allemal angewiesen. Erst seit sechs Jahren hatte sie aufgehört, ein Zeichen, daß da drüben der Tod seinen Strich durch ein verfehltes Leben gemacht.
Ihn fröstelte. Es war kalt im Zimmer. Er bückte sich und legte eigenhändig eine Schaufel Kohlen in die Glut. Und wie er sich wieder aufrichtete, da war plötzlich eine Verzweiflung in ihm: Warum war ich immer so allein! Warum habe ich meinen Vater nie gekannt – warum nie eine Mutter gehabt, wie sonst der Ärmste sie hat? . . . Warum war nie Liebe in diesem Hause, solange ich mich entsinnen kann? . . . Warum erinnert mich jeder Stein und jede Stufe hier, daß ich von meiner Kindheit ab von Schmeichlern und Schmarotzern umgeben war? – daß ich, noch ehe ich selber ganz Mensch war, schon die Achtung vor den Menschen verlor? – oder eigentlich sie nie recht besessen habe? Jetzt rächen sie sich dafür. Jetzt weiß ich, was Liebe heißt . . .
Und je weiter der lange, einsame Abend fortschritt, desto unerträglicher wurde ihm der Aufenthalt in dem toten Hause, und in der schlimmsten Gesellschaft, die er haben konnte, der seinen. Er schlief die halbe Nacht nicht – er stand den nächsten Vormittag stundenlang am Fenster und sah durch das weiße Flockengewirbel, das sich wieder auf die Erde senkte, in die Richtung hinaus, wo Berlin war – wo sie war . . . und als des Nachmittags sich das Wetter etwas klärte und er auf seiner gewohnten Spazierfahrt beim Austritt aus dem Walde fern die Türme der Stadt im Dämmergrau sah, da, sagte er plötzlich mit einer rauhen, von unterdrückter Erregung zitternder Stimme zu dem Kutscher, der eben seitlings nach Sommerwerk abbiegen wollte: »Gerade aus! Nach dem Bahnhof!«
Und da der Mann ihn nicht gleich verstand und sich verblüfft nach ihm umschaute, wiederholte er heftig: »Nach dem Bahnhof! . . . Ich will weg! . . . Mach kein so dummes Gesicht! . . . Ich brauche kein Gepäck! . . . Michael soll es richten und mit dem nächsten Zug nachbringen! Sag nur daheim, ich sei nach Berlin gefahren! . . .«
Der Kutscher wandte die Pferde. Der Schlitten flog gerade aus, über die weite, weiße Fläche der Stadt zu. Erich von Wölsick saß in ihm vorgebeugt, alle paar Minuten nach der Uhr sehend, in Angst, er könne den Nachmittagszug nach Berlin versäumen. Er gestand sich selbst: es hatte gar keinen Zweck, so Hals über Kopf dorthin zu eilen. Ob hier oder dort – das war, wie wenn ein Fieberkranker sich auf die rechte oder die linke Seite wälzte – sein Leiden blieb. Und auch auf seinem Gesicht war ein leidender, verbissener Ausdruck – wenn er auch nun sonst nichts erreichte, er war doch Jakobe Ansold räumlich näher – und er mußte selber bitter über diesen elenden Trost lachen.
Da war der Bahnhof. Der Zug stand schon in der Halle. Erich von Wölsick eilte sich, seine Fahrkarte zu lösen. Am Eingang zum Bahnhof blieb er stehen. Die Rampe war bunt von Uniformen. Eine Menge Offiziere des 217. Infanterieregiments waren da versammelt. Sie drängten sich um den einzigen Wagen der Klingelbahn, der ein Abteil erster und einige zweiter führte. In einem von diesen letzteren stand, an die offene Türe gelehnt, ein Hauptmann, und der Oberst gab ihm von unten herauf noch einmal die weißbehandschuhte Rechte und sagte mit seiner lauten, scharfen Exerzierplatzstimme: »Na, Gott befohlen, mein lieber Ansold, Gott befohlen! . . . Wir verlieren Sie ungern aus dem Re'ment – was, meine Herren? und wir hoffen nur, daß es Ihnen recht gut gehen möge in der neuen Garnison – und, wenn's auch ein bißchen weit ist von Ostpreußen nach der Mark, – daß Sie doch manchmal an Ihr altes Re'ment, in dem Sie so lange Zeit gewesen sind, zurückdenken mögen . . . ja . . . das hoffen wir, mein guter Ansold . . . das hoffen wir sehr . . .«
Und dann sprach der Hauptmann Ansold, sichtlich bewegt und stockend – denn er war nie ein großer Redner gewesen – zu dem Kranze blauroter Mützen unter ihm: »Ich danke Herrn Oberst gehorsamst! . . . Herr Oberst können überzeugt sein – ich werde immer mit Freude hierher zurückdenken, . . . ich meine . . . was Vorgesetzte und Kameraden mir immer hier gewesen sind. Das war mir, wenn ich das Herrn Oberst sagen darf, ein wahrer Trost in bitterer Zeit. Dafür bin ich dankbar . . . mein Herz bleibt hier bei den alten, tüchtigen 217ern zurück . . .«
Er hatte wirklich helle Tränen in seinen kleinen, nichtssagenden Augen. Die trafen jetzt zufällig Erich von Wölsick, der noch an der Bahnsteigsperre stand, und auch einige andere Köpfe wandten sich nach ihm, und ein paar Offiziere, die den Majoratsherrn auf Sommerwerk kannten, hoben zögernd die Hand zur Mütze. Aber der hatte sich schon jäh auf dem Absatz umgewendet und war ins Freie hinausgetreten, wo der Schlitten noch stand, und hatte den Kutscher aus der Bierstube nebenan gerufen: »Vorwärts! Ich will heim!«
Auf der Fahrt durch das Städtchen kam er an einem wohlbekannten Hause vorbei. In dem waren die Fenster des zweiten Stockwerks ohne Vorhänge und Gardinen. Niemand wohnte mehr da. Der Hauptmann Ansold war nach Ostpreußen verschlagen, seine Frau war in Berlin, der Sohn fern von beiden. Diesen kleinen Kreis von Menschen hatte er zersprengt, für immer. Aber nicht daran dachte er, als er bei einem Rückblick in die Ebene das weiße Dampfwölkchen des Zuges, der seinen Gegner entführte, fern in der Schneeluft verschwinden sah – es war eher in ihm ein finsteres, schuldbewußtes Siegergefühl. Nun hatte er doch den Platz behauptet und der andere ihn geräumt und seine Versetzung nach einer entlegenen Garnison beantragt, wo man noch nichts von seinem häuslichen Unglück wußte und nie viel darüber sprechen würde. Das hieß, daß alles aus war zwischen dem Hauptmann Ansold und seiner Frau . . .
Und mehr denn je wurde ihm, Erich von Wölsick, sein Recht auf sie zur Pflicht, vor sich und seinem Gewissen, vor seiner Ehre, vor allen Menschen, vor Gott, und er knirschte mit den Zähnen, von der Dämmerung des Winterwaldes umgeben: Sollte er sich noch einmal vor Jakobe Ansold demütigen – ihr schreiben, sie bitten? Er wußte zu gut: Und wenn er es zehn- und wenn er es hundertmal versuchte – es war umsonst. Sie gab nicht nach. Er hatte sie zu einem Menschen gemacht, der vielleicht einmal gebrochen, aber nie mehr gebogen werden konnte.
Und doch klopfte ihm plötzlich das Herz, als er am nächsten Vormittag vor dem Herrenhause von Sommerwerk stand, nachträglich wieder froh, nicht nach Berlin gefahren zu sein – was hätte er dort gefunden als neue Enttäuschung? – ihm stockte der Atem – da auf der Landstraße fuhr ein Schlitten heran – ein Mietschlitten, wie man ihn in dem Städtchen bekam – und in dem Schlitten saß eine Dame, tief verschleiert, die Hände im Muff – und einen Augenblick dachte er wie ein Verrückter: »das ist Jakobe Ansold! . . . Gestern ist ihr Mann fort! . . . Heute kommt sie!« – und schämte sich dann selber dieses tollen Einfalls und blieb ruhig stehen, bis der Schlitten um das Tannendickicht an der Wegbiegung herum wieder zum Vorschein kam und er Frau von Teichardt, seine Schwester, darin erkannte, die sich aufrichtete und ihm heiter zurief: »Guten Tag, Erich! . . . Na . . . wie geht's?«
Er sah die jugendliche Geheimrätin teilnahmlos an und sagte: »Wie kommst du denn hierher, Helme?«
Bei seiner Düsterkeit verschwand auch ihre gemachte frohe Laune. Sie wurde so ernst wie er und so versetzte sie, während sie aus dem Schlitten sprang und neben ihm her dem Hause zuschritt: »Wir haben Sorge um dich, Erich! Wir hören und sehen nichts von dir. Da hab' ich mich kurz entschlossen und überfall' dich einmal hier draußen!«
Nun allmählich, während die Überraschung in ihm schwand, war es ihm ganz lieb, daß die Schwester da war. Und doch hatte er ein Unbehagen der Störung und sagte: »Zu mir kommt sonst niemand. Ich brauche auch niemanden. Ich bin nicht mehr für andere Leute geschaffen. Früher vielleicht. Da konnt' ich mit den Leuten machen, was ich wollte. Da muß ich irgend ein Geheimnis dafür besessen haben . . . aber jetzt trampelt jeder auf mir herum . . .«
Frau von Teichardt überhörte das absichtlich. Sie blieb im Flur stehen und sagte, während er ihr Hut und Pelz abnahm: »Hier riecht es doch wie immer! Komisch, wie das die Erinnerung weckt. Ich bin da gleich wieder in unserer Kinderzeit drinnen – weißt du noch, wie da unter der Treppe der schwarze Mann war, und der dunkle Gang nach der Räucherkammer, wo die alte Mamsell immer noch gegen Abend die Würste aufhing und war doch schon längst tot und begraben – und oben das Bild vom Urgroßvater, das die Augen bewegte, wenn man's lange genug ansah – Gott – was nimmt man doch alles für Krimskrams aus solch einem alten Kasten ins Leben mit – das alles haben wir doch zusammen durchgemacht, Erich – und sind doch auch später im Leben zusammengeblieben – drum dacht' ich, ich könnte dir vielleicht auch jetzt noch etwas nützen – wenigstens besser als sonst wer.«
Die kleine magere Frau von Teichardt hatte sonst viel von der früheren Kühle ihres Bruders. Aber jetzt war doch ehrliche Herzlichkeit in der Art, wie sie ihm bei ihren Worten noch einmal im Wohnzimmer die Hand drückte, und er erwiderte das mit einer ungewohnten Weichheit, während ihm doch zugleich der Geist der Verneinung von einst zuflüsterte: Sie ist hier, weil sie etwas von dir will . . .
»Ich danke dir, Helme!« sagte er, sich setzend und den Kopf in die Hand stützend, sobald Michael, der Diener, der Portwein und Sandwiches gebracht, wieder das Zimmer verlassen hatte. »Aber ich glaube, mir kann niemand helfen – schon weil niemand weiß, wer ich jetzt bin! An mir geschieht ein schweres Unrecht, Schwester – und am meisten begeht das sie – gerade sie . . .«
Er hatte sich angewöhnt, Jakobe in seinen Gedanken nur noch »sie« zu nennen. Nun sprach er es auch aus. Frau von Teichardt verstand ihn und schwieg. Und er fuhr fort: »So rächt sich das jetzt an mir! . . . Und ich sage dir, Helme: Ich wundere mich über nichts, was ich vielleicht noch tun werde. Bei mir ist jetzt alles denkbar . . .«
Er wandte ihr sein von Leidenschaft abgezehrtes, vom Wundfieber des Krankenlagers blaß gewordenes Gesicht zu. Aus dem war das frühere verwöhnte Lächeln, die liebenswürdige Sattheit, ganz geschwunden. Die Züge waren hart und scharf geworden.
