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Nachmittags ging Helfrich aus. Er durfte sich stets frei bewegen in Schleppersberg. »Wann ich da bin, wird nichts gestohlen,« pflegte er zu sagen. So hielt er gewissermaßen die öffentliche Ordnung aufrecht. Mit Betrübnis sah er, daß die alte, stattliche Steinmauer, die den Vorhof des Schlosses umgeben hatte, weggeräumt war. »Ja, was ist denn da geschehen?« fragte er Frau Züngel.
»Der junge Herr Baron hat die Mauer abtragen lassen, es sollte ein eisernes Gitter herkommen.«
»Schad' um sie – je verfallener so ein Ding ist, um so malerischer schaut es aus. Wir Halbverfallenen sind manchmal auch interessanter als die Untadeligen … Die Richter denken natürlich alle wie der Herr Baron, aber jeder Mensch kann halt nicht ein korrektes eisernes Gitter sein. Viel altes Steinwerk hat man von seinen Vorfahren übernommen …«
Die Kerkermeisterin verstand nicht ganz, was er meinte, das wußte er, denn er hatte ihre Dummheit nie unterschätzt.
Sein erster Weg führte ihn zur Kirche. Er sah zu dem gedeckten Glasgang empor, der das Schloß mit dem Oratorium verband. Hier waren vor Zeiten die alten Reichsfreiherren von Gusnar gewandelt, Ritter und Edelfrauen, die nun in der Gruft neben dem Hochaltar ruhten. Die Pforte war mit Rosen umkränzt.
»Die hat sicher die Fräul'n Fintschi gewunden,« vermutete Michel.
Er trat in das kühle Halbdunkel der Kirche, besprengte sich mit Weihwasser und nahm den Rosenkranz zur Hand, von dem er sich nie trennte und den er doch noch niemals zu Ende gebetet hatte.
Blumen standen auf dem Geländer vor dem Hauptaltar, steckten in alten Karlsbader Sprudelflaschen oder durchsichtigen Einsiedegläsern; abgeschnittene Stengel und zerbrochene, welkende Farnkräuter lagen auf den Steinfliesen. »Das Fräulein Fintschi ist mitten in der Arbeit,« sagte sich Helfrich, und da schlürfte sie schon umher, die zarte, leichtgebückte Gestalt, Pfingstrosen in den Händen, selbst einer leicht angewelkten Pfingstrose gleichend.
»Gelobt sei Jesus Christus,« sagte der Häftling.
»In Ewigkeit Amen,« erwiderte das ältliche Fräulein und machte einen Knix vor dem Altar wie ein regelrechter Kirchendiener. Dann wandte es sich dem Gaste zu. »Jesus, der Herr Helfrich!« Sie nickte freundlich, und doch war es ihr ein wenig unheimlich, den Mann in der Kirche zu sehen. »Wieder einmal hier?«
»Ja – aber voraussichtlich nur kurze Zeit. Ich stehe immer zu Diensten. Wenn Fräulein vielleicht einen Auftrag für mich hätten – wär' mir eine besondere Ehre …«
»Ich werde nachsehen,« versprach sie.
Helfrich hielt auf sie, denn sie war die einzige der Waisen aus dem zweiten Stock, die aus guter Familie stammte, und dann hatte sie auch etwas Rührendes in der Freudigkeit, mit der sie ihre Armut trug, fast tänzelnden Schrittes, und wie sie nun in nahendem Alter die heilige Aufgabe ihres Lebens im Schmücken der Altäre erkannte. Zwei verwachsene, runzlige Weiblein hatte sie zu gleichem Opferwerk als Dienerinnen um sich; sie stiegen auf Leitern und befestigten den Blumenschmuck. »Die Vestalinnen von Schleppersberg« – sagte sich Helfrich. »Haben wieder prachtvolle Blumen hier – und so schön gewunden,« bemerkte er leise und bewundernd.
»Nicht wahr?« flüsterte Fintschi glückstrahlend. Im heiligen Hause durfte nur die Stimme der Orgel laut werden, die der Sänger und des Herrn Dechants, alle übrigen hatten zum Hauch zu ersterben.
»Woher sind denn die Pfingstrosen?« fragte er.
»Sie wissen ja … von überall!«
Er wußte es, wie sie rastlos von Garten zu Garten lief und mit ihren innigen frommen Bitten hier ein paar Blüten und dort etwas »Grienes« erflehte zur Ehre Gottes. »Fräulein sehen sehr gut aus!«
Das hörte sie gern und dankte mit einem zärtlichen, leicht verschämten Augenaufschlag. »Herr Helfrich haben sich auch nicht verändert … Sind lange nicht hier gewesen?«
»Fast drei Jahre …, es war mir in der letzten Zeit nicht möglich, mich hier einzufinden.«
Sie lächelte mit herabgezogener Oberlippe und ließ die Unterzähne sehen. »Auch schon zwei ausgefallen,« dachte er wehmütig.
»Haben Sie schon den Altar der heiligen Jungfrau gesehen?«
»Noch nicht,« erschauerte er. Sie führte ihn ein paar Schritte nach rechts.
»Ach …« entfuhr es ihm. Beglückt griff er nach dem Rosenkranz. In keiner Kathedrale der Welt hatte er so heilige Frömmigkeit gefühlt wie hier. Es war, als tauchte die Heilige in ihrem lichten Mantel, unter dem das blaue Gewand sie umfaltete, aus einer Woge von weißen Sternblumen und blauen Lobelien empor, die sich bis zur Schulterhöhe der Himmlischen erhoben und dann stillstanden, wie aus Ehrfurcht vor ihrer göttlichen Reinheit. Helfrich verrichtete ein Gebet und wandte sich dann wieder zu dem alten Fräulein.
»Darf ich fragen, ob die Frau Baronin Keltner Sie wieder besuchte und Ihnen wieder einige … wertlose Altertümer … abgenommen hat?«
Fintschis Antlitz erglühte in Freude. »O ja!« rief sie, »meine liebste Frau Baronin, das ist doch meine große Gönnerin!«
»Arme Kleine,« dachte er, »du ahnst nicht, wie sehr dich alle ausnützen!« Er schritt zu der Wand, von der im Hochrelief die Standbilder der Reichsfreiherren von Gusnar ihm entgegenblickten. Rittergestalten in schwerer Rüstung, die Hand auf dem Schwertknauf; Frauen mit Halsrüschen, in züchtig geschlossener Kleidung. »Lauter rechtschaffene Burgfrauen und rechtschaffene Ritter,« dachte Helfrich. »Wollte Gott, es gäbe ihrer noch! Aber die beste Sorte ist nur mehr in Grüften zu finden.«
»Schauen Sie sich doch auch unsern Feldmarschall an,« flüsterte Fintschi, die wieder herbeigerutscht kam auf ihren weichen Filzsohlen.
In der Nebenkapelle, unter einem Kuppelbau, ruhte der schwarze Sarkophag des erlauchten Stifters, der zu den höchsten militärischen Ehren im Vaterlande gelangt war. Alle Wahrzeichen seiner Heldentaten kreuzten sich über dem Sarg, Hellebarden, Helme, Lanzen und Schilder, Fahnen und Flinten, und sein stolzes Haupt, mit breit herabhängender Lockenperücke sah auf seinen eigenen Ruhm nieder. Helfrich stellte sich vor den Feldmarschall hin, als stünd' er mit ihm auf du und du. »Wer dich ergründet hätte, mein Herr Kamerad, wie viel du gemordet, geraubt, gebrandschatzt und gestohlen hast auf deinen Siegeszügen – und war doch allzeit dein Gewissen rein, und glaubtest dich in reifer Tugend deinem Herrn ergeben! Mir scheint, wir haben viel Gemeinsames – Raubzüge liegen auch hinter mir – doch gemordet habe ich nie –, und in echter Frömmigkeit bin ich meinem Herrgott ergeben, dessen Ebenbild ich so gut bin – wie du …« Die hagere Häftlingsgestalt reckte sich. »Gegen Feinde hatten wir beide zu kämpfen … Kämpfte ich gegen die deinen, wär' ich ein berühmter Feldherr, gleich dir, – kämpftest du gegen die meinen, wärst du ein Häftling, wie ich. Also auf die Feinde kommt es an, sie sind wichtiger noch für den Wert des Kampfes als der Kämpfer …«
Michel erging sich gern in solchen Selbstgesprächen, die seine Würde erhöhten.
Fräulein Fintschi huschte indessen umher, neigte sich ehrfürchtig vor jedem Altar, sah die Heiligen wie ihre Brüder an, die Jungfrau Maria wie ihre Mutter und den Herrn Christus, ach, wie ihren himmlischen Bräutigam. Betete sie zu Gott, dann trug er die Züge ihres Vaters. So fühlte sich Fintschi beglückt im Gotteshause daheim.
Helfrich schritt ergriffen hinaus. Für ihn war Gott nicht der Lichtquell der irdischen Seligkeit wie für Fintschi; er brauchte Gott, um das erschütterte Gleichgewicht seiner Seele wieder herzustellen.
Im schmalen Berggäßlein sah er das vertraute Pferdetreiben von einst. Die Bauern zogen mit ihren Stuten herbei, und hinter einem Holzverschlage im Hofe eines Gehöftes walteten Hengste ihres Amtes. Kinder liefen in der Gasse umher, niemand fand Anstoß an den natürlichen Vorgängen, die den Reichtum des Landes zu mehren hatten, und manche Bauernmagd zog munter und harmlos mit ihrer Stute hinter den Holzverschlag.
Helfrich ging auf den Ringplatz und trat beim Apotheker ein. Bärmann begrüßte Helfrich, ohne ihm die Hand zu reichen. Er bot dem Gaste ein Gläschen Schnaps, ergriff freudig die Gelegenheit, sich selbst eines einzuschenken, und lächelte mit seinem zahnlosen, pillenkleinen Mund. Helfrich dankte.
»Ich bin Abstinenzler, Herr Apotheker … Nur Wasser – frisches Wasser …«
»Ihr habt halt ein bewegtes Leben – aber wenn Ihr, wie ich, jahraus, jahrein in demselben kleinen Nest sitzen würdet, kämt Ihr auch darauf, daß im Alkohol eine Unterhaltung liegt, eine Zerstreuung, eine Schönheit. Hat man keine andern Genüsse mehr, verlegt man sich auf den Gaumen … Aber jetzt sagt mir, lieber Michel, wie steht's denn mit dem Krieg? Wir siegen alle Tage – aber es geht nicht recht vorwärts. Vor lauter Siegen werden wir noch den Krieg verlieren!«
»Die moderne Kriegführung gibt allen Rätsel auf …«
»Was hält man denn draußen von der neuen Sommerzeit?«
»Kolossal wird sie sein …, man erwartet sich sehr viel von ihr …, Ersparnisse auf allen Gebieten, Hebung der Volkswohlfahrt, eine Genesung in national ökonomischer Hinsicht, Besserung der Finanzen …, kurz eine neue Zeit!«
»Wir haben alle Angst vor ihr. Der Herr Dechant sagt, er bleibt bei seiner alten. Der Lehrer meint, auf der Eisenbahn wird es lauter Zusammenstöße geben. Hier wird man es ja doch nicht so spüren …, nicht wahr? Was macht uns denn die neue Zeit? Wir rechnen hier auch noch nach Elle und Gulden und Kreuzer.«
»Jetzt bleibt Ihnen aber nichts übrig, als sich zu modernisieren. Haben Sie hier noch immer kein Wochenblatt? Sie wollten ja selbst eines herausgeben, Herr Apotheker …«
»Ja freilich …, aber ich bin davon abgekommen, denn es hätt' ja rein in französischer Sprache erscheinen müssen, wie wir es mit allerlei Waren tun … Tragen sie französische Aufschriften …, dann kauft man sie.«
»Ich merkte so etwas … Die Tschechen sind jetzt noch in größerer Mehrheit als ehedem?«
»Ja freilich! Die Deutschen kann man schon an den Fingern abzählen …, der Tschechen aber gibt es wie Sand am Meere … Sie haben doch eine tschechische Ausstellung machen wollen, eine historische sogar, da sollten alle möglichen Schätze beweisen, daß unser Land immer tschechisch gewesen ist. Drüben auf dem Berg standen alle Pavillons und Zelte fertig – aber da kam der Krieg, und jetzt verfallen sie.«
»Einem Mann, der viel in der Welt herumgekommen ist, wie ich, Herr Bärmann, erscheint dieser ganze Kampf recht kleinlich. Wenn zwei, die darauf angewiesen sind, in einem Hause zu leben, sich immerfort bekriegen, müssen sich da nicht die Nachbarn freuen und geht nicht aller Wohlstand von beiden zuschanden?«
»Ihr habt ganz recht – aber mit den Wölfen muß man heulen, darum bin ich mit den Deutschen deutsch und mit den Tschechen tschechisch. Die Geschäfte gehen schlecht – die große Teuerung …«
»Ja, ich spür's an der Kost im Schloß,« meinte Helfrich, »die ist nicht mehr einwandfrei, wir haben fleischlose Tage – und die Butter ist nicht erstklassig.« Da ein erster Besuch sich nicht zu sehr in die Länge spinnen darf, empfahl er sich mit leichter Herablassung und ging.