Max Stirner
Der Einzige und sein Eigentum
Max Stirner

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Die Eigenheit

»Lechzt der Geist nicht nach Freiheit?« – Ach, mein Geist nicht allein, auch mein Leib lechzt stündlich danach! Wenn meine Nase vor der duftenden Schloßküche meinem Gaumen von den schmackhaften Gerichten erzählt, die darin zubereitet werden, da fühlt er bei seinem trockenen Brote ein fürchterliches Schmachten; wenn meine Augen dem schwieligen Rücken von weichen Dunen sagen, auf denen sich's lieblicher liegt, als auf seinem zusammengedrückten Stroh, da faßt ihn ein verbissener Grimm; wenn – doch verfolgen wir die Schmerzen nicht weiter. – Und das nennst Du eine Freiheitssehnsucht? Wovon willst Du denn frei werden? Von deinem Kommißbrot und deinem Strohlager? So wirf es weg! – Damit aber scheint Dir nicht gedient zu sein; Du willst vielmehr die Freiheit haben, köstliche Speisen und schwellende Betten zu genießen. Sollen die Menschen Dir diese »Freiheit« geben –, sollen sie Dir's erlauben? Du hoffst das nicht von ihrer Menschenliebe, weil Du weißt, sie denken alle wie – Du: Jeder ist sich selbst der Nächste! Wie willst Du also zum Genuß jener Speisen und Betten kommen? Doch wohl nicht anders, als wenn Du sie zu deinem Eigentum machst!

Du willst, wenn Du es recht bedenkst, nicht die Freiheit, alle diese schönen Sachen zu haben, denn mit der Freiheit dazu hast Du sie noch nicht; Du willst sie wirklich haben, willst sie dein nennen und als dein Eigentum besitzen. Was nützt Dir auch eine Freiheit, wenn sie nichts einbringt? Und würdest Du von allem frei, so hättest Du eben nichts mehr; denn die Freiheit ist inhaltsleer. Wer sie nicht zu benutzen weiß, für den hat sie keinen Wert, diese unnütze Erlaubnis; wie Ich sie aber benutze, das hängt von meiner Eigenheit ab.

Ich habe gegen die Freiheit nichts einzuwenden, aber Ich wünsche Dir mehr als Freiheit; Du müßtest nicht bloß los sein, was Du nicht willst, Du müßtest auch haben, was Du willst, Du müßtest nicht nur ein »Freier«, Du müßtest auch ein »Eigner« sein.

Frei – wovon? O was läßt sich nicht alles abschütteln! Das Joch der Leibeigenschaft, der Oberherrlichkeit, der Aristokratie und Fürsten, die Herrschaft der Begierden und Leidenschaften; ja selbst die Herrschaft des eigenen Willens, des Eigenwillens, die vollkommenste Selbstverleugnung ist ja nichts als Freiheit, Freiheit nämlich von der Selbstbestimmung, vom eigenen Selbst, und der Drang nach Freiheit als nach etwas Absolutem, jedes Preises Würdigem, brachte Uns um die Eigenheit: er schuf die Selbstverleugnung. Je freier Ich indes werde, desto mehr Zwang türmt sich vor meinen Augen auf, desto ohnmächtiger fühle Ich Mich. Der unfreie Sohn der Wildnis empfindet noch nichts von all' den Schranken, die einen gebildeten Menschen bedrängen: er dünkt sich freier als dieser. In dem Maße als Ich Mir Freiheit erringe, schaffe Ich Mir neue Grenzen und neue Aufgaben; habe Ich die Eisenbahnen erfunden, so fühle Ich Mich wieder schwach, weil Ich noch nicht, dem Vogel gleich, die Lüfte durchsegeln kann, und habe Ich ein Problem, dessen Dunkelheit meinen Geist beängstigte, gelöst, so erwarten Mich schon unzählige andere, deren Rätselhaftigkeit meinen Fortschritt hemmt, meinen freien Blick verdüstert, die Schranken meiner Freiheit Mir schmerzlich fühlbar macht. »Nun ihr frei worden seid von der Sünde, seid ihr Knechte worden der Gerechtigkeit.« Die Republikaner in ihrer weiten Freiheit, werden sie nicht Knechte des Gesetzes? Wie sehnten sich allezeit die wahren Christenherzen, »frei zu werden«, wie schmachteten sie, von den »Banden dieses Erdenlebens« sich erlöst zu sehen; sie schauten nach dem Lande der Freiheit aus. (»Das Jerusalem, das droben ist, das ist die Freie, die ist unser aller Mutter.« Gal. 4, 26.)

Frei sein von etwas – heißt nur: ledig oder los sein. »Er ist frei von Kopfweh« ist gleich mit: er ist es los. »Er ist frei von diesem Vorurteil« ist gleich mit: er hat es nie gefaßt oder er ist es los geworden. Im »los« vollenden Wir die vom Christentum empfohlene Freiheit, im sündlos, gottlos, sittenlos usw.

Freiheit ist die Lehre des Christentums. »Ihr, lieben Brüder, seid zur Freiheit berufen.« »Also redet und also tut, als die da sollen durchs Gesetz der Freiheit gerichtet werden.«

Müssen Wir etwa, weil die Freiheit als ein christliches Ideal sich verrät, sie aufgeben? Nein, nichts soll verlorengehen, auch die Freiheit nicht; aber sie soll unser eigen werden, und das kann sie in der Form der Freiheit nicht.