»Nun, mach es kurz!« versetzte er. »Womit kann ich dir helfen?«
Er hätte beinahe der Einfachheit halber gesagt: »mit wieviel?« Aber seine Menschenverachtung, die sonst die eigene Schwester nicht schonte, war in diesen letzten Monaten zu sehr ins Wanken geraten und hatte sich gegen ihn selbst gewandt. Und Frau von Teichardt antwortete ihm auch nur ganz ruhig: »Ich sagte dir schon: ich bin nicht meinetwegen gekommen, sondern wegen dir –«
»Nun und?«
Die Geheimrätin überlegte ihre Worte. Dann hob sie den Kopf und meinte: »Ich hab' darüber nachgedacht und viel mit meinem Mann gesprochen, und er sagt wie ich: Manchmal muß man im Leben rücksichtslos den Mut haben, alles in einem zu überwinden, was hoffnungslos ist – auch eine hoffnungslose Liebe – sonst bleibt man auf der Strecke . . .«
»Und dein Mann hat recht!« erwiderte Erich von Wölsick mit einem rätselhaften Zug um die Mundwinkel. »Du auch! Ihr gehört zu den glücklichen Leuten, die immer recht haben! Ihr seid Praktiker! Robust seid ihr! Es ist ein Segen, wenn einen die Wetterfahne immer aufs liebe Ich weist!«
»Lieber Erich: ein gesunder Egoismus . . .«
»Den habt ihr!«
»Schaff ihn dir nur auch an! Man braucht ihn in gewissem Umfang! Man kommt sonst nicht durch – in einem Fall wie dem deinen! Du mußt dir sagen: Ehe ich mich mit der unseligen Geschichte mein ganzes Leben lang nutzlos herumschleppe . . . lieber Gott – die meisten Menschen haben mal im Leben geliebt und es ist nichts draus geworden – ich auch, wie du weißt – und sind nicht daran gestorben! Also warum solltest du das nicht auch vermögen, und wenn die Zeit die Wunde geheilt hat, wieder ein normaler Mensch werden? Es kommt nur auf den festen Entschluß an, und gerade jetzt ist die Zeit dafür!«
Frau von Teichardt nahm einen Schluck Wein. Dann versetzte sie, und man merkte an ihrer Lebhaftigkeit, daß sie nun erst auf den Kern ihres Besuches kam: »Das alte Fräulein von Kritzing gibt ihre Schule auf! Kinder von Bekannten von uns gehen dort hinein. Dadurch haben wir es erfahren. Sie hat vor kurzem die ganze Geschichte samt dem Haus verkauft. Zu Ostern gibt sie's ab und zieht sich in den Ruhestand zurück, und dann will Frau Ansold nicht weiter bei ihr bleiben, obwohl sie es ihr angeboten hat, sondern anderswo tätig sein und sich ihr Brot selber verdienen, und das ist ja auch schließlich aller Ehre wert. Schwer ist's ja für eine geschiedene oder bald geschiedene Frau – und gar hier. Darum will sie am liebsten ins Ausland! Und die Kritzing hat da was für sie vermittelt – Schulvorsteherinnen haben doch immer überallhin Verbindungen durch ihre früheren Schülerinnen – und es scheint ziemlich sicher, daß Frau Ansold nächstens nach Amerika geht, in ein Damen-College – für deutsche Konversation. Nun – und dann bleibt sie wohl dort und kommt nie wieder und findet hoffentlich drüben ihren Frieden. Und du hier auch!«
Sie hatte sich in Eifer geredet, nun hielt sie inne, betroffen durch die unheimliche Ruhe, mit der ihr Bruder ihr zuhörte und nun, nach langer Pause, sagte: »Ich danke dir für deine Mitteilungen, Helme! . . . das war mir freilich neu . . .«
»Und was willst du nun tun?«
»Schweigen, Helme –! Es gibt Dinge – die vertragen das viele Reden nicht!«
Dabei verblieb er. Sie vermochte nichts mehr aus ihm herauszubringen. Und einmal, am Tisch, als ihre Anspielungen zu deutlich wurden, versetzte er: »Sonderbar, wieviel Mut ihr doch immer für andere habt und welche Fähigkeit, fremde Schmerzen zu ertragen! . . . Vergessen – Frieden finden – das ist nun so leicht hingesagt – Helme – man könnte ebensogut auch vom Wetter sprechen! Es ist auch ein kalter Wind heute! Michael – bieten Sie der gnädigen Frau noch einmal an . . .!«
Den ganzen Tag war er seiner Schwester gegenüber von einer Freundlichkeit, die sie beklemmte. Sie fühlte etwas Versteinertes dahinter. Sie war schließlich dem Weinen nah vor Angst und Aufregung. Sie bereute, daß sie herausgekommen war und sich wieder in die unselige Sache gemischt hatte, die sich nun erst recht wieder ihren Händen entwand. Denn irgend etwas hatte Erich vor oder rang wenigstens mit einem Entschluß. Das sah sie deutlich, doch weiter nichts, und fühlte sich gekränkt. Etwas mehr als dies Schweigen auf ihre Botschaft hin hatte sie doch für ihre Anteilnahme verdient. Aber sie hörte von ihrem Bruder nichts als gleichgültige Bemerkungen, wie sie der Gang durch Haus und Hof und Ställe eingab. Und an solchem äußeren Gesprächsstoff fehlte es wenigstens in Sommerwerk nicht. Für Frau von Teichardt war dies ganze mächtige Majorat nichts anderes als sonst einer Berliner Hausfrau ihre Vorratskammer, die ihr fast alles Nötige zum Leben in ihre Wohnung in der Reichshauptstadt lieferte. Es kam vor, daß dort bei Geheimrats eine Woche lang nur Kalb in jederlei Gestalt auf dem Tisch erschien, weil der Metzger in Sommerwerk gerade geschlachtet hatte. Dann wieder folgte ein Sommerwerker Reh, ein Bündel Hasen oder Fasanen und ebenso füllten sich Keller und Kammer mit Würsten und Eingemachtem, mit Kartoffeln und Gemüse, mit Obst und Butter aus dem Gut.
Der frühe Winterabend dämmerte schon, als die Geschwister noch einmal zusammen durch die großen kalten Säle im oberen Stockwerk gingen, von denen die Ahnenbilder steif und wohlwollend auf sie herablächelten. Bei einem blieb Erich von Wölsick stehen, hob den Rahmen auf und schrieb hinten auf die Leinwand mit Bleistift den Namen des Dargestellten, der erst vor kurzem durch eine Mitteilung des Heroldsamts sicher ermittelt worden, auf Grund einer Marginalnotiz Friedlich des Großen: »Wann der Kapitän Wölsick partout heurathen will, so mag Er sich zum Teufel scheeren!«
»Siehst du, den armen Kerl haben sie aus dem Dienst gejagt!« sagte Erich. »Er hat's vorher gewußt und doch nicht anders gekonnt! . . . Ihr aber stellt euch hin und schwatzt vom ›Frieden finden‹ und ›Vergessen!‹ . . . Glaub mir – wenn die Leute da oben in Leinwand und Öl den Mund auftun könnten, sie würden sämtlich sagen: Keiner lebt sich selber und keiner stirbt sich selber! das haben wir alle in unserem Leben erfahren! . . . Und so wird's immer bleiben, trotz all deiner Schlauheit . . .«
Frau von Teichardt sah jetzt selber ein, daß sie einen Fehler begangen. Der Gesunde konnte mit dem Kranken, der Nüchterne mit dem Fiebernden nicht diskutieren. Sie aber hatte zu einem hoffnungslos und wahnsinnig Verliebten gesprochen, als wäre er ein Mensch mit fünf Sinnen, und sie frug nun etwas unsicher und gedrückt: »Aber – wenn du nicht vergessen kannst, Erich – wo soll denn das enden?«
Er gab ihr die Antwort erst, als er sie vor dem Haustor in den Schlitten hob, und auch da war sie dunkel und rätselhaft genug: »Wer kann wissen, was er muß? Ihr vielleicht! Euch sagt der Instinkt, wo euer Vorteil steckt. Ich war früher auch so ein Kautschukmensch und konnt' mich biegen und wenden nach Bedarf. Aber jetzt sind meine Knochen längst zu steif! Bricht's jetzt, so bricht's! . . .«
Frau von Teichardt konnte sich nicht mehr helfen. Sie fing vor unbestimmter Angst zu weinen an, als sie in dem Schlitten saß und die Pferde anzogen, und durch das Tuch vor ihren Augen sah sie, wie ihr Bruder immer noch mit bloßem Kopf auf der Schwelle stand und ihr freundlich und ganz gelassen mit der Hand nachwinkte, bis das Fahrzeug um die Waldecke verschwand.
Dann plötzlich änderte sich sein Gesicht. Es wurde vollkommen starr, beinahe leblos. Auf seinen Stock gestützt stieg er langsam, ohne sich mehr um die Außenwelt zu kümmern, in die oberen Zimmer hinauf. Da setzte er sich schwer im letzten Zwielicht am Fenster hin und riß sich den Kragen auf und rang nach Luft. Eine wahnsinnige Angst – ein Entsetzen, wie es ein Mensch vielleicht vor der Hinrichtung empfinden mochte – ließ sekundenlang seinen Herzschlag still stehen. Er war wie gelähmt. Er rührte keinen Finger mehr. Stumm, mit zusammengebissenen Lippen und leeren Augen in die niederfallende Nacht hinausschauend, saß er da und achtete nicht darauf, daß Michael die Lampe brachte und ihm einmal und noch einmal flüsternd meldete, das Abendessen sei aufgetragen. Vor seiner Seele stand nur das eine: Jakobe ging weg! Er verlor das letzte von ihr, das Bewußtsein und den Trost ihrer Nähe. Ein Fünkchen Hoffnung war bisher noch darin gewesen, daß er wußte: sie war dort – er hier – ein schwach glimmendes Lichtpünktchen in dem tiefen Dunkel. Nun erlosch auch das. O ja – er traute ihr das zu! Sie war fähig, übers Meer zu gehen, den Kopf erhoben und nicht ein einziges Mal nach rückwärts, auf das Leichenfeld ihres armen Lebens, gewandt – und drüben zu verschwinden, in einer wogenden grauen Masse, in einem unbestimmten Brausen, der neuen Welt . . .
Das Haupt in die Hand gestützt schaute er in die Zukunft. Da war er. In fünf Jahren. Oder in zehn. Irgendeinmal! Vielleicht das Haar schon gebleicht, die Züge gefurcht, und immer allein. Einsam auf der weiten Welt. In der war sie. Aber er fand sie nicht. Sie hatte wohl auch ihren Namen geändert, da drüben. Kein Lebenszeichen kam mehr von ihr herüber. Und er wanderte und wanderte und suchte sein verspieltes Glück, unter fremden Menschen, in hundert Ländern, ein Verzweifelter, ein Verirrter, bis er schließlich am Wege starb. Und die wilden, unregelmäßigen Schläge seines Herzens sagten es ihm: diese letzte Trennung von Jakobe Ansold hielt er nicht aus. Dann war es zu Ende. Und wie bald konnte dies Ende sein! Vielleicht morgen schon – in den nächsten Tagen! Wer wußte, wann sie die Reise anzutreten gedachte.
Und wieder faßte ihn die erstickende Angst, sie ganz zu verlieren. Er sprang auf. Er verließ das Haus. Er trat hinaus in den Schnee. Es war schon zehn Uhr Abends und totenstill. Der Vollmond stand hell am Himmel, die Gestirne glitzerten durch die frostklare Nacht. Man konnte weithin über die weiße Ebene sehen, die zwischen den Mauern der Stallungen zur Rechten und der uralten Dorfkirche zur Linken sich erhob, neben deren Wetterfahne auf dem Turm der Abendstern unruhig seine Lichtzacken ausschießen ließ und wieder einzog.
Viele Wölsicks schliefen da. Die Todesernte von drei, vier Jahrhunderten. Ein paar zerschlissene und vergilbte Landwehrfahnen aus den Befreiungskriegen hingen innen und streiften des Sonntags Vormittags beim Gottesdienst die Flachsköpfe der Bauernjungen. Und darunter, in der Gruft, stand Sarg an Sarg. Man konnte sich kaum mehr im Halbdunkel zwischen ihnen hindurchwinden. Und wie Erich von Wölsick das kleine Gotteshaus im Mondschein sah, kam ihm der Gedanke an den Tod und gleich hinterher ein zweites, jähes Aufblitzen und Aufzucken durch sein ganzes, wirres, mattes Hirn: »Jakobe Ansold gehört mir. Mir allein auf der Welt! Sie darf sich nicht mir entziehen! Wenn sie es doch versucht, muß ich es hindern! Ich muß sie töten! . . .«
Und abermals dachte er ganz kalt und fest: »Ja! Es ist mein Recht. Ich muß sie töten. Sie will es so. Sie bringt mich dazu . . .«
Dann hatte er wieder einen Schrecken über die dumpfe Selbstverständlichkeit, mit der er sich das sagte. Und er suchte einen Ausweg – einen Aufschub. Er sprach sich zu: Ich werde es erzwingen und noch einmal vor sie treten – irgendwie und irgendwo – und sie fragen, ob sie mein werden will. Und wenn sie auch dann auf dem Nein beharrt, dann bleibt keine Wahl. Dann muß es geschehen! . . . Ich kann, was mein ist in Ewigkeit, nicht fremden Leuten drüben überm Meere überlassen! Sie wird das Schiff nicht sehen, das sie von mir weg, aus meinem Leben fort, nach Amerika tragen soll . . .
Er war erstaunt: In solcher Ruhe fasse ich einen solchen Plan? Dann ist das Maß des Elends voll. Daher diese wunderliche Nüchternheit – und dieses leise Frösteln den Rücken hinab – eigentlich stand ein ganz anderer Mensch als er da im Schnee. Aber was der tat, mußte er selber verantworten . . .
