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IX.

Die Baronin Keltner war wieder einmal im Bezirksgericht in Schleppersberg vorgeladen. Sie war der Preistreiberei beim Milchverkauf beschuldigt. Es war jedesmal ein Fest für die Bewohner des Schlosses, wenn sie erschien. Sie verfehlte nie, die Waisen im zweiten Stock zu besuchen und mit scharfem Blick aus den ehrwürdigen Glasspinden die feinsten Stücke den durch den hohen Besuch Beglückten liebevoll herauszuschmeicheln. Sie zahlte mehr als ein Händler, aber weniger, als sie beim Händler hätte bezahlen müssen, und genoß außerdem die Freude, zu wissen, daß die Schalen und Kännchen echt waren und woher sie stammten.

Im Verhandlungszimmer machte sie Aufsehen. Die Richter zitterten ihrem Besuch entgegen. Sie war durch die Schärfe ihres Geistes und ihre Schlagfertigkeit bekannt und stand an der Grenze jener Jahre, die den Frauen, auch jenen von männlichem Geiste, äußerst peinlich zu werden beginnen. Mußte sie dann ihr Alter angeben – wie sie lachend sagte, ließ der Richter sie vorerst den Eid leisten, nur die Wahrheit zu sagen –, dann war es dem zartfühlenden Richter fast noch fataler, die Ziffer zu hören, als ihr, sie auszusprechen.

Die Verhandlung war vertagt worden – der Richter entzog sich dadurch am schnellsten der Verlegenheit des Rechtsspruches. Die Baronin hatte die alten Waisen besucht, ein paar wertvolle Gläser und Schalen unter den ehrfurchtsvollen Bücklingen der Greisinnen in die Taschen gesteckt und folgte der Einladung des Rates, seinen Garten zu besichtigen.

Die Herren sogen entzückt das feine Pariser Parfüm ein, das die mit Geschmack gekleidete Frau umgab, und sahen eine Mode an ihr, wie sie in Schleppersberg, wenn auch die Stadtschneiderin auf ein Wiener Modeblatt abonniert war, doch nie erblickt wurde. Sie alle plauderten, leicht und flüssig, obwohl in Schleppersberg nie geplaudert, meist geschwiegen, an Sonntagen gesprochen, im übrigen aber nur geredet wurde. Die Baronin unterhielt sich hier besser als in jedem Festsaale der Großstadt. Sie liebte diese Ländlichkeit, diese Natürlichkeit und das frische Entzücken, mit dem die weibungewohnten Männer sie betrachteten. Hier hatte sie keine Nebenbuhlerin; auf den Parketten der Großstadt hatte ihre Anziehungskraft bedeutend abgenommen. Dort zählte man der Frau die Fältchen nach, die sie wies – hier waren sie ein Reiz mehr, weil sie eine Reife kündeten, die den immer jungen Naturburschen fremd war. Die Baronin hatte noch ihr Blondhaar von einst, gut erhaltene Zähne und lachte gern.

In einem Winkel des Gartens hackte Helfrich und legte einen neuen verschlungenen Weg an. Vor blühenden Fliederbüschen hob sich seine dürre Gestalt braun ab.

»Das ist also Ihr Schützling,« sagte der Gast. »Er scheint wirklich sehr geschickt zu sein …«

»Haben Frau Baronin schon die Terrasse gesehen, die er gemacht hat?« Bauer führte sie freudig zu dem Steinwall, den Helfrich errichtet hatte, wo sonst das Erdreich bergab gerutscht war.

»Wie ein Ingenieur,« bewunderte sie. Nun hob der Rat eine schwere Bank und trug sie spielend über seinem Kopfe auf eine Rasenfläche. Hier setzte er sich mit der Baronin ganz nahe zu Helfrichs Tätigkeit nieder.

»Helfrich …, wann werden Sie uns denn verlassen?« fragte der Rat.

»Am dreizehnten Juni, Herr Gerichtsrat,« sagte Helfrich und hob die hagere Gestalt. »Ich soll am Abend fort …, ich bitte sehr, Herr Gerichtsrat …, wo soll ich dann über die Nacht sein?«

»Ich werde Sie am Morgen entlassen. Haben Sie Ihre Papiere in Ordnung?«

»Tadellos … Die Bezirkshauptmannschaft hat mir schon alles gegeben, auch ein Dienstbuch … Wenn ich nur Arbeit finden könnt'.«

»Er möchte so gern arbeiten,« sagte der Rat zur Baronin.