Welch ein Unterschied zwischen Freiheit und Eigenheit! Gar vieles kann man loswerden, Alles wird man doch nicht los; von Vielem wird man frei, von Allem nicht. Innerlich kann man trotz des Zustandes der Sklaverei frei sein, obwohl auch wieder nur von Allerlei, nicht von Allem; aber von der Peitsche, der gebieterischen Laune usw. des Herrn wird man als Sklave nicht frei. »Freiheit lebt nur in dem Reich der Träume!« Dagegen Eigenheit, das ist mein ganzes Wesen und Dasein, das bin Ich selbst. Frei bin Ich von Dem, was Ich los bin, Eigner von dem, was Ich in meiner Macht habe, oder dessen Ich mächtig bin. Mein eigen bin Ich jederzeit und unter allen Umständen, wenn Ich Mich zu haben verstehe und nicht an Andere wegwerfe. Das Freisein kann Ich nicht wahrhaft wollen, weil Ich's nicht machen, nicht erschaffen kann: Ich kann es nur wünschen und darnach – trachten, denn es bleibt ein Ideal, ein Spuk. Die Fesseln der Wirklichkeit schneiden jeden Augenblick in mein Fleisch die schärfsten Striemen. Mein eigen aber bleibe Ich. Einem Gebieter leibeigen hingegeben, denke Ich nur an Mich und meinen Vorteil; seine Schläge treffen Mich zwar: Ich bin nicht davon frei; aber Ich erdulde sie nur zu meinem Nutzen, etwa um ihn durch den Schein der Geduld zu täuschen und sicher zu machen, oder auch um nicht durch Widersetzlichkeit Ärgeres Mir zuzuziehen. Da Ich aber Mich und meinen Eigennutz im Auge behalte, so fasse Ich die nächste, gute Gelegenheit beim Schopfe, den Sklavenbesitzer zu zertreten. Daß Ich dann von ihm und seiner Peitsche frei werde, das ist nur die Folge meines vorangegangenen Egoismus. Man sagt hier vielleicht, Ich sei auch im Stande der Sklaverei »frei« gewesen, nämlich »an sich« oder »innerlich«. Allein »an sich frei« ist nicht »wirklich frei« und »innerlich« nicht »äußerlich«. Eigen hingegen, mein eigen war Ich ganz und gar, innerlich und äußerlich. Von den Folterqualen und Geißelhieben ist mein Leib nicht »frei« unter der Herrschaft eines grausamen Gebieters; aber meine Knochen sind es, welche unter der Tortur ächzen, meine Fibern zucken unter den Schlägen, und Ich ächze, weil mein Leib ächzt. Daß Ich seufze und erzittere, beweist, daß Ich noch bei Mir, daß Ich noch mein eigen bin. Mein Bein ist nicht »frei« von dem Prügel des Herrn, aber es ist mein Bein und ist unentreißbar. Er reiße Mir's aus und sehe zu, ob er noch mein Bein hat! Nichts behält er in der Hand als den – Leichnam meines Beines, der so wenig mein Bein ist, als ein toter Hund noch ein Hund ist: ein Hund hat ein pulsierendes Herz, ein sogenannter toter Hund hat keines und ist darum kein Hund mehr.

Meint man, daß ein Sklave doch innerlich frei sein könne, so sagt man in der Tat nur das Unbestreitbarste und Trivialste. Denn wer wird wohl behaupten, daß irgend ein Mensch ohne alle Freiheit sei? Wenn Ich ein Augendiener bin, kann Ich darum nicht von unzähligen Dingen frei sein, z. B. vom Glauben an Zeus, von Ruhmbegierde u. dergl.? Warum also sollte ein gepeitschter Sklave nicht auch innerlich frei sein können von unchristlicher Gesinnung, von Feindeshaß usw.? Er ist dann eben »christlich frei«, ist das Unchristliche los; aber ist er absolut frei, von Allem frei, z. B. vom christlichen Wahne oder vom körperlichen Schmerze usw.?

Inzwischen scheint dies Alles mehr gegen Namen als gegen die Sache gesagt zu sein. Ist aber der Name gleichgültig, und hat nicht stets ein Wort, ein Schibboleth, die Menschen begeistert und – betört? Doch zwischen der Freiheit und der Eigenheit liegt auch noch eine tiefere Kluft, als die bloße Wortdifferenz.

Alle Welt verlangt nach Freiheit, Alle sehnen ihr Reich herbei. O bezaubernd schöner Traum von einem blühenden »Reiche der Freiheit«, einem »freien Menschengeschlechte«! – wer hätte ihn nicht geträumt? So sollen die Menschen frei werden, ganz frei, von allem Zwange frei! Von allem Zwange, wirklich von allem? Sollen sie sich selbst niemals mehr Zwang antun? »Ach ja, das wohl, das ist ja gar kein Zwang!« Nun, so sollen sie doch frei werden vom religiösen Glauben, von den strengen Pflichten der Sittlichkeit, von der Unerbittlichkeit des Gesetzes, von – »Welch fürchterliches Mißverständnis!« Nun, wovon sollen sie denn frei werden, und wovon nicht?