Und plötzlich flackerte in ihm die Hoffnung auf: Jakobe Ansold hatte ihm bisher nicht geglaubt. Wenn er ihr jetzt den furchtbarsten Ernst zeigte, die Bereitschaft zum Äußersten, dann überwand er sie vielleicht in letzter Stunde. Sie kehrte mit ihm durch das Tor des Todes in das Leben zurück. Und wenn nicht? Er drehte sich um und ging rasch, als hätte er etwas vergessen, in sein Zimmer hinauf. Dort lud er seinen Armeerevolver mit sechs Patronen und betrachtete, als er es vollbracht, nachdenklich die im Lampenschein funkelnde kleine Waffe und legte sie dann ruhig seitwärts auf den Kamin, seltsam gleichgültig und müde, als enthebe ihn eine fremde Macht aller Verantwortlichkeit für sein Tun und Lassen. Über dessen Tragweite war er sich dabei in seiner Willenlosigkeit völlig klar. Er dachte sich noch: Ich könnte klingeln und Michael befehlen, den Revolver wegzunehmen, mich hier im Zimmer einzusperren, den Arzt zu rufen! Das wäre am besten! Auf die Weise wird ein Unglück vermieden! . . . Aber ich tu' es nicht! . . . Ich lass' dem Schicksal seinen Lauf.
Und dann hoffte er wieder halb, zwischen Zweifel und Zuversicht: Nein. Es wird kein Blutvergießen geben! Ich hole mir jetzt einfach Jakobe mit Gewalt. Ich raube sie mir! Ich zwinge sie durch die Todesdrohung an mich! Der Schrecken macht sie gefügig. Der vergeht auch wieder. Dann kommt, wenn ihr Widerstand gebrochen ist, Besseres für uns beide. Aber sie wird es erkennen: Er soll dein Herr sein! – im Leben oder im Tod . . .
Die bleierne Ruhe dieses Vorsatzes lastete die ganze Nacht und den folgenden Tag auf ihm. Er dachte nicht mehr darüber nach. Das war vom Schicksal über ihn verhängt und mußte sich erfüllen. Nach Tisch ließ er anspannen und fuhr mit dem Nachmittagszug nach Berlin. Diesmal war kein Hauptmann Ansold, keine Offiziere auf dem Bahnsteig. Die Halle war fast verödet und er allein in seinem Abteil erster Klasse. Ohne sich zu rühren, saß er da und schaute hinaus auf die beschneiten Felder und in die langsam niedersinkende Dämmerung, die kurz ehe er die Hauptstadt erreichte, schon in volle Nacht überging. Er suchte zunächst seine Wohnung auf. Die hatte er zuletzt ebenso finster und unwirtlich, wie sie jetzt war, vor dem ersten Tageslicht am Morgen des Zweikampfs verlassen. Alles lag und stand noch herum wie damals. In der Ecke gähnten halbgepackt die Koffer für die Weltumsegelung, auf dem Schreibtisch lag ein angefangener Brief – ein paar Bestimmungen für den Fall, daß er da draußen, im Spandauer Forst, bleiben sollte. Da steckte noch eine verstaubte und vergessene Einladungskarte zu einem Diner im Hause Neerlage – überall halbe Dinge, vereitelte Pläne, die Faust des Schicksals dazwischen: »Nein! Es soll nicht sein!« – Man bekam einen ohnmächtigen Grimm, wenn man das ansah – eine wütende Ungeduld, sich dagegen aufzubäumen! Die Luft war auch so drückend und stickig, die Fenster seit Wochen nicht mehr geöffnet, und Michael, der Diener, hantierte geschäftig hin und her, legte Wäsche in die Schränke, ließ prüfend den Hahn im Badezimmer laufen, als wollte man sich auf Lebenszeit wieder hier einrichten – sein Herr warf einen feindseligen Blick auf den mageren, kleinen Menschen, dann einen langen auf die ganze Wohnung. Und während sein Gesicht plötzlich beinahe feierlich ernst wurde, nahm er rasch im Flur Hut und Mantel und verließ förmlich auf den Fußspitzen, um nicht von dem Diener mit unnützen Fragen behelligt zu werden, das Haus und griff noch einmal, als er in die kalte Nachtluft hinaustrat, forschend mit der Hand in die Tasche und zog sie beruhigt zurück. Er hatte in ihr die Kälte und Härte des Revolvers gespürt.
Er ging langsam, zu Fuß nach Jakobe Ansolds Wohnung. Zuweilen nötigte ihn die Schwäche im Bein, stehen zu bleiben und sich auszuruhen. Er hatte ja auch Zeit. Einen bestimmten Plan besaß er nicht. An ihrer Türe zu klingeln, diesen Gedanken gab er von vornherein auf. Er wurde ja doch nicht vorgelassen. Das war sicher. Er mußte sehen, daß er Jakobe irgendwo unten auf der Straße traf. Jetzt, wo sie ihn bewegungsunfähig wußte – vielleicht auch wußte, daß er fern von Berlin war, ging sie wohl ohne Scheu aus. Und am wahrscheinlichsten in der Abendstunde, in der er sie damals zuerst gesehen. Es war wenigstens eine Hoffnung, daß dem so war. In der Hauptsache – das sagte er sich selbst – war ihr Zusammentreffen eine Sache des Glücks – oder des Unglücks . . .
Er hatte die Kritzingsche Schule erreicht. Das wohlbekannte Fenster im dritten Stockwerk war hell erleuchtet. Sie war daheim. Aber er sah keinen Schatten hinter den Scheiben. Er stand und blickte unverwandt hinauf, genau wie früher, während um ihn her der unansehnlich graue, eintönige Schwall des Straßenlebens flutete, freudlos, farblos, wie dieser schmutzige Großstadtwinterabend selbst, dessen spärliche Schneeflocken um den grellen Schein der Laterne drüben an der Straßenecke tanzten. Er hielt sich absichtlich weit von diesem Lichtkreis fern. Er wollte nicht wieder von oben gesehen werden wie früher, und in dem dunklen Torweg, in den er getreten, war das auch unmöglich. Wohl eine Stunde harrte er da schon aus – er mußte die Zähne zusammenbeißen, so schmerzte ihn die ungewohnte Anstrengung im Bein nach dem wochenlangen Liegen – und noch eine halbe Stunde verging – es war nun schon nach Sieben – aber er blieb und wartete, ob das Fenster oben sich verdunkelte und sie aus dem Hause käme, wenn nicht heute, dann morgen oder übermorgen oder irgend einmal. Er hatte Geduld. Er hatte ja sonst nichts mehr auf der Welt zu tun.
Der Schimmer hinter dem weißen Vorhang war gleichmäßig hell. Schließlich schmerzten ihn die Augen von dem fortgesetzten Schauen nach dem einen leuchtenden Fleck im Dunkeln. Er ließ sie leer die Straße entlang schweifen, um sie ein wenig auszuruhen. Da ging eine blonde, schlanke Dame quer über den Fahrdamm, kaum zehn, fünfzehn Schritte von ihm. Sie hatte den Kopf etwas vornübergebeugt und suchte, ohne nach rechts oder links zu sehen, vor sich die trockenen Stellen im Pflaster. Mit der einen Hand raffte sie ihr schwarzes Kleid. Die andere hielt, neben dem geschlossenen Schirm, einen großen weißen Briefumschlag mit roten Siegeln. Und er brauchte gar nicht erst die Züge unter dem dichten Schleier zu erkennen – er wußte sofort an der Neigung des Nackens, der biegsamen Linie ihrer Gestalt, die sich dunkel und doch deutlich wie ein Schattenriß von dem Licht der Laterne abzeichnete: es war Jakobe Ansold. Und fast zugleich folgerte er blitzschnell und doch mit klarer Überlegung: Sie macht nur einen Gang über die Straße – darum hat sie die Lampe brennen lassen – sie hat einen Brief – einen versiegelten – also einen wichtigen – den bringt sie selbst zur Post – und ich folg' ihr – auf dem Weg dorthin . . .
Sie hatte ihn nicht bemerkt. Sie ging eine kurze Strecke vor ihm her. Er hätte sie jetzt schon einholen können, obwohl sein Bein zusehends lahmer und bewegungsunfähiger wurde. Aber es waren zu viel Leute rings herum. Vor unnützen Gaffern konnte das, was geschehen mußte, nicht geschehen . . .
Er schritt hinter ihr, ohne das Auge von ihr zu lassen. Er hatte gehofft, im entscheidenden Moment in einem Zustand hellsichtiger Kaltblütigkeit, wie etwa beim Duell vor der Waffe des Gegners, zu sein. Aber gerade das Gegenteil trat ein. Eine wahnsinnige, sich immer steigernde Aufregung raubte ihm fast die Besinnung. Seine Hände begannen zu zittern – dann sein ganzer Körper. In seinen Ohren brauste es, als rauschte da fern und dumpf ein Meer. Er mußte sich förmlich dazu zwingen, Atem zu holen, um nicht zu ersticken. Er fühlte: auch die Kehle würde ihm dann den Dienst versagen! . . . Er durfte gar nicht sprechen! Es kam stockend, gebrochen heraus! . . . Er empfand eine Wut gegen sich. Was hieß diese Schwäche? Und wieder flammte, als er Jakobe so dicht und unerreichbar vor sich sah, die rücksichtslose Wildheit des Entschlusses in ihm auf und er folgte ihr, mit allen Kräften gegen den Schmerz der Narbe ankämpfend, auf dem Fuß, während sie in eine Nebenstraße einbog und nun auf dem stillen, schneebedeckten Bürgersteig längs des Landwehrkanals dahinging. Die Fahrrinne war zugefroren. Nur an einigen Stellen waren schwarze Löcher. Das offene Wasser in ihnen rauchte. So kalt war es. Und leer umher. Der Lärm der Straße verstummt. Nur da und dort sah man noch eine undeutliche Gestalt in der Dunkelheit stapfen – ein Spitz bellte vor einem der großen, plumpen, eingeeisten Spreekähne, die als dunkle Massen an der Böschung lagen, und dort drüben leuchtete ein rotes Licht, das Postamt. Auf das ging Jakobe Ansold zu. Unwillkürlich wurden ihre Schritte hier in der Einsamkeit flüchtiger und rascher. Er mußte sich anstrengen, um sie einzuholen, und erreichte sie und war plötzlich an ihrer Seite.
Die Zähne klapperten ihm in seiner sinnlosen Aufregung so, daß er kaum sprechen konnte. Er trat vor sie. Da blieb er stehen und stieß nur das eine Wort heraus: »Jakobe!«
Es war wie der Ruf eines Fremden neben ihm, so heiser und rauh klang ihm seine eigene Stimme im Ohr. Jakobe Ansold war zwei, drei Schritte zurückgeprallt, bis an das Geländer hin, das die Kanalböschung abschloß. An dem suchte sie unwillkürlich, rückwärts tastend, einen Halt für die Hände und starrte ihn an, fast noch ungläubig in ihrem Schrecken. Er sah deutlich die dunkelblauen Augen, die blassen Züge unter dem bereiften Schleier. Und er lachte auf über ihren Zweifel und nickte: »Jawohl! Ich bin es!«
Sie erwiderte nichts. Sie stand unschlüssig, heftig atmend da. In der Ferne ging jemand vorbei. Irgend ein Mann aus dem Volke. Das Schlurfen seiner schweren Schaftstiefel verlor sich im Schnee. Nun war niemand mehr um sie. Sie beide ganz allein, Aug' in Auge.
Und Erich von Wölsick versetzte unvermittelt, barsch – er keuchte es hervor in der Atemnot, die ihm die Brust beklemmte: »Jakobe – ich habe gehört, Sie wollen fort . . .«
Sie blieb, immer noch stumm, im Entsetzen über die jähe Begegnung. Er bemerkte, daß sie heftig zitterte, und fügte zwischen den Zähnen hinzu: »Ich hab' mir sagen lassen, Sie gingen nach Amerika! . . . Ist das wahr?«
Es war eigentlich keine Frage. Es klang schon wie eine leise Drohung. Und nun hob sie den Kopf und legte ihn in den Nacken zurück – wie kannte er schon von ihrem ersten Gespräch her diese Bewegung unbändigen Trotzes oder Stolzes! – und versetzte leise, aber fest: »Was ich auch tue – Ihnen bin ich keine Rechenschaft schuldig!«
»Doch! Ich will es wissen!« Er war ganz dicht vor sie hingetreten. Sie berührten sich fast. Mit geballten Fäusten, kaum mehr seiner Herr, versperrte er ihr den Weg nach vorn, die nach hinten nur das Geländer und das Wasser hatte. Sie war in seiner Macht. Er fühlte es in einem Triumph und einem alle seine Fibern schüttelnden Beben. Beben vor dem, was nun kommen würde. Sie schien es zu ahnen. Sie war totenbleich geworden. Aber sie beherrschte sich und sagte mühsam: »Ich gehe, wohin ich will!«
»Nein!«
»Doch!«
»Ich dulde es nicht! . . . Und Sie tun es ja auch nicht, Jakobe! . . . Sie können es ja gar nicht . . .«
Sie hob schweigend die Hand und zeigte ihm die Aufschrift des Briefes, den sie darin hielt. Es war die Adresse der Vorsteherin eines Ladies-College im Lande Ohio in den Vereinigten Staaten. Und nun sagte sie: »Da ist mein Lebenslauf darin und meine Photographie und meine Papiere. Das Empfehlungsschreiben für mich ist schon voraus. Sowie ich Antwort bekomme, reise ich ab! . . .«
»Sie werden mich nicht hindern, Herr von Wölsick!«
»Doch, so wahr ich hier stehe, Jakobe!« die Stimme versagte ihm. Sie ging in ein heiseres Flüstern über, während er, hart an ihr Ohr gebeugt, in hastigen, abgerissenen Sätzen fortfuhr: »Ich lasse dich einfach nicht gehen – verstehst du – ich lasse dich nicht! Ich lasse überhaupt nicht von dir – da magst du machen, was du willst! . . . Herrgott im Himmel – ich hab' jetzt doch weiß Gott genug gebüßt – sei doch nicht wahnsinnig, Jakobe – mach mich nicht selber wahnsinnig – du weißt jetzt doch, wie ich dich liebe . . . Du hast mich doch gesehen, wie ich da unten gestanden hab' Abend für Abend . . . wie ich den ganzen Tag um dein Haus herumgelaufen bin wie ein Irrsinniger und die Leute mir nachgeschaut haben . . . schau mich doch jetzt an, wie ich ausseh' – ich bin ja nur noch ein Schatten von mir – das reine Gespenst – ganz auseinander und kaput und elend, ganz verrückt wegen dir! . . . Jetzt bin ich soweit, daß ich den Verstand verlier' oder sonst etwas tue, wenn ich dich nicht krieg'! . . . Ich hab's dir gesagt – ich hab's dir geschrieben – ich hab's dir bewiesen auf jede Weise – was soll ich denn noch tun! Du mußt es mir glauben . . .«
»Nein!«
Die junge Frau sagte das halblaut und bestimmt. Sie war sehr erregt. Aber sie zeigte keinerlei Furcht. Sie schaute ihm fest ins Auge. Und er versetzte anscheinend ebenso ruhig, während er doch fühlte, wie ein erlösender, übermächtiger, zu allem befähigender Zorn über ihn kam, das Blut in seinem Hirn sieden machte und ihm die Augen mit roten Nebeln umhüllte, daß er Jakobe nur noch undeutlich, wie von ferne sah: »Das heißt: du willst durchaus, um jeden Preis, dich und mich ins Unglück stürzen! Darum willst du mir nicht glauben, was ein Blinder sehen müßte: Daß es auf der Welt für mich nichts mehr gibt als dich – aber auch nichts mehr – daß ich dich haben muß, daß ich . . .«
»O ja . . . das glaub' ich!« sagte Jakobe.
Er schaute sie fassungslos an. Er traute seinen Ohren nicht. Und sie fuhr fort – in abgebrochenen Worten – sie konnte selber kaum sprechen, so bebten ihr die Lippen: »Nur Liebe . . . Liebe . . . muß man das nicht nennen, wenn man jemanden durchaus . . . um jeden Preis haben will . . . Liebe . . . das Wort entweiht man damit – was Sie fühlen, das ist eine Leidenschaft – und gegen die wehre ich mich . . . gerade jetzt und immer wieder aus Stolz . . .«
Er wollte ihr ins Wort fallen. Aber sie schnitt es ihm ab.
»Als Sie mich haben konnten, da war ich Ihnen gleichgültig! Da warfen Sie das Spielzeug nach ein paar Wochen in die Ecke. Als sie sahen, ich war nicht mehr für Sie da, da erwachte plötzlich die Begier! Nicht in mich haben Sie sich verliebt, sondern in meinen Widerstand. Und wäre der morgen zu Ende, so wäre es übermorgen auch mit mir aus! . . . Ich wäre bald eine zum zweiten Male geschiedene Frau – vielleicht eine nicht einmal zum zweiten Mal geehelichte, sondern Ihnen schon vorher, vom ersten ›Ja‹ aus meinem Munde ab, zur Last – das weiß ich! Ich kenne Sie jetzt, Herr von Wölsick – Gott sei Dank . . .«
Die Tränen des Zorns traten ihm in die Augen. Er konnte nur noch murmeln: »Nein. Das ist alles nicht wahr! . . .« Zu mehr reichten seine Gedanken nicht aus. Sie waren weg. Nur der Wille war wach. Der saß ihm in seinem stürmenden Blut und klopfte ihm im Takt in Herz und Schläfen: »Tu's, tu's! . . . du mußt! . . . du mußt! . . .« Und in der Tasche wußte er die Waffe.
Und Jakobe sagte: »Doch! Es ist wahr! Und es ist auch ganz einfach! In Ihrem ganzen Leben sind Sie nie auf einen ernsthaften Widerstand gestoßen. Daran hatten Sie sich gewöhnt. So sahen Sie die Welt. Nun versagt sich Ihnen auf einmal ein Mensch! Das ist für Sie so unerhört, daß es Sie ganz aus Ihrer bisherigen Stellung zum Leben reißt. Dieser Sturz aus allen Himmeln ist Ihnen unangenehm! Sie setzen alles daran, den früheren Zustand wiederzugewinnen. Sie wollen Ihr Höhenbewußtsein wieder erlangen, dadurch, daß Sie mich demütigen. Denn etwas anderes ist es nicht, wenn man eine Frau zuerst verschmäht und sie dann wieder gnädig heranwinkt . . . Viele kämen ja trotzdem mit Wonne! Ich nicht! Bei mir sind Sie da unseligerweise gerade an die Falsche geraten! Das war ein Mißverständnis, auf beiden Seiten! Das ist nun nicht mehr zu ändern! Leiden Sie nur darunter! . . . Ich leide auch . . .«
In ihm schrie etwas zur Antwort: Blut, Blut! . . . Es schoß ihm durch den Kopf: »Wer bin ich denn? Was tu' ich denn?« und er stammelte und sagte plötzlich wieder – »Sie« – als sähe er in ihr nicht mehr die Geliebte, sondern das Opfer: »Und da wollen Sie nun fort?«
»Und es hält Sie nichts zurück?«
Sie lachte auf. Zum ersten Mal. Es klang hart in seinen Ohren.
»Was denn? Von meinem Mann bin ich getrennt für immer! Meinen Sohn seh' ich nie wieder! Mein Vater hat mich verstoßen! Meine Geschwister und meine Verwandten haben sich von mir losgesagt . . . Sie haben ganze Arbeit mit mir gemacht, Herr von Wölsick, das muß man Ihnen lassen . . .«
Er stöhnte auf. Einen Augenblick flutete eine so bittere Reue und Verstörung bei den Worten der blassen, schönen, jungen Frau über ihn, daß er alles andere vergaß. Und sie setzte mit zuckenden Lippen hinzu: »Ich will versuchen, da drüben neu zu leben! . . . Versuchen . . . mehr kann ich mir nicht versprechen! Aber ich bin tapfer von Natur! . . . Ich denke, ich schlage mich schon noch irgendwie durch!«
»Und was wird aus mir?«
Sie machte eine halbe Schulterbewegung zur Seite, als wollte sie es unternehmen, an ihm vorbei weiter zu gehen. Dabei sagte sie vor sich, in die Nacht hinaus: »Das ist nicht meine Sache! Sehen Sie, wie Sie mit sich fertig werden! Ich trag' an mir selber genug . . .«
Dabei hatte sie sich wirklich zwischen ihm und dem Geländer durchgedrängt. Sie stand frei da. Und so sagte sie jetzt: »Leben Sie wohl, Herr von Wölsick!« und wandte ihm den Rücken.
Im selben Augenblick umklammerte seine Hand den Revolver in der Tasche. Er zog ihn noch nicht hervor. Er rief nur heiser: »Halt!«
Sie blieb stehen und sah noch einmal nach ihm. Und er schluckte ein paarmal, während ihm eine Gänsehaut über den Rücken lief und ein eiskaltes Rieseln durch Mark und Bein. Dann murmelte er: »Jakobe . . . so gehen wir nicht auseinander . . .«
Sie zuckte die Achseln und erwiderte nur: »Es muß so sein!«
»Zum letzten Mal . . .«
Aber sie wandte sich ab.
»Genug . . . genug . . .«
Auch ihre Stimme klang jetzt erstickt. Er merkte, sie fürchtete jetzt selber, ihre Selbstbeherrschung zu verlieren. In der nächsten Sekunde schon würde sie sich in Bewegung setzen, da die einsame Straße entlang, um ihn für immer zu verlassen. Er fand sie vielleicht nie wieder. Nicht einmal die Adresse drüben über dem Meere hatte er sich gemerkt. Nur die kurze Spanne Raum von hier bis zur Brücke, wo man vermummte Menschen sich bewegen sah, und sie war außerhalb von seiner Macht. Und es wirbelte ihm in abgerissenen Gedankenfetzen durch den Kopf: Ich hole die Waffe heraus! Sie wird sie sehen! . . . Sie wird aufschreien! . . . Sie wird fliehen wollen! Ich hole sie ein! . . . Mit ein, zwei Sprüngen . . .
Und da funkelte der Revolver, den er hervorgerissen, im Laternenlicht. Er hob ihn ungestüm – er wollte zielen. Da geschah das ihm Unerhörte! Jakobe Ansold blieb stehen, statt zu flüchten, das Auge auf die nur zwei Fuß von ihr entfernte Mündung der Waffe gerichtet. Sie breitete die Arme aus. Sonst rührte sie sich nicht. Sie atmete nur tief auf und ein seltsamer Schein lief über ihr Gesicht.
»Ziele gut!« sagte sie endlich.
Die Waffe bebte in seiner Hand. Das war ihm unmöglich, sie so gegen sie abzudrücken! . . . Im Zorn konnte man das – gegen den Menschen, der sich einem entzog – nicht gegen den, der da bereit war, wie ein Opferlamm still hielt, zum ersten Male dem Willen des anderen fügsam.
»Jakobe . . .« keuchte er. »Weißt du denn, was ich will . . .«
»Tu's doch!«
Sie ließ die Augen nicht von ihm. In denen war kein Schrecken.
»Ich will dein Leben, Jakobe! . . .«
»Nimm es doch! . . . Es ist das letzte, was du mir noch nicht genommen hast! . . . Dann hast du alles . . .«
»Jakobe . . . es ist mein Ernst . . .«
Sie richtete sich auf.
. . . Glaubst du, ich fürchte mich . . . für mein Leben? . . . das bißchen bettelarmes, elendes, von dir zertretenes Leben, das mir noch übrig ist? . . . Ich bin froh, wenn du mir's abnimmst . . . bring mich nur ganz um . . . ich laufe nicht weg! . . . du siehst ja! . . .«
Langsam ließ er die Waffe sinken. Er vermochte sie nicht mehr auf Jakobe zu richten. Ein wahnsinniger Schmerz umkrallte ihm das Herz. Das hatte er aus ihr gemacht – dem Menschen, den er mehr als sich selber liebte . . . Ihn schauderte vor ihrer Todesbereitschaft. Sie erschien ihm in diesem Augenblick, im Schweigen der Nacht, im weißen Schnee, wie ein Wesen aus einer höheren Welt. Der Revolver entglitt seinen Fingern und fiel in einen Tautümpel am Bürgersteig. Er bückte sich, um ihn aufzuheben und in die Tasche zu stecken. Und im selben Augenblick wandte sich Jakobe stumm von ihm ab und eilte, ohne noch einmal den Kopf zu drehen, mit langen, flüchtigen Schritten die Straße entlang.
Er erhob sich. Er wollte ihr folgen. Aber er hatte an diesem Abend die Narbe am Bein zu sehr überanstrengt. Vier, fünf Schritte spannte und schmerzte sie so, daß er kaum auftreten konnte. Und als es dann etwas besser ging, sah er Jakobe Ansold schon in einiger Entfernung von sich und, wie er auch die Zähne zusammenbiß und die widerwilligen Muskeln anspannte, sie lief so schnell dahin, daß sich der Abstand zwischen ihnen immer mehr vergrößerte. Endlich rief er ihr in seiner blinden Angst sogar nach: »Jakobe, Jakobe!« Sie hörte nicht. Sie wollte nicht hören. Nur ein paar fremde Menschen wandten sich neugierig nach dem Klang seiner schreckerfüllten Stimme. Nun sah er ihre schlanke, gegen das Flockengewirbel des Winterabends ankämpfende Gestalt nur noch ganz undeutlich im Dämmern dahinhasten, er hielt sich hinter ihr – die Seitenstraße hindurch, bis zu der Ecke, um die sie noch vor seinen Augen gebogen war. Aber da leuchteten grell die Lichter der vielen Läden und Laternen, da flutete das Menschengewühl, da lärmte Berlin, und in dem Wirrwarr seiner farbigen Nacht war Jakobe Ansold verschwunden . . .