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Zum drittenmal lief die Botin aus dem Kloster herbei. Der Herr Helfrich möchte doch heute bestimmt kommen, ließ die Frau Oberin sagen. Die Telephonleitung sei zerstört. Helfrich stellte sein Erscheinen in Aussicht. Es tat ihm wohl, seine Arbeit wie eine Gnade zu spenden.
Schon um elf Uhr ging er ins Kloster. Alle Werkzeuge hatte er mitgenommen, so sah er wie ein Einbrecher aus. Er traf Fräulein Fintschi auf der Straße.
»Man möcht' sich bald vor Ihnen fürchten!« rief sie kokett. »Ich geh' auch ins Kloster, da will ich Ihnen den Weg weisen. Sie wissen ja gar nicht, wo das Schwesternhaus ist, denn vor drei Jahren war's noch nicht hier.«
»Da war noch vieles anders – ich bitte Sie, Fräulein, in welcher Sprache spricht man denn bei den Nonnen?«
»Tschechisch natürlich, tschechisch. Sie dürfen sich nicht wundern, wenn Sie mich dort nur tschechisch reden hören. Was soll ich machen? Die Schwestern sind so gut zu mir – sie geben mir oft Essen in dieser schweren Zeit. Die Deutschen, die möchten mich verhungern lassen.«
»Sprechen Sie nur ruhig tschechisch, Fräulein,« sagte Helfrich. »Die Nation ist schließlich eine Magenfrage, und wo man uns zu essen gibt, dort ist unser Vaterland – das hat schon der Lateiner ähnlich gesagt.«
Sie hatte sich ein Leben lang so deutsch gefühlt wie einst ihre Eltern und das Tschechische für die Sprache des bäuerlichen Volkes und der Mägde gehalten. Aber nun war die tschechische Hochflut über das Städtchen gekommen, und Fintschi mußte mit dem Strom schwimmen, wollte sie nicht hilflos untergehen. Da erkannte sie, daß es unter den neuen Tschechen auch gebildete Menschen gab, ja daß sogar einzelne von ihnen überaus gutherzig waren und besser zusammenhielten als die Deutschen.
»Die frühere Frau Oberin hat noch Deutsch gesprochen, aber die jetzige kann kein Wort Deutsch,« erzählte Fintschi.
»Es ist wohl nicht mehr nötig,« meinte Helfrich.
Eine Komödiantenbude stand in einem Straßenwinkel.
»So viele Kinder haben diese Komödianten,« sagte Fintschi ein wenig entrüstet. »Die kriegen jetzt alle das Essen von der Frau Oberin. Die Schwestern tun so viel Gutes. Sie haben auch schwachsinnige Kinder bei sich.«
»Fräulein Fintschi – ich möchte Sie herzlich um etwas bitten.«
»Bitt' schön,« lächelte sie vergilbt.
»Sie haben so viele Bekannte. Vielleicht können Sie irgendwo irgendwen dazu bringen, daß er mich in Stellung nimmt – in zwei Monaten – ich wär' Ihnen ewig dankbar …«
»Will's versuchen – will's gleich versuchen.« Sie war so gern hilfsbereit. »Ich hab' ein paar sehr vornehme Verwandte,« versicherte sie, »ich werde an sie schreiben.«
»Fräulein Fintschi – Sie sind ein Engel!«
Aus dem Kloster klang jammervolles Klavierspiel. »Das Klavier ist schon sehr schlecht,« entschuldigte Fintschi mit leichtem Spott. Sie wußte doch, wie ein guter Flügel zu tönen hatte. Dieser aber sang wie ein gequetschter Kater.
»Ich will doch lieber erst nach Ihnen eintreten.« Fintschi blieb behutsam zurück. Sie hielt auf ihren Ruf.
Helfrich pochte an die versperrte Tür. Ein junges, hübsches Dienstmädchen öffnete, wie eine Nonne ohne Kopfschmuck sah es aus. Als es die Treppe hinauflief, wiegten sich die runden Hüften.
Bald kam die Frau Oberin – eine vornehme Dame; sie schien ein wenig lungenkrank zu sein. Mit viel Würde trug sie die schwarze Tracht, die sie überschlank erscheinen ließ.