»Sehen, Herr Gerichtsrat, das hab' ich mir erspart.« Der Häftling holte aus seinem abgelegten Rock eine Hand voll Silber hervor. »Neun Kronen,« sagte er. »Damit komme ich wohl eine Woche aus …, aber was dann? Ich hab' schon solche Angst, Herr Rat … Gestern hab' ich zwanzig Heller gefunden, die die Frau Züngel verloren hat; ich hab' sie ihr gleich zurückgegeben.« Er war stolz auf seine Ehrlichkeit.

Der Rat warf einen flehenden Blick auf die Baronin.

»Ich möcht' ihn ja gern als Gartengehilfen aufnehmen,« seufzte sie. »Aber wenn die Leute erfahren, woher er kommt, werde ich gesteinigt …«

»Davon braucht ja niemand etwas zu wissen …, ich hab' wirklich die Ueberzeugung, daß er sich brav halten wird …, nicht wahr, Helfrich?«

»Wenn die Frau Baronin mir die hohe Gnade erweisen wollte … Man soll den Menschen niemals nach seinem Vorleben beurteilen … Mancher wurde nur zum Schlechten gebracht, weil man kein Vertrauen zu ihm hatte.«

»Ja …, ich will's versuchen … oder ihn irgendwo empfehlen,« sagte die Baronin zögernd.

»Michel, dann sind Sie geborgen!« freute sich der Rat, der ein Vater seiner Sträflinge war.

Sie sah Helfrich voll an. Er hatte doch ein Paar Züge, die auf List und Verschlagenheit deuteten. Etwas Forschendes lag in seinem Gesicht, eine Angst und ein Lauern, Züge eines Verfolgten, der immer auf der Hut sein mußte. Er spürte, daß er ihr mißfiel, und murmelte: »Frau Baronin hätten mich kennen sollen, ehe mich das Schicksal traf.«

»Was hat er denn mit seinem Schicksal?« fragte sie.

»Ja – Frau Baronin – wenn wirklich die Güte haben wollen, ihn in Ihre Dienste zu nehmen – so will ich offen sagen, um was es sich handelt. Ich kann es ja doch erzählen, Michel, was?« fragte der Rat.

Helfrich nickte.

»Der Mann ist aus gutem Hause. Sein Vater war ein hoher Bankbeamter, sein Bruder Oberlandesgerichtsrat. Er ging in Pension, als der dritte Bruder – zum Verbrecher wurde. Frau Baronin werden sich an den schweren, vielfachen Mörder Helfrich kaum noch erinnern …«

»O doch …, doch!« erschrak sie.

»Dieser Wenzel Helfrich ist unserm Manne hier zum traurigen Schicksal geworden. Man vermutete unter seinen Komplicen seinen eigenen Bruder, der hier steht.«

»Drei Jahre und siebenundzwanzig Tage war ich in Untersuchungshaft,« schluchzte Helfrich. »Dann kam meine Unschuld an den Tag, und ich bin freigelassen worden …, aber ich war ein verlorener Mensch …«

»Das ist ja entsetzlich!« sagte die Baronin. »Daß es so etwas gibt!«

»Er war tatsächlich so lange unschuldig in Untersuchungshaft. Nachher hatte er seine Stellung verloren, niemand wollte den Bruder des Mörders aufnehmen, sein Name war überall bekannt. Wo er sich um einen Dienst umsah, wurde er gefragt: »Sind Sie verwandt mit dem …? Und bekam er eine Stelle, erfuhr man es doch in kurzer Zeit, wer er war, und er wurde entlassen. Dadurch ist er auf die Bahn des Verbrechens gekommen.«

»Und ist man einmal auf dieser Bahn, wie soll man zurückfinden, wenn einen alles immer wieder hinausstößt in dasselbe Geleise!«

»Wenn Frau Baronin es mit Helfrich versuchen wollten,« bat auch der Richter.

»Ja …, das heißt …« Der Bruder eines Mörders … Sie hatte gar keine Lust mehr. »Ich will sehen – vorderhand bleibt er ja noch so viele Wochen hier …«

Helfrich wandte sich ab. Sie sah, daß sein rotes Haar in der Mitte des Scheitels eine Tonsur trug, wie wenn er ein Priester wäre. Welch ein Spiel der Natur, dachte sie.

»Ich möchte gern einmal Ihre Gefängnisse sehen,« sagte sie. Der Garten war ihr peinlich geworden.

Der Rat erhob sich bereitwillig. »Der Wunsch kann sogleich erfüllt werden,« sagte er. »Wenn Sie sich für das Bezirksgericht interessieren, dann wollen wir zuerst die Register zeigen. Vielleicht haben Frau Baronin noch keine gesehen?« Die Register waren sein Stolz.

»Nein …, nie …,« sagte sie.

»Sie sind etwas ganz Prachtvolles!« versicherte der Rat. Die Herren führten den Gast ins Schloß, in große graue Räume, in denen bis an die Decke gefüllte Mappen auf Holzgestellen standen. Ein eintöniger, schauervoller Anblick dünkte es der Baronin.

»Ist das nicht überwältigend schön?« rief der Rat und machte den Gast besonders auf das Sterberegister aufmerksam. Durch Jahrzehnte zurück waren sie hier alle eingetragen, die Gestorbenen des Gerichtssprengels.

»Ich verstehe jetzt, warum die Menschen Namen haben,« sagte die Baronin seufzend, »damit sie korrekt ins Sterberegister eingetragen werden können.«

Rat und Richter belehrten sie. Alles wurde eingetragen, alle Verkäufe und Käufe, jedes Stückchen Acker, jeder Feldrain, jedes Haus und jede Hütte hielt das Gericht in strenger Uebersicht. Ein ungeheures Netz spannte sich unsichtbar über das ganze Land und seine Bewohner.

Und da träumten die Menschen von Freiheit! Gebunden waren sie vom ersten bis zum letzten Augenblick, nicht einmal begraben durften sie werden, wenn das Gericht nicht ihren Totenschein sah.

»Nur die Ehen und die Geburten trägt das Gericht nicht ein, das tut der Pfarrer,« sagte der Richter.

»Seele wie Körper, beide sind gefesselt von Gesetzen; die Seele bindet der Priester, den Körper der Richter.«

Der Rat erläuterte: »Doch hat uns das Pfarramt die unehelichen Geburten anzuzeigen. Die Trauungen werden dem Bezirksgerichte nur bekannt, wenn Ehepakte geschlossen werden. Die Buben führt die politische Behörde in Evidenz, welche auch die Mädel alle zehn Jahre zählt.«

»Beim Vieh gilt das Kuhkalb mehr als der Stier,« unterbrach ihn die Baronin.

»Jeder einzelne wird zwanzigmal registriert. Da ist das Pfarramt, das Bezirksgericht, die Bezirkshauptmannschaft, das Steueramt, und für den Mann kommen noch die Verpflichtungen gegen die Militärbehörden dazu.«

»Das Leben ist wirklich nicht so einfach, wie ich glaubte.«

»Ueberaus geistvoll ist der Apparat, der dem einzelnen den Schutz des Staates verbürgt. Doch nun wollen wir, weil Frau Baronin es so wünschten, uns zu den Ausgestoßenen der Gesellschaft begeben. Bitte, Herr Richter, rufen Sie Züngel!«

Der Kerkermeister stand mit dem großen Schlüsselbund ehrerbietig vor dem Eingange zum Erdgeschoß und übernahm die Führung der Herrschaften.

Zum erstenmal sah die Baronin ein Gefängnis. Sie blickte schamhaft in Zellen, in denen wie eingefangene Raubtiere registrierte und numerierte Menschen saßen. Menschen wie sie und ihre Begleiter. Sie hatten ein Bett neben sich, einen irdenen Krug mit Wasser auf dem Tisch, ließen die Arme hängen und schauten die Eintretenden an mit Augen, stumpf aus Langeweile. Auf die Wände waren mit verkohlten Zündhölzchen oder Ofenruß Männerköpfe hingestrichen, Bildnisse von Nonnen und hochausholende Arme mit breiten, zum Schlage bereiten Händen.

In einer Kammer standen drei Frauen und ein junges Mädchen – Bahnhofdiebinnen, sie hatten vier Tage Arrest bekommen. In der nächsten gegenüber zwei alte Männer mit roten, vertrunkenen Gesichtern, vielfach abgestraft. Unter den Jünglingen war ein Bursche, dem die Scham aus den Augen glühte – er weinte fast.

»Ich hab' gehört, daß die Burschen mit den Mädchen durchs Fenster reden und sich besprechen, was sie aussagen wollen,« sagte der Richter zum Kerkermeister. »Man muß verflucht aufpassen. Der eine könnte gleich in die Dunkelzelle gebracht werden.«

Sie wurde geöffnet. Eine Pritsche und ein Vierfußgestell, sonst nichts. »Hier wird er am Tag eingesperrt. Nicht in der Nacht, denn das wär' ihm gleichgültig, da ist alles finster,« sagte Züngel.

