Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Dreizehntes Kapitel.


In der Doktorengrube herrschte Verstimmung.

»Es war eigentlich recht hübsch gestern Abend,« begann Schnellbeinchen, nur um etwas zu sagen.

»Bis auf den Zwischenfall,« versetzte das Kind.

»Wer ahnte aber auch, daß das Skelett keinen blassen Schimmer vom Tanzen hat, obgleich der Kapitän das Gegentheil versicherte; das war sehr Unrecht von Herrn Lotz. Ich hab' ihm aber auch meine Meinung gesagt. Und wenn Herr Brömmer mir böse ist … ich kann's nicht ändern.«

»Es war eine Art Todtentanz,« bemerkte Himeyer, »so wie die Alten ihn malten, schauderlustig.«

»Hoffentlich wird das keine Vorbedeutung sein,« sagte das Kind. »Sie macht so wie so schon den Eindruck einer Hospitalkandidatin, und wenn ihr etwas zustößt, haben wir Alle uns Vorwürfe zu machen.«

»Das bestreite ich,« entgegnete Schnellbeinchen heftig, »wir meinten es in jeder Beziehung aufrichtig.«

»Sind trotzdem nicht frei zu sprechen.«

»Das ewige Bohren!«

»Genau untersucht, hatten wir mehr unser Behagen im Auge, als das Wohlergehen der Beiden. Gesetzt, wir hätten zu unserem Zeitvertreib das Spiel bis zum Schlusse geleitet, wer bürgt, daß Jene die Hochzeit nicht ihr ganzes Leben hindurch bereuen müßten?«

»Ich möchte wissen, wer zuerst auf den Gedanken kam, die Beiden zu kuppeln?« fragte Schnellbeinchen, »und woher mit einem Male der Meinungswechsel?«

»Seit ich Fräulein Lahmann gestern Abend zuletzt sah. Ich hätte sie am liebsten auf der Stelle um Verzeihung gebeten, sie aber wies jede Annäherung mit Erhabenheit ab.«

Schnellbeinchen lächelte ungläubig. »Mit der Erhabenheit der Schuldlosigkeit,« wiederholte Dr. Haller eindringlich, »und ich fühlte mich um so tiefer gedemüthigt, je klarer ich mein Unrecht einsah, und mich schämte.« Er schlug die Augen nieder und tiefes Roth ergoß sich über sein Antlitz.

Dr. Addison zweifelte nicht mehr. Um seinen Freund zu beschwichtigen, sprach er: »Sie thut mir ja auch leid, gewiß, aber schließlich … was ist groß geschehen? Ihr Ballherr war nicht ganz auf der Höhe …«

»Er machte sich und sie zum Saalgespött.«

»Uebermorgen spricht kein Mensch mehr davon. In acht Tagen hat Jeder es vergessen.«

»Sie auch? – O nein! In dem Ballsaale pflückt das junge Mädchen die Blätter seines Ruhmes. Dort will sie gelten durch die Reize des Körpers, die sie durch Schmückung erhöhte, dort will sie gefallen, ausgezeichnet werden, siegen in dem Wetteifer der Schönheit, der Anmuth und aller der Gaben, welche die Natur ihr zu ihrer Macht verliehen hat. So wird der Ballsaal für sie ebenso bedeutungsvoll, wie das öffentliche Leben für den Mann. Verletzter Ehrgeiz macht uns grimmig. Wir können Beleidigungen rächen. Aber Mädchen? Ich sage: sie wird es nicht vergessen.«

»Wir müssen unsere Aufmerksamkeit gegen das Fräulein verdoppeln,« sagte Dr. Sattler, »und zwar ohne alle Ironie.«

»Sie fordert aber heraus. Wer kann ernsthaft auf ihr wissenschaftliches Gekohle eingehen? Kann man beipflichten: Sie haben vollständig Recht, wenn sie, wie neulich Abends, als der frische Wind aufkam, dozirte: es wird kühl wegen langsamer Verdunstung der kalorischen Kräfte. Das ist ja weder gehauen noch gestochen,« entgegnete Addison.

»Sie ist in dem Rothwälsch der Wissenschaft ungeübt,« sagte Dr. Sattler. »Ueberhaupt bemerkt man bei halbgebildeten die Vorliebe für pomphaft klingende Fremdausdrücke und deren selbstverständlich falsche Anwendung. Das Fräulein ist in kurzer Frist über alle Felder des Wissens getrieben; was sie einsammelte, liegt wie Kraut und Rüben durcheinander. Was auch kann sie vom Inneren der Wissenschaften begriffen haben, da die Gelehrten selbst über den Grund der Dinge nicht klar sind?«

»Oho!«

»Was ist Elektrizität? Was Magnetismus? Was ist Schwerkraft? Was ist der geheimnißvolle Aether, der Alles sein soll und Nichts, dieser Lastesel der Theorien. Was ist Materie, Stoff? Was ist Kraft? Niemand weiß es, und doch wird gethan, als wäre das Alles klar und unwiderleglich erkannt. Wissenschaft und Täuschung gehen Arm in Arm. Machen wir dem Fräulein daher nicht die Vorwürfe, die den Komödianten der Wissenschaft zukommen, Denen, die sie verbildet haben.«

»Als Lehrerin muß sie über ein bestimmtes Maß von Wissen verfügen.«

»Das ist eben der Fehler, daß man lieber gelehrt sein will als tüchtig; so kommt es, daß sie statt der eigenen Kinder im eigenen Heim fremde unter fremdem Dache erziehen.«

»Nach Ihrer Meinung dürfte also Keine Lehrerin werden?«

»Nur die, welche den Beruf dazu in sich fühlt, Anlage und Kraft besitzt, denn zufrieden ist, wer handeln kann, wie er sich vorsetzte. Die aber, weil's Mode ist, Lehrerin werden, und die, welche ohne rechte Befähigung von der Noth zum Broderwerb als Erzieherin gezwungen werden, verkümmern in Erfolglosigkeit, und zum gesellschaftlichen Elend gesellt sich verheimlichtes seelisches Elend und das ist der Wurm, der das Leben zernagt. Man nennt ