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Bauer wollte auf sein Zimmer gehen, um sich von dem anstrengenden Tage zu erholen, als ihm im Gange Helfrich entgegenstürzte mit allen Zeichen der Verzweiflung.
»Herr Richter, mir ist etwas Entsetzliches geschehen. Ich bin trostlos.«
»Hat Sie schon für allen Schwindel die gerechte Strafe ereilt?« fragte der Richter. »Ich wollte eben mit Ihnen ins Gericht gehen.«
»Ich bin bestohlen,« wimmerte der Sträfling, »ich bin bestohlen, mein Rosenkranz ist weg.«
»Ja, aber den tragen Sie ja doch immer bei sich.«
»Natürlich, immer. Gestern früh hab' ich ihn noch in der Hand gehalten, und wie ich jetzt am Abend nach ihm greif, weil ich Gott danken wollte für allen Schutz am heutigen Tage, ist er fort – meine Tasche ist leer. Wenn ich nur wüßte, wer ihn gestohlen hat! Vielleicht hat ihn der Schurke, der Kaninchendieb!«
»Aber was soll denn dem Kaninchendieb Ihr Rosenkranz? Der Kerl ist ja der frechste Gottesleugner …«
»Das schon, aber daß der Rosenkranz mir Glück bringt, hat er gewußt, und so einem Halunken genügt es ja, wenn er einem andern das Glück zerstört.«
Man hörte oben im zweiten Stock Türen aufgehen. Frauenköpfe bogen sich über das Geländer.
Helfrich tobte. Er kratzte mit den Fingernägeln über die weißgetünchte Wand.
»Mein Rosenkranz!« wimmerte er. »Daß mir der gestohlen werden könnte, hab' ich nie gedacht! Das war der einzige Besitz, der mir von meinem ganzen Leben, allen meinen Lieben zurückgeblieben war. Solang' ich ihn hatte, fühlte ich mich nicht allein, der gute Geist meiner Mutter hat mich beschützt. Jetzt, ich spür's, jetzt bin ich allem Unglück verfallen.«
»Reden Sie doch nicht solchen Unsinn! Sie haben doch Ihr Schicksal selbst in der Hand.«
»Das glauben Sie, Herr Richter, aber wer einmal entgleist ist, hat kein Vertrauen mehr zu sich selber, und das ist das größte Unglück. Der Rosenkranz war mein Halt, jetzt hab' ich keinen Halt mehr … Aber in ein paar Tagen werd' ich frei, und dann geh' ich hinaus und werde nicht ruhen, ehe ich den Schuften finde, der mich beraubt hat, und wenn ich ihn finde … Wenn ich ihn finde, dann will ich ihn so fürchterlich zurichten, daß ihn der Herrgott selber nimmermehr zusammenleimen kann, das schwör' ich Ihnen, Herr Richter, bei meinem Rosenkranz!«
Keuchend stand Michel, sein Hemd war auseinander gefallen, die rauhe Haut spannte sich über die mächtig bewegte Brust.
Oben schlichen die Horcherinnen fort in ihre Zellen. »Wir sind ja eigentlich auch gefangen,« sagte Fintschi traurig. »Der Unterschied ist nur der, daß die dort unten doch manchmal wieder hinausgehen dürfen in die Welt und frei werden, während wir hier oben lebenslänglich eingesperrt bleiben …«
Helfrich war die letzte Nacht im Gefängnis. Am nächsten Morgen schon sollte er dem Ungewissen entgegenziehen, wenn nicht Fintschi ihm ein rettendes Anbot brachte. Gestern noch hatte sie ihm beim Vorübergehen zugeflüstert: »Es steht alles sehr gut … Sie bekommen die Stellung ohne Zweifel …« Er aber wurde den Zweifel nicht los. Die Baronin hatte sich nicht mehr gezeigt. Hatte ihn nur ausgeholt und dann fallen lassen. Er kannte das. Wieder erfaßte ihn Bitterkeit gegen die Gesellschaft. Warum gab es nicht Menschen, an die er sich vertrauensvoll wenden konnte, wenn er seine Strafe abgebüßt hatte? Man stieß ihn in eine Ordnung, in der alle Türen vor ihm geschlossen waren. Warum hatten die Menschen, die überall Uebergänge, Brücken, Mittelstufen schufen, noch keine Anstalten gegründet, wo jeder, der seine bürgerliche Ehre verloren, die Möglichkeit fand, sie durch seine Aufführung wiederzugewinnen?
Gäbe es schon solche Anstalten und hätte er nach jener dreijährigen Untersuchungshaft Zuflucht in einer derselben gefunden, nie wäre ein Verbrecher aus ihm geworden.
Die einzige Läuterung, die einen Gefallenen retten könnte, haben die Menschen noch nicht gefunden – sann Helfrich vor sich hin –, und wer weiß, ob sie sie jemals finden werden. Sie haben ja gar keine Zeit, an das Los der Freigelassenen zu denken. Milliarden bringen sie spielend zusammen, wenn es im Kriege dem Schutz des Vaterlandes gilt – aber gilt es nicht auch dem Schutz des Vaterlandes im Frieden, wenn man Verbrechen verhindert?
Helfrich starrte durchs Fenster in die Nacht. Der Frühlingswind spielte mit den Büschen, als wollte er alle Träume aus den Blüten locken.
Du lieber Gott …, ich werde die Welt nicht ändern …, sagte sich Helfrich. Die Möglichkeiten dazu stecken in Händen, die sich nicht rühren wollen. Also Schluß mit der Melancholie …, andre Gedanken heran …, vorwärts! … Teufel, war die Walpurga letzthin schön! Dieses schwarze Haar, die weißen Schultern … und verblüht dort so einsam hinter verschlossenen Türen …, die wahnsinnige Tochter neben sich!
Eine wilde Lust packte ihn, die Frau noch einmal zu sehen; er wußte, daß sie die ganze Nacht Licht brannte in ihrem Schlafzimmer, der Tochter wegen.
Wie, wenn ich mich noch einmal hinaufstehle auf die Turmstiege und mich bis ans Fenster vorschleiche? Dann sehe ich sie schlafen …, und die schlafenden Weiber sind die schönsten. Ja, ich versuchs …, ich tu's! Und wenn ich sie so schlafen sehe, dann will ich durch das Fenster steigen, das Licht verlöschen und … ja bei Gott, das will ich …, ich will der tugendhaftesten Frau schlummernden Hauch in finsterer Nacht verspüren. So will ich selbst in Schleppersberg Dieb und Räuber sein!
Er trat ans Fenster; der Mond blickte wie ein gelbes, neugieriges Gesicht auf ihn nieder. Dich mag ich nicht, flüsterte Helfrich, bist meinem Gewerbe verhaßt …
Er schlich an die Tür. Die war verriegelt und versperrt. Da pochte er und läutete dann. War auch sein Werk, daß die Klingeln in Ordnung waren! Nur Gutes geschafft hatte er in den drei Monaten …, nun wollte er in der letzten Nacht sie alle noch einmal höhnen nach altgewohnter Art …
Der Kerkermeister schlürfte herein. »Habt's Ihr geläutet, Michel?«
»Ja, macht's einen Augenblick die Tür auf!« bat der Gefangene. Züngel schob die Riegel zurück.
»Was wollt Ihr denn?«
»Ich glaub', oben am Turm ist nicht alles in Ordnung …, ob sich dort nicht jemand herumschleicht …, man kann nicht vorsichtig genug sein.«
»Freilich, freilich,« stöhnte Züngel verschlafen, »aber ich hab' keine Lust, nachsehen zu gehen.«
»Laßt mir die Tür offen, ich werde aufpassen; wenn ich etwas Unrechtes merke, schleich' ich mich selber hin und fang' den Kerl ab.«
»Wie Ihr wollt … Ihr könnt mich dann auch rufen, wenn es nötig ist. Aber laßt mich lieber schlafen …, ich habe genug Aerger am Tag.« Züngel schlürfte ab.
Helfrich lauschte, bis er des Kerkermeisters Wohnungstür zufallen hörte. Dann drückte Helfrich leise gegen die Pforte und horchte ins Freie … Wie er die Nacht liebte und ihr Geheimnis! Ihm war es wie einem Fisch, der nun in die Fluten tauchte. Leise schlich er hinaus, tastete sich am schmalen Gange hin zu der breiten Freiherrntreppe, die stieg er leise empor bis in den ersten Stock. Hier schien der Mond durchs Fenster und warf einen fahlen Schein auf die leeren, kalten Wände. Helfrich lauschte …, alles war still. Rat und Richter schliefen, nur ein paar Mäuse im Gerichtszimmer wachten und in der Registratur. Man hörte sie knuspern und nagen. Helfrich schlich zu der Glastür, die den schmalen Gang abschloß, der zur Kirche führte, gradaus ins Oratorium. War sie versperrt, dann blieb ihm dieser Weg verschlossen … Er drückte leise die Klinke nieder, und die Tür sprang auf. Er durcheilte den Gang. Schon sah er das Innere der Kirche. Auf den Steinfliesen spielten die Mondesstrahlen, der Altar mit den Heiligen, die sich zu Gott Vater wandten, stand ruhevoll in einem milden Dämmer. Goldlack duftete zum Oratorium empor, und die Rosen blühten purpurrot wie dunkle Blutstropfen.
Helfrich schlich sich durch das Oratorium und erreichte den kleinen Gang, von dem sich die Turmstiege erhob. Nun konnte er ruhig ausschreiten. Niemand hörte ihn mehr … Stellenweise war die Stiege finster; nur wenn die Luken des Turmes das Licht einließen, erhellte sie sich. Begierig sah er nach der Seite, wo Walpurgas Fenster wie ein gelbes Auge hinausflammte in die Nacht. Jetzt hatte er die Linie erreicht, in der es lag …, jetzt starrte er mit angestrengten Augen in das Zimmer, das keine vier Manneslängen von ihm entfernt lag.
Das Fenster war geöffnet. Ein Oellämpchen brannte auf dem Waschtisch. Grüne Schlinggewächse sanken zur Seite eines Schrankes nieder. In der Mitte des Raumes, mit den Kopfenden an die Mauer stoßend, standen zwei Ehebetten. Auf den Kissen des einen schlief die Mutter, ihre weißen Arme ruhten halbentblößt auf der roten Decke. Neben der Mutter, dicht geschmiegt an sie in einer weichen Zärtlichkeit, lag die blödsinnige Tochter.
Helfrich atmete tief. Gält' es einen verwegenen Einbruch um Geld und Gut, wie leicht ließe sich ein Brett von der Turmluke in das Schloßfenster schieben als schwebende Brücke, auf der er keck hinüberschreiten konnte in das fremde Gelaß. Aber ihm war's um ein heimliches Einschleichen zu tun, um ein spielerisches Stehlen, mehr um die Tat als um den Erfolg. Darum tastete er sich die Turmstiege hinab und kroch auf das Dach des Ganges. Kaum zwei Männer hoch über sich sah er jetzt das gelbe Fenster. Er fühlte seine alte erprobte Kraft wieder, seine Glieder gestählt; er kletterte leise an dem Gitterwerk des wilden Weines empor wie eine Katze, bis er den Arm um das Fensterkreuz schlingen konnte. Jetzt reckte er sich behutsam und lauschte ins Zimmer. Was war das? Das Mädchen schlief nicht mehr. Es hob den Kopf, blickte um sich, senkte ihn wieder, griff nach den Händen der Mutter und weckte sie. Frau Walpurga suchte halb im Schlaf das Kind zu verscheuchen, wie man Fliegen wegscheucht, aber es ward ungeduldig, sprang auf, begann zu schreien, ärgerte sich über die Mutter und schlug nach ihr.
Der Lauscher sah sie mit aufgerissenen Augen im langen Nachtgewand dem Bett entsteigen und im dunklen Zimmer verschwinden. Sie kam mit einer Puppe zurück, aber die Tochter warf die Puppe zu Boden, gebärdete sich jetzt wie rasend und stieß ihre furchtbar gellenden Laute aus. Die Mutter suchte ihr erschrocken den Mund zuzuhalten und wollte sie aufs Bett niederpressen, doch das Mädchen setzte sich verzweifelt zur Wehr. Endlich gelang es der Frau, das Kind zu beruhigen; sie streichelte es, liebkoste es und summte es leise in den Schlaf.
Helfrich wartete. Er hatte die Füße fest aufgestützt und den Arm um das Fensterkreuz geschlungen. Sein Herz pochte so stark, wie es nie gepocht, bei keiner seiner frechen Taten. Je kühner ein Ueberfall geplant war, um so eisiger und stiller pflegte es ihm bei der Ausführung zumute zu sein. Aber heute begannen seine Hände zu zittern, die Sekunden schlichen ihm träge hin. Von Viertelstunde zu Viertelstunde schlug die Turmuhr. Jetzt, endlich, schliefen sie wieder, die Mutter wie die Tochter. Jetzt galt es, die waghalsige Tat zu vollbringen …
Helfrich griff mit sicherer Hand nach dem Fensterkreuz, schwang sich empor und schob den Spitzenvorhang zur Seite. Unhörbar glitt er ins Zimmer hinab. Rasch löschte er das Licht. Dann lauschte er. Die Atemzüge von Mutter und Tochter mischten sich ineinander. Helfrich stand vor dem Bette der Mutter. Er fühlte seine ganze Ruhe wiederkehren, denn der Streich war geglückt. Im Bereiche seines Armes lag, was er ersehnte. Er brauchte sich nur zu bücken und den Hauch zu trinken, der den Lippen der Schläferin entströmte. Aber nun zögerte er. Durchs Fenster war er gekommen, durch die Tür wollte er fliehen, um rascher in seine Zelle zu gelangen, wenn sie erwachte. Darum schlich er sich vor und schob den Riegel zurück.
Walpurgas Schmuck schimmerte auf einer Glasschale, ein paar Ringe und Nadeln und daneben die Geldbörse. Was lag ihm daran. Er lachte beinahe über soviel Aufwand an List und Kraft für den Raub eines Hauches. Michel, du wirst Idealist, sagte er sich. Es geht bergab mit dir. Wieder zögerte er. In einer mächtigen Gefühlserregung läßt sich alles tun, aber nach dem Abflauen der Erregung beginnt die Ueberlegung. Der Kuß, den er sich mühelos holen konnte, lockte ihn nicht mehr. Ihn hatte die Gefahr gereizt, in das vor allen Neugierigen so ängstlich gehütete Zimmer zu dringen. Die Gefahr war ihm wichtiger gewesen als der Erfolg. Doch da er sich nun einmal hier eingeschlichen hatte, wollte er aus Pflichtgefühl gegen sich selbst sich nicht um den Lohn des gefährlichen Aufstieges bringen. Er neigte sich leise über Frau Walpurga.
»Laß mich, Cäcilchen, ich will schlafen,« flüsterte sie und hörte, wie die Tür zum Vorhaus rasch geschlossen wurde. Hatte der Lufthauch das Licht verlöscht? Hatte Walpurga geträumt? War es ihr doch, als wären ihre Lippen berührt worden. Hatte Cäcilie sie geküßt? Frau Walpurga stand auf. Sie horchte in den Gang hinaus – da schien es ihr, als ob Schritte die Stiege hinabeilten.
Im Zimmer fing indessen Cäcilie an zu schreien, da sie die Mutter nicht neben sich fand, und begann in der tierischen Angst der Blödsinnigen gegen die Nahende zu toben; sie riß an ihr, sie biß nach ihr, brachte die tief erschrockene Frau zu Falle, warf sich über sie, schlang die dürren Hände um den Hals der Mutter – und mit einem Male durchschallten furchtbare Hilferufe das Haus, stöhnende, röchelnde Rufe, ein heiseres, sterbendes Gurgeln.
Die Waisen in den Nebenzimmern erwachten; sie glaubten, die Blödsinnige stieße die Klagelaute aus, suchten nach Jacken und Röcken, um zu Frau Walpurga zu eilen. Doch ehe ihre zitternden, alten Hände bereit waren, stürmten schon eilende Schritte die Stiege herauf, und als erster stürmte Helfrich mit der Blendlaterne in Walpurgas Zimmer. Ihm bot sich ein entsetzliches Bild. Wie eine wilde Katze hockte Cäcilie auf der Brust der Mutter, schlug die Krallen um ihren Hals, und ihre tierischen Schreie vermischten sich mit dem Röcheln ihres Opfers. Helfrich erfaßte sie mit starkem Griff, sie wandte sich gegen ihn, da brach er sie ins Knie. Ihr Haupt fiel zurück, ihr entblößter magerer Hals wurde sichtbar. Was war das? Helfrich stieß einen Jubelschrei aus. Sein Rosenkranz hing an des Mädchens Brust. Sie also – sie hat ihn bestohlen! Ihm wird es rot vor den Augen, er entreißt ihr sein Besitztum gewaltsam und schleudert sie mit voller Wucht von sich. In diesem Augenblick eilte der Richter herbei mit dem Kerkermeister, hinter ihnen drängten sich die Waisen heran, schauernd vor Neugier und Grauen.
»Ich habe meinen Rosenkranz wieder!« rief Michel und schwang die grüne Kette durch die Luft.
»Was ist es mit dem Mädchen?« fragte der Richter. Er neigte sich über Cäcilie, die mit geschlossenen Augen auf dem Boden lag. Er winkte dem Kerkermeister. Sie hoben sie auf und betteten sie auf das Bett. Bauer legte sein Ohr an die Brust des Mädchens, fühlte ihm den Puls – schüttelte den Kopf – und sagte dann leise: »Helfrich, Sie haben das Kind erschlagen.«
Frau Walpurga sprang empor und warf sich laut schluchzend über die Entseelte. Der Richter stand wie gebannt und starrte auf Frau Walpurga.