Ein Zwingergärtlein, in dem die Gefangenen frische Luft zu schöpfen hatten, und ein finsteres Badezimmer, dessen Wanne Löcher wies. »Die wer' mer amal richten lassen,« meinte der Kerkermeister.

»Weißigen könnt' mer auch lassen,« sagte der Richter.

»Da ist gleich einer, der's kann. Klobota!« Der Mann trat aus der Zelle. Ein brauner Kalmückenschädel, breit und plump.

»Was können Sie?« fragte der Gerichtsrat.

»Alles,« gab der Gefangene zur Antwort und blitzte den Herrn mit Augen an wie mit zwei Dolchen. Er konnte alles, Kaffee kochen und Könige morden, Zimmer weißen und Schweine schlachten.

»Nur die ländlichen Gefängnisse haben solche Genies, solche Alleskönner,« sagte der Rat.

Erschüttert verließ die Baronin den Schloßhof. Sie griff sich an die Stirn. Wie naiv ist die Menschheit! Sie glaubt, daß sie Menschen bessert, indem sie die schlechten zusammensperrt. Das Mittelalter war klüger als die Gegenwart. Umzüge, Spott, Schmach – das war Strafe. Aber an der Strafe liegt es nicht so sehr wie an der Besserung. Und die Gefängnisse, wie sie sind, können nur eine Verrohung bringen.

»Sie sind Schulen für Verbrecher, nichts andres.« Ihre Augen glühten. »Im Mittelalter hatten sie einen Sinn, wenn man sich von lästigen Nebenbuhlern befreien wollte. Aber wie so vieles sind auch die Gefängnisse entartet, sie sind zahm und damit dumm geworden.«

»Die großen Strafanstalten, in denen die Verbrecher jahrzehntelang arbeiten müssen, haben ihre innere Berechtigung,« entgegnete der Rat.

»Ich meine, man sollte jeden jugendlichen Verbrecher mitten in eine Gesellschaft guter Menschen stecken, denen nachzuleben eine Lust wäre. Der Baum muß veredelt werden, dann trägt er die schönsten Früchte. Edelreis und Wildling brauchen einander. Das Edelreis ist zu schwach ohne den Wildling, und die Früchte des Wildlings sind zu bitter, wenn ihm kein Edelreis aufgepfropft wird.«

»Es ist sehr schwer zu erkennen, wo der Verbrecher anfängt,« bemerkte Bauer. »In jedem Menschen steckt ein Stück Verbrecher, und es gibt keinen Verbrecher, in dem nicht ein Stück edlen Menschentums steckte. Ganz gut ist niemand, aber ganz schlecht auch niemand.«

»Mir kommt es vor, als ob die Menschheit an einem Wendepunkt angelangt wäre,« sagte die Baronin nachdenklich. »Die Einrichtungen, die zum Zweck die Entwicklung der Persönlichkeit haben, sind veraltet und verdorben – sie schaden mehr als sie nützen.«

Der Rat stimmte ihr bei. »Die Schule ist mangelhaft, und das Gesetzbuch erfüllt nicht mehr seinen Zweck. Der Bankrott der bisherigen Gesellschaftsordnung scheint durch den Krieg erwiesen. Die Mächte, die die Gesetze diktieren, haben einen unerhörten Stand von Gläubigern bekommen. Und werden die Passiven einmal größer als die Aktiven, dann muß die ganze Gesellschaft mit beschränkter Haftung sich auflösen …«

»Jawohl, die Gläubiger haben entsetzlich überhandgenommen durch den Krieg, die Gesellschaft kann ihre Verpflichtungen nicht mehr einlösen – sie steht vor der Liquidation!« rief der Richter.

»Aber wir alle sind mitschuldig!« sagte die Baronin ernst. »Wir lebten mit geschlossenen Augen. Ich war achtmal in Italien und habe die Welt bereist – doch die Heimat ist mir fremd geblieben …« Sie drückte den Freunden die Hände, blickte zu den vergitterten Fenstern hinüber und stieg in ihren Wagen.

»Eine ungewöhnliche Frau,« sagte der Rat. »Aber nur in der Theorie. Ich fürchte, in der Praxis wird sie unter dem Durchschnitt bleiben – unsern Helfrich läßt sie sitzen …«


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