»Ich danke Ihnen, daß Sie kommen,« sagte sie, freundlich Helfrichs ehrerbietigen Gruß erwidernd. »Wir sind hier in großer Verlegenheit. Die Telephonleitung ist gestört, auch sonst sind viele Reparaturen nötig, vielleicht können Sie die Sachen in Ordnung bringen.«
Helfrich wiederholte in gewähltem Tschechisch: »Mit tausend Freuden, ich bin Mechaniker.«
»So sagt man hier.« Sie führte ihn durch den langen, sauberen Gang an halbgeöffneten Türen vorbei. Auf weißen Brettern dörrte allerlei Teekraut gegen Husten und Bronchitis. Helfrich erkannte Schafgarbe, Zinnkraut und Spitzwegerich.
Sie traten in den Garten. Da gab es einen finsteren Fichtengang, wie einen Abschluß von der Welt, allerlei Lauben zu innerer Versenkung, eine Madonna von Lourdes in einer Steingrotte, ein Bienenhaus, von tausenden Honigträgerinnen umschwärmt, und ein paar Sandhaufen, auf denen kleine Kinder unter der Aufsicht einer jungen, fröhlichen Nonne sich vergnügten. Auch ein Judenknäblein war hier, aber es stand schweigend abseits; die Oberin strich ihm zärtlich über das Haupt und rief den Kindern zu, daß sie mit ihm spielten.
Staunend sah Helfrich die wohlgepflegten Reihen der Gemüsebeete; Kartoffelstauden standen in säuberlichen Zeilen, ebenso Mais und Kraut.
Ein naher Bauernhof war vom Kloster angekauft worden. In den Stallungen standen Kühe und Schweine.
Die Oberin wies Helfrich die gestörte Telephonleitung, die in das Zimmer der Schafferin mündete. Als die Oberin fortgegangen war und Helfrich den Telephonkasten zerlegte, stand die kräftige Schafferin neugierig bei ihm.
»Ihr habts aber schöne Ferkel,« sagte Helfrich.
»Sind alle schon verkauft, auch die ungeborenen,« erwiderte die Schafferin mit frommem Augenaufschlag. »Aus allen Dörfern kommen die Bäuerinnen und bitten stundenlang um ein Ferkel. Die Frau Oberin ist ja sehr gut und hilft, wo sie kann.«
Das Kloster ist eine Musteranstalt und eine Meisterleistung, sagte sich Michel, als er ein paar gelockerte Schrauben anzog. Daß es Kinder erzieht, ist wohltuend und nützlich, aber daß es neben der Kinderaufzucht auch eine Aufzucht der Schweine betreibt, das ist überklug und gewinnt alle Bauernherzen der Umgebung. Man erringt sich den Boden eines Landes nicht durch parlamentarische Reden, aber durch Taten, durch hilfreichen Beistand.
Ein paar alte Arbeiter schlichen herbei und sahen durch das Fenster Helfrich zu.
»No, was treibt's denn allweil in der großen Welt?« fragte Hrbacz, ein ehemaliger Schieferdecker von verdächtigem Aussehen, der der Klostersuppe zuliebe sich manchmal im Garten beschäftigen ließ.
»No, gut geht's uns halt,« sagte Helfrich, den gemeinen Ton des Mannes sogleich annehmend. »Die Reichen werden immer reicher und die Armen immer ärmer.«
»Das könnt' mich schon auch giften,« sagte Hrbacz. »Umgekehrt müßt' es sein! Die Reichen sollen immer ärmer werden und die Armen endlich reicher! Nachher tät' sich's gut leben. Aber so!« Er schneuzte sich und ging.
Jetzt näherte sich eine Nonne, die ein junges Mädchen führte. Es wiegte sich mit leichtem Summen in den Hüften und hatte eine merkwürdig schlanke Gestalt; sie überbog sich nach hinten. Als das Mädchen sich Helfrich voll zuwandte, erkannte er die blödsinnige Cäcilie aus dem Schloß. Ihr Gesicht war klein und schief verdrückt, die schwarzen Augen flackerten. Mit dem Zeigefinger der Linken preßte sie die Oberlippe in eine Zahnlücke und schob so die Lippenhaut auf und nieder. Das tat sie immerfort, ohne innezuhalten.
»Es geht ihr schon viel besser, seitdem sie bei uns ist,« versicherte die Schafferin. »Gelt, Cäcilie, du bist gern hier?«
Cäcilie glurrte, sah den fremden Mann an, ließ den Zeigefinger sinken, lachte ein breites, zahnlückiges Lachen und begann zu hüpfen.
»Sie freut sich,« sagte die Nonne.
Helfrich schüttelte es. Daß man solch ein Kind leben lassen mußte, während weit im Felde die jüngsten, kräftigsten Männer fielen – o heilige Weltordnung. Die Schwachsinnige meckerte ein paarmal, doch als die Nonne sie wegführen wollte, begann sie laut zu schreien und mit den Händen um sich zu schlagen.
»Lassen Sie sie nur hier,« sagte Helfrich. »Das ist ihr etwas Neues. Das freut sie.«
Und so ließ man sie sich freuen.
Helfrich hatte seine Arbeit vollendet; er rief die Oberin an und hörte sie entzückt erwidern:
»Aber das ist ausgezeichnet …, ich verstehe jedes Wort …, und so klar … Das haben Sie vorzüglich gemacht … Gott lohne es Ihnen … Hallo … hallo! …«
Eine Pause. Helfrich horchte. Nach ein paar Sekunden tönte die Stimme: »Eben ist ein Bote gekommen … und sucht Sie …, Sie sollen sogleich ins Schloß eilen …, es sei sehr wichtig …«
Was Teufel kann geschehen sein, murmelte Helfrich, zog rasch seinen Rock an und eilte den Gartenweg zurück. Vor dem Kloster traf er den Schriftführer Olbrich, der in großer Erregung wartete. Sein dichter Schnurrbart plusterte sich.
»Schnell … schnell! …« rief er, »der Herr Gerichtsrat läßt Sie schon in der ganzen Stadt suchen. Sie müssen rasch in Ihre Zelle gesteckt werden …«
»Was ist denn los?«
»Der Herr Präsident soll zur Visitation mit dem nächsten Zug ankommen, ganz unangesagt und überraschend … Wir wissen es seit einer halben Stunde. Alles ist in Ordnung …, nur Sie fehlen … Also schnell …, schnell ins Loch mit Ihnen!«
Jetzt kam auch Züngel und winkte mit den Schlüsseln … »Schnell … schnell …, der Zug pfeift schon!« Alle drei rannten die Straße hinab dem Schlosse zu.
Die Kerkermeisterin erwartete sie.
»Der Herr Rat ist ganz außer sich … Gott sei Dank, daß Sie da sind … Sie sind doch bei der Visitation … die … die Hauptsache!«
»Der Clou, wollen Sie sagen, die Glanznummer!« rief Helfrich. So stürzte er von der Würde des angesehenen Mechanikers in die Nacht des Häftlings, trat in die Zelle und hörte hinter sich den Kerkermeister rasselnd das Schloß schließen und die Riegel vorschieben.
Laut lachend warf sich Michel auf die Bank. Mit erschrockenen Augen sah der Kaninchendieb ihn an.
»Die Welt ist doch ein göttliches Narrenhaus!« rief Helfrich. »Eine köstliche Komödie!«
Er lauschte auf Schritte und belehrte inzwischen den Gefährten, wie er aufspringen und achtungsvoll dastehen müsse, wenn der Herr Präsident in die Zelle trete, und auf alle Fragen so zu antworten habe, daß es den Herrn Gerichtsrat erfreuen könnte.
Im Hause war ein rastloses Durcheinanderrennen hörbar. Nach einer Stunde rasselte es an der Tür …, mit ihr zugleich sprangen die Häftlinge auf und standen Habtacht.
Es war aber nur der Kerkermeister, der eintrat. »Blinder Lärm,« sagte er. »Der Herr Präsident ist nicht gekommen …, Helfrich raus! Der Herr Landesgerichtsrat erwartet Sie vor dem Garten!«