Der liebliche Traum ist zerronnen, erwacht reibt man die halbgeöffneten Augen und starrt den prosaischen Frager an. »Wovon die Menschen frei werden sollen?« – Von der Blindgläubigkeit, ruft der Eine. Ei was, schreit ein Anderer, aller Glaube ist Blindgläubigkeit; sie müssen von allem Glauben frei werden. Nein, nein, um Gotteswillen, – fährt der Erste wieder los, – werft nicht allen Glauben von Euch, sonst bricht die Macht der Brutalität herein. Wir müssen, läßt sich ein Dritter vernehmen, die Republik haben und von allen gebietenden Herren – frei werden. Damit ist nichts geholfen, sagt ein Vierter; Wir kriegen dann nur einen neuen Herrn, eine »herrschende Majorität«; vielmehr laßt Uns von der schrecklichen Ungleichheit Uns befreien. – O unselige Gleichheit, höre Ich dein pöbelhaftes Gebrüll schon wieder! Wie hatte Ich so schön noch eben von einem Paradiese der Freiheit geträumt, und welche – Frechheit und Zügellosigkeit erhebt jetzt ihr wildes Geschrei! So klagt der erste und rafft sich auf, um das Schwert zu ergreifen gegen die »maßlose Freiheit«. Bald hören Wir nichts mehr als das Schwertergeklirr der uneinigen Freiheitsträumer.

Der Freiheitsdrang lief zu jeder Zeit auf das Verlangen nach einer bestimmten Freiheit hinaus, z. B. Glaubensfreiheit, d. h. der gläubige Mensch wollte frei und unabhängig werden; wovon? etwa vom Glauben? nein! sondern von den Glaubensinquisitoren. So jetzt »politische oder bürgerliche« Freiheit. Der Bürger will frei werden, nicht vom Bürgertum, sondern von Beamtenherrschaft, Fürstenwillkür u. dergl. Fürst Metternich sagte einmal, er habe »einen Weg gefunden, der für alle Zukunft auf den Pfad der echten Freiheit zu leiten geeignet sei.« Der Graf von Provence lief gerade zu der Zeit aus Frankreich fort, als es sich dazu anließ, das »Reich der Freiheit« zu stiften, und sagte: »Meine Gefangenschaft war Mir unerträglich geworden, ich hatte nur Eine Leidenschaft: das Verlangen nach – Freiheit, Ich dachte nur an sie.«

Der Drang nach einer bestimmten Freiheit schließt stets die Absicht auf eine neue Herrschaft ein, wie denn die Revolution zwar »ihren Verteidigern das erhebende Gefühl geben konnte, daß sie für die Freiheit kämpften«, in Wahrheit aber nur, weil man auf eine bestimmte Freiheit, darum auf eine neue Herrschaft, die »Herrschaft des Gesetzes« ausging.

Freiheit wollt Ihr Alle, Ihr wollt die Freiheit. Warum schachert Ihr denn um ein Mehr oder Weniger? Die Freiheit kann nur die ganze Freiheit sein; ein Stück Freiheit ist nicht die Freiheit. Ihr verzweifelt daran, daß die ganze Freiheit, die Freiheit von Allem, zu gewinnen sei, ja Ihr haltet's für Wahnsinn, sie auch nur zu wünschen? – Nun, so laßt ab, dem Phantome nachzujagen, und verwendet Eure Mühe auf etwas Besseres, als auf das – Unerreichbare.

»Ja es gibt aber nichts Besseres als die Freiheit!«

Was habt Ihr denn, wenn Ihr die Freiheit habt, nämlich – denn von Euren brockenweisen Freiheitsstückchen will Ich hier nicht reden – die vollkommene Freiheit? Dann seid Ihr Alles, Alles los, was Euch geniert, und es gäbe wohl nichts, was Euch nicht einmal im Leben genierte und unbequem fiele. Und um weswillen wolltet Ihr's denn los sein? Doch wohl um Euretwillen, darum, weil es Euch im Wege ist! Wäre Euch aber etwas nicht unbequem, sondern im Gegenteil ganz recht, z. B. der, wenn auch sanft, doch unwiderstehlich gebietende Blick eurer Geliebten – da würdet Ihr nicht ihn los und davon frei sein wollen. Warum nicht? Wieder um Euretwillen! Also Euch nehmt Ihr zum Maße und Richter über Alles. Ihr laßt die Freiheit gerne laufen, wenn Euch die Unfreiheit, der »süße Liebes dienst«, behagt; und Ihr holt Euch eure Freiheit gelegentlich wieder, wenn sie Euch besser zu behagen anfängt, vorausgesetzt nämlich, worauf es an dieser Stelle nicht ankommt, daß Ihr Euch nicht vor einer solchen Repeal der Union aus andern (etwa religiösen) Gründen fürchtet.

Warum wollt Ihr nun den Mut nicht fassen, Euch wirklich ganz und gar zum Mittelpunkt und zur Hauptsache zu machen? Warum nach der Freiheit schnappen, eurem Traume? Seid Ihr euer Traum? Fragt nicht erst bei euren Träumen, euren Vorstellungen, euren Gedanken an, denn das ist Alles »hohle Theorie«. Fragt euch und fragt nach Euch – das ist praktisch, und Ihr wollt ja gerne »praktisch« sein. Da lauscht aber der Eine, was wohl sein Gott (natürlich das, was er sich bei dem Namen Gott denkt, ist sein Gott) dazu sagen wird, und ein Anderer, was wohl sein sittliches Gefühl, sein Gewissen, sein Pflichtgefühl, darüber bestimme, und ein Dritter berechnet, was die Leute davon denken werden, – und wenn so Jeder seinen Herrgott (die Leute sind ein ebenso guter, ja noch kompakterer Herrgott als der jenseitige und eingebildete: vox populi, vox dei) gefragt hat, dann schickt er sich in den Willen seines Herrn und hört gar nicht mehr darauf, was Er selber gerne sagen und beschließen möchte.

Darum wendet Euch lieber an Euch als an eure Götter oder Götzen. Bringt aus Euch heraus, was in Euch steckt, bringt's zu Tage, bringt Euch zur Offenbarung.

Wie Einer nur aus sich handelt und nach nichts weiter fragt, das haben die Christen in »Gott« zur Vorstellung gebracht. Er handelt, »wie's ihm gefällt«. Und der törichte Mensch, der's geradeso machen könnte, soll statt dessen handeln, wie's »Gott gefällt«. – Sagt man, auch Gott verfahre nach ewigen Gesetzen, so paßt auch das auf Mich, da auch Ich nicht aus meiner Haut fahren kann, sondern an meiner ganzen Natur, d. h. an Mir mein Gesetz habe.

Aber man braucht Euch nur an Euch zu mahnen, um Euch gleich zur Verzweiflung zu bringen. »Was bin Ich?« so fragt sich Jeder von Euch. Ein Abgrund von regel- und gesetzlosen Trieben, Begierden, Wünschen, Leidenschaften, ein Chaos ohne Licht und Leitstern! Wie soll Ich, wenn Ich ohne Rücksicht auf Gottes Gebote oder auf die Pflichten, welche die Moral vorschreibt, ohne Rücksicht auf die Stimme der Vernunft, welche im Lauf der Geschichte nach bitteren Erfahrungen das Beste und Vernünftigste zum Gesetze erhoben hat, lediglich Mich frage, eine richtige Antwort erhalten? Meine Leidenschaft würde Mir gerade zum Unsinnigsten raten. – So hält Jeder sich selbst für den – Teufel; denn hielte er sich, sofern er um Religion usw. unbekümmert ist, nur für ein Tier, so fände er leicht, daß das Tier, das doch nur seinem Antriebe (gleichsam seinem Rate) folgt, sich nicht zum »Unsinnigsten« rät und treibt, sondern sehr richtige Schritte tut. Allein die Gewohnheit religiöser Denkungsart hat unsern Geist so arg befangen, daß Wir vor Uns in unserer Nacktheit und Natürlichkeit – erschrecken; sie hat Uns so erniedrigt, daß Wir Uns für erbsündlich, für geborene Teufel halten. Natürlich fällt Euch sogleich ein, daß Euer Beruf erheische, das »Gute« zu tun, das Sittliche, das Rechte. Wie kann nun, wenn Ihr Euch fragt, was zu tun sei, die rechte Stimme aus Euch heraufschallen, die Stimme, welche den Weg des Guten, Rechten, Wahren usw. zeigt? Wie stimmt Gott und Belial?

Was würdet Ihr aber denken, wenn Euch Einer erwiderte: daß man auf Gott, Gewissen, Pflichten, Gesetze usw. hören solle, das seien Flausen, mit denen man Euch Kopf und Herz vollgepfropft und Euch verrückt gemacht habe? Und wenn er Euch früge, woher Ihr's denn so sicher wißt, daß die Naturstimme eine Verführerin sei? Und wenn er Euch gar zumutete, die Sache umzukehren, und geradezu die Gottes- und Gewissensstimme für Teufelswerk zu halten? Solche heillose Menschen gibt's; wie werdet Ihr mit ihnen fertig werden? Auf eure Pfaffen, Eltern und guten Menschen könnt Ihr Euch nicht berufen, denn die werden eben als eure Verführer von jenen bezeichnet, als die wahren Jugendverführer und Jugendverderber, die das Unkraut der Selbstverachtung und Gottesverehrung emsig aussäen, die jungen Herzen verschlämmen und die jungen Köpfe verdummen.

Jene nun fahren aber fort und fragen: Um weswillen bekümmert Ihr Euch um Gottes und die andern Gebote? Ihr meint doch nicht, daß dies bloß aus Gefälligkeit gegen Gott geschehe? Nein, Ihr tut's wieder – um Euretwillen. – Also auch hier seid Ihr die Hauptsache und Jeder muß sich sagen: Ich bin Mir Alles und ich tue Alles Meinethalben. Würde Euch's jemals klar, daß Euch der Gott, die Gebote usw. nur schaden, daß sie Euch verkürzen und verderben: gewiß, Ihr würfet sie von Euch, gerade wie die Christen einst den Apollo oder die Minerva oder die heidnische Moral verdammten. Sie stellten freilich Christus und hernach die Maria, sowie eine christliche Moral an die Stelle; aber sie taten das auch um ihres Seelenheils willen, also aus Egoismus oder Eigenheit.

Und dieser Egoismus, diese Eigenheit war's, durch die sie die alte Götterwelt los und von ihr frei wurden. Die Eigenheit erschuf eine neue Freiheit; denn die Eigenheit ist die Schöpferin von Allem, wie schon längst die Genialität (eine bestimmte Eigenheit), die stets Originalität ist, als die Schöpferin neuer weltgeschichtlicher Produktionen angesehen wird.

Soll's einmal doch »die Freiheit« gelten mit eurem Streben, nun so erschöpft ihre Forderungen. Wer soll denn frei werden? Du, Ich, Wir. Wovon frei? Von Allem, was nicht Du, nicht Ich, nicht Wir ist. Ich also bin der Kern, der aus allen Verhüllungen erlöst, von allen beengenden Schalen – befreit werden soll. Was bleibt übrig, wenn Ich von Allem, was Ich nicht bin, befreit worden? Nur Ich und nichts als Ich. Diesem Ich selber aber hat die Freiheit nichts zu bieten. Was nun weiter geschehen soll, nachdem Ich frei geworden, darüber schweigt die Freiheit, wie unsere Regierungen den Gefangenen nach abgelaufener Haftzeit nur entlassen und in die Verlassenheit hinausstoßen.

Warum nun, wenn die Freiheit doch dem Ich zu Liebe erstrebt wird, warum nun nicht das Ich selber zu Anfang, Mitte und Ende wählen? Bin Ich nicht mehr wert als die Freiheit? Bin Ich es nicht, der Ich Mich frei mache, bin Ich nicht das Erste? Auch unfrei, auch in tausend Fesseln geschlagen, bin Ich doch, und Ich bin nicht etwa erst zukünftig und auf Hoffnung vorhanden, wie die Freiheit, sondern Ich bin auch als Verworfenster der Sklaven – gegenwärtig.

Bedenkt das wohl und entscheidet Euch, ob Ihr auf eure Fahne den Traum der »Freiheit« oder den Entschluß des »Egoismus«, der »Eigenheit« stecken wollt. Die »Freiheit« weckt euren Grimm gegen Alles, was Ihr nicht seid; der »Egoismus« ruft Euch zur Freude über Euch selbst, zum Selbstgenusse; die »Freiheit« ist und bleibt eine Sehnsucht, ein romantischer Klagelaut, eine christliche Hoffnung auf Jenseitigkeit und Zukunft; die »Eigenheit« ist eine Wirklichkeit, die von selbst gerade soviel Unfreiheit beseitigt, als Euch hinderlich den eigenen Weg versperrt. Von dem, was Euch nicht stört, werdet Ihr Euch nicht lossagen wollen, und wenn es Euch zu stören anfängt, nun so wißt Ihr, daß »Ihr Euch mehr gehorchen müsset, denn den Menschen!«

Die Freiheit lehrt nur: Macht Euch los, entledigt Euch alles Lästigen; sie lehrt Euch nicht, wer Ihr selbst seid. Los, los! so tönt ihr Losungswort, und Ihr, begierig ihrem Rufe folgend, werdet Euch selbst sogar los, »verleugnet Euch selbst«. Die Eigenheit aber ruft Euch zu Euch selbst zurück, sie spricht: »Komm zu Dir!« Unter der Ägide der Freiheit werdet Ihr Vielerlei los, aber Neues beklemmt Euch wieder: »den Bösen seid Ihr los, das Böse ist geblieben«. Als Eigene seid Ihr wirklich Alles los, und was Euch anhaftet, das habt Ihr angenommen, das ist eure Wahl und euer Belieben. Der Eigene ist der geborene Freie, der Freie von Haus aus; der Freie dagegen nur der Freiheitssüchtige, der Träumer und Schwärmer.

Jener ist ursprünglich frei, weil er nichts als sich anerkennt; er braucht sich nicht erst zu befreien, weil er von vornherein Alles außer sich verwirft, weil er nichts mehr schätzt als sich, nichts höher anschlägt, kurz, weil er von sich ausgeht und »zu sich kommt«. Befangen im kindlichen Respekt, arbeitet er gleichwohl schon daran, aus dieser Befangenheit sich zu »befreien«. Die Eigenheit arbeitet in dem kleinen Egoisten und verschafft ihm die begehrte – Freiheit.

Jahrtausende der Kultur haben Euch verdunkelt, was Ihr seid, haben Euch glauben gemacht, Ihr seiet keine Egoisten, sondern zu Idealisten (»guten Menschen«) berufen. Schüttelt das ab! Suchet nicht die Freiheit, die Euch gerade um Euch selbst bringt, in der »Selbstverleugnung«, sondern suchet Euch Selbst, werdet Egoisten, werde jeder von euch ein allmächtiges Ich. Oder deutlicher: Erkennet Euch nur wieder, erkennet nur, was Ihr wirklich seid, und laßt eure heuchlerischen Bestrebungen fahren, eure törichte Sucht, etwas Anderes zu sein, als Ihr seid. Heuchlerisch nenne Ich jene, weil Ihr doch alle diese Jahrtausende Egoisten geblieben seid, aber schlafende, sich selbst betrügende, verrückte Egoisten, Ihr Heautontimorumenen, Ihr Selbstpeiniger. Noch niemals hat eine Religion der Versprechungen und »Verheißungen« entraten können, mögen sie aufs Jenseits oder Diesseits verweisen (»langes Leben« usw.); denn lohnsüchtig ist der Mensch, und »umsonst« tut er nichts. Aber jenes »das Gute um des Guten willen tun« ohne Aussicht auf Belohnung? Als ob nicht auch hier in der Befriedigung, die es gewähren soll, der Lohn enthalten wäre. Also auch die Religion ist auf unsern Egoismus begründet, und sie – beutet ihn aus; berechnet auf unsere Begierden, erstickt sie viele andere um Einer willen. Dies gibt denn die Erscheinung des betrogenen Egoismus, wo Ich nicht Mich befriedige, sondern eine meiner Begierden, z. B. den Glückseligkeitstrieb. Die Religion verspricht Mir das – »höchste Gut«; dies zu gewinnen achte Ich auf keine andere meiner Begierden mehr und sättige sie nicht. – All euer Tun und Treiben ist uneingestandener, heimlicher, verdeckter und versteckter Egoismus. Aber weil Egoismus, den Ihr Euch nicht gestehen wollt, den Ihr Euch selbst verheimlicht, also nicht offenbarer und offenkundiger, mithin unbewußter Egoismus, darum ist er nicht Egoismus, sondern Knechtschaft, Dienst, Selbstverleugnung, Ihr seid Egoisten und Ihr seid es nicht, indem Ihr den Egoismus verleugnet. Wo Ihr's am meisten zu sein scheint, da habt Ihr dem Worte »Egoist« – Abscheu und Verachtung zugezogen.

Meine Freiheit gegen die Welt sichere Ich in dem Grade, als Ich Mir die Welt zu eigen mache, d. h. sie für Mich »gewinne und einnehme«, sei es durch welche Gewalt es wolle, durch die der Überredung, der Bitte, der kategorischen Forderung, ja selbst durch Heuchelei, Betrug usw.; denn die Mittel, welche Ich dazu gebrauche, richten sich nach dem, was Ich bin. Bin Ich schwach, so habe Ich nur schwache Mittel, wie die genannten, die aber dennoch für ein ziemlich Teil Welt gut genug sind. Ohnehin sehen Betrug, Heuchelei, Lüge schlimmer aus als sie sind. Wer hätte nicht die Polizei, das Gesetz betrogen, wer hätte nicht vor dem begegnenden Schergen schnell die Miene ehrsamer Loyalität vorgenommen, um eine etwa begangene Ungesetzlichkeit zu verbergen usw.? Wer es nicht getan hat, der hat sich eben Gewalt antun lassen: er war ein Schwächling aus – Gewissen. Meine Freiheit weiß ich schon dadurch geschmälert, daß Ich an einem Andern (sei dies Andere ein Willenloses, wie ein Fels, oder ein Wollendes, wie eine Regierung, ein Einzelner usw.) meinen Willen nicht durchsetzen kann; meine Eigenheit verleugne Ich, wenn Ich Mich selbst – Angesichts des Andern – aufgebe, d. h. nachgebe, abstehe, Mich ergebe, also durch Ergebenheit, Ergebung. Denn ein Anderes ist es, wenn Ich mein bisheriges Verfahren aufgebe, weil es nicht zum Ziele führt, also ablenke von einem falschen Wege, ein Anderes, wenn Ich Mich gefangen gebe. Einen Felsen, der Mir im Wege steht, umgehe Ich so lange, bis Ich Pulver genug habe, ihn zu sprengen; die Gesetze eines Volkes umgehe Ich, bis Ich Kraft gesammelt habe, sie zu stürzen. Weil Ich den Mond nicht fassen kann, soll er Mir darum »heilig« sein, eine Astarte? Könnte Ich Dich nur fassen, Ich faßte Dich wahrlich, und finde Ich nur ein Mittel, zu Dir hinauf zu kommen, Du sollst Mich nicht schrecken! Du Unbegreiflicher, Du sollst Mir nur so lange unbegreiflich bleiben, bis Ich Mir die Gewalt des Begreifens erworben habe, Dich mein eigen nenne; Ich gebe Mich nicht auf gegen Dich, sondern warte nur meine Zeit ab. Bescheide Ich Mich auch für jetzt, Dir etwas anhaben zu können, so gedenke Ich Dir's doch!

Kräftige Menschen haben's von jeher so gemacht. Hatten die »Ergebenen« eine unbezwungene Macht zu ihrer Herrin erhoben und angebetet, hatten sie Anbetung von Allen verlangt, so kam ein solcher Natursohn, der sich nicht ergeben wollte, und jagte die angebetete Macht aus ihrem unersteiglichen Olymp. Er rief der laufenden Sonne sein »Stehe« zu, und ließ die Erde kreisen: die Ergebenen mußten sich's gefallen lassen; er legte an die heiligen Eichen seine Axt, und die »Ergebenen« staunten, daß kein himmlisches Feuer ihn verzehre; er warf den Papst vom Petersstuhle, und die »Ergebenen« wußten's nicht zu hindern; er reißt die Gottesgnadenwirtschaft nieder, und die »Ergebenen« krächzen, um endlich erfolglos zu verstummen.

Meine Freiheit wird erst vollkommen, wenn sie meine – Gewalt ist; durch diese aber höre Ich auf, ein bloß Freier zu sein, und werde ein Eigener. Warum ist die Freiheit der Völker ein »hohles Wort«? Weil die Völker keine Gewalt haben! Mit einem Hauch des lebendigen Ich's blase Ich Völker um, und wär's der Hauch eines Nero, eines chinesischen Kaisers oder eines armen Schriftstellers. Warum schmachten denn die d . . . . . . . . Kammern vergeblich nach Freiheit, und werden dafür von den Ministern geschulmeistert? Weil sie keine »Gewaltigen« sind! Die Gewalt ist eine schöne Sache, und zu vielen Dingen nütze; denn »man kommt mit einer Handvoll Gewalt weiter, als mit einem Sack voll Recht«. Ihr sehnt Euch nach der Freiheit? Ihr Toren! Nähmet Ihr die Gewalt, so käme die Freiheit von selbst. Seht, wer die Gewalt hat, der »steht über dem Gesetze«. Wie schmeckt Euch diese Aussicht, ihr »gesetzlichen« Leute? Ihr habt aber keinen Geschmack!

Laut erschallt ringsum der Ruf nach »Freiheit«. Fühlt und weiß man aber, was eine geschenkte oder oktroyierte Freiheit zu bedeuten hat? Man erkennt es nicht in der ganzen Fülle des Wortes, daß alle Freiheit wesentlich – Selbstbefreiung sei, d. h. daß Ich nur so viel Freiheit haben kann, als Ich durch meine Eigenheit Mir verschaffe. Was nützt den Schafen, daß ihnen Niemand die Redefreiheit verkürzt? Sie bleiben beim Blöken. Gebt einem, der innerlich ein Mohammedaner, ein Jude oder ein Christ ist, die Erlaubnis zu sprechen, was er mag: er wird doch nur borniertes Zeug vorbringen. Rauben Euch dagegen gewisse Andere die Rede- und Hörfreiheit, so verstehen sie sich ganz richtig auf ihren zeitweiligen Vorteil, da Ihr vielleicht etwas zu sagen und zu hören vermöchtet, wodurch jene »Gewissen« um ihren Kredit kämen.

Wenn sie Euch dennoch Freiheit geben, so sind sie eben Schelme, die mehr geben, als sie haben. Sie geben Euch dann nämlich nichts von ihrem Eigenen, sondern gestohlene Ware, geben Euch eure eigene Freiheit, die Freiheit, welche Ihr Euch selbst nehmen müßtet; und sie geben sie Euch nur, damit Ihr sie nicht nehmet, und die Diebe und Betrüger obenein zur Verantwortung zieht. In ihrer Schlauheit wissen sie es wohl, daß die gegebene (oktroyierte) Freiheit doch keine Freiheit ist, da nur die Freiheit, die man sich nimmt, also die Freiheit des Egoisten, mit vollen Segeln schifft. Geschenkte Freiheit streicht sogleich die Segel, sobald Sturm oder – Windstille eintritt: sie muß immer – gelinde und mittelmäßig angeblasen werden.

Hier liegt der Unterschied zwischen Selbstbefreiung und Emanzipation (Freisprechung, Freilassung). Wer heutigen Tages »in der Opposition steht«, der lechzt und schreit nach »Freilassung«. Die Fürsten sollen ihre Völker für »mündig erklären«, d. h. emanzipieren! Betragt Euch als mündig, so seid Ihr's ohne jene Mündigsprechung, und betragt Ihr Euch nicht darnach, so seid Ihr's nicht wert, und wäret auch durch Mündigsprechung nimmermehr mündig. Die mündigen Griechen jagten ihre Tyrannen fort, und der mündige Sohn macht sich vom Vater unabhängig, Hätten jene gewartet, bis ihre Tyrannen ihnen die Mündigkeit gnädigst bewilligten: sie konnten lange warten. Den Sohn, der nicht mündig werden will, wirft ein verständiger Vater aus dem Hause und behält das Haus allein; dem Laffen geschieht Recht.

Der Freigegebene ist eben nichts als ein Freigelassener, ein libertinus, ein Hund, der ein Stück Kette mitschleppt: er ist ein Unfreier im Gewande der Freiheit, wie der Esel in der Löwenhaut. Emanzipierte Juden sind um nichts gebessert in sich, sondern nur erleichtert als Juden, obgleich, wer ihren Zustand erleichtert, allerdings mehr ist als ein kirchlicher Christ, da der letztere dies nicht ohne Inkonsequenz vermag. Aber emanzipierter Jude oder nicht emanzipierter: Jude bleibt Jude; der Nicht-Selbstbefreite ist eben ein – Emanzipierter. Der protestantische Staat vermag allerdings die Katholiken freizugeben (zu emanzipieren); weil sie sich aber nicht selbst frei machen, bleiben sie eben – Katholiken.

Von Eigennutz und Uneigennützigkeit ist oben schon gesprochen worden. Die Freiheitsfreunde erbosen sich gegen den Eigennutz, weil sie in ihrem religiösen Freiheitsstreben von der erhabenen »Selbstverleugnung« sich nicht – befreien können. Dem Egoismus gilt der Zorn des Liberalen, denn der Egoist bemüht sich ja um eine Sache niemals der Sache wegen, sondern seinetwegen: ihm muß die Sache dienen. Egoistisch ist es, keiner Sache einen eigenen oder »absoluten« Wert beizulegen, sondern ihren Wert in Mir zu suchen. Zu den widerlichsten Zügen egoistischen Betragens hört man häufig das so gewöhnliche Brotstudium zählen, weil es die schändlichste Entweihung der Wissenschaft bekunde; allein wozu ist die Wissenschaft als dazu, verbraucht zu werden? Wenn Einer sie zu nichts Besserem zu nutzen weiß, als zum Broterwerb, so ist sein Egoismus zwar ein kleinlicher, weil die Macht dieses Egoisten eine beschränkte ist, aber das Egoistische daran und die Entweihung der Wissenschaft kann nur ein Besessener tadeln.

Weil das Christentum, unfähig den Einzelnen als Einzigen gelten zu lassen, ihn nur als Abhängigen dachte und eigentlich nichts als eine Sozialtheorie war, eine Lehre des Zusammenlebens, und zwar sowohl des Menschen mit Gott als des Menschen mit dem Menschen: so mußte bei ihm alles »Eigene« in ärgsten Verruf kommen: Eigennutz, Eigensinn, Eigenwille, Eigenheit, Eigenliebe usw. Die christliche Anschauungsweise hat überhaupt allmählich ehrliche Wörter zu unehrlichen umgestempelt; warum sollte man sie nicht wieder zu Ehren bringen? So heißt »Schimpf« im alten Sinne soviel als Scherz, für den christlichen Ernst ward aber aus der Kurzweil eine Entbehrung, denn er versteht keinen Spaß; »Frech« bedeutete früher nur kühn, tapfer; »Frevel« war nur Wagnis. Bekannt ist, wie scheel lange Zeit das Wort »Vernunft« angesehen wurde.

Unsere Sprache hat sich so ziemlich auf den christlichen Standpunkt eingerichtet, und das allgemeine Bewußtsein ist noch zu christlich, um nicht vor allem Nichtchristlichen als vor einem Unvollkommenen oder Bösen zurückzuschrecken. Deshalb steht es auch schlimm um den »Eigennutz«.

Eigennutz im christlichen Sinne heißt etwa dies: Ich sehe nur darauf, ob etwas Mir als sinnlichem Menschen nützt. Ist denn aber die Sinnlichkeit meine ganze Eigenheit? Bin Ich bei Mir selbst, wenn Ich der Sinnlichkeit hingegeben bin? Folge Ich Mir selbst, meiner eigenen Bestimmung, wenn Ich jener folge? Mein eigen bin Ich erst, wenn nicht die Sinnlichkeit, aber ebensowenig ein Anderer (Gott, Menschen, Obrigkeit, Gesetz, Staat, Kirche usw.) Mich in der Gewalt haben, sondern Ich selbst; was Mir, diesem Selbsteigenen oder Selbstangehörigen, nützt, das verfolgt mein Eigennutz.

Übrigens sieht man sich alle Augenblicke genötigt, an den Eigennutz, den allezeit gelästerten, als an eine Alles bewältigende Macht zu glauben. In der Sitzung vom 10. Februar 1844 begründet Welcker eine Motion auf die Abhängigkeit der Richter und tut in einer ausführlichen Rede dar, daß entsetzbare, entlaßbare, versetzbare und pensionierbare Richter, kurz solche Mitglieder eines Gerichtshofes, welche auf dem bloßen Administrationswege verkürzt und gefährdet werden können, aller Zuverlässigkeit entbehren, ja aller Achtung und alles Vertrauens im Volke verlustig gehen. Der ganze Richterstand, ruft Welcker aus, ist durch diese Abhängigkeit demoralisiert! Mit dürren Worten heißt dies nichts anders, als daß die Richter besser ihre Rechnung dabei finden, wenn sie im ministeriellen Sinne Urteil fällen, als wenn sie dies nach gesetzlichem Sinne tun. Wie soll dem abgeholfen werden? Etwa dadurch, daß man den Richtern die Schmach ihrer Verkäuflichkeit zu Gemüte führt und dann das Vertrauen hegt, sie werden in sich gehen und hinfort die Gerechtigkeit höher schätzen als ihren Eigennutz? Nein, zu diesem romantischen Vertrauen versteigt sich das Volk nicht, denn es fühlt, daß der Eigennutz gewaltiger sei als jedes andere Motiv. Darum mögen dieselben Personen Richter bleiben, die dies seither gewesen sind, so sehr man sich auch davon überzeugt hat, daß sie als Egoisten verfuhren; nur müssen sie ihren Eigennutz nicht länger durch die Verkäuflichkeit des Rechtes gefördert finden, sondern so unabhängig von der Regierung dastehen, daß sie durch ein sachgemäßes Urteil ihre eigene Sache, ihr »wohlverstandenes Interesse«, nicht in Schatten stellen, vielmehr ein gutes Gehalt und Achtung bei den Bürgern gemächlich mit einander verbinden.

Also Welcker und die badischen Bürger halten sich erst für gesichert, wenn sie auf den Eigennutz rechnen können. Was soll man sich folglich von den unzähligen Uneigennützigkeitsphrasen denken, von denen ihr Mund sonst überströmt?

Zu einer Sache, die Ich eigennützig betreibe, habe Ich ein anderes Verhältnis, als zu einer, welcher Ich uneigennützig diene. Man könnte folgendes Erkennungszeichen dafür anführen: gegen jene kann Ich Mich versündigen oder eine Sünde begehen, die andere nur verscherzen, von Mir stoßen, Mich darum bringen, d. h. eine Unklugheit begehen. Beiderlei Betrachtungsweisen erfährt die Handelsfreiheit, indem sie teils für eine Freiheit angesehen wird, welche unter Umständen gewährt oder entzogen werden könne, teils für eine solche, die unter allen Umständen heilig zu halten sei.

Ist Mir an einer Sache nicht an und für sich gelegen und begehre Ich sie nicht um ihrer selbst willen, so verlange Ich sie lediglich wegen ihrer Zweckdienlichkeit, Nützlichkeit, um eines andern Zweckes willen, z. B. Austern zum Wohlgeschmack. Wird nun nicht dem Egoisten jede Sache als Mittel dienen, dessen letzter Zweck er selber ist, und soll er eine Sache beschützen, die ihm zu nichts dient, z. B. der Proletarier den Staat?

Die Eigenheit schließt jedes Eigene in sich und bringt wieder zu Ehren, was die christliche Sprache verunehrte. Die Eigenheit hat aber auch keinen fremden Maßstab, wie sie denn überhaupt keine Idee ist, gleich der Freiheit, Sittlichkeit, Menschlichkeit u. dergl.: sie ist nur eine Beschreibung des – Eigners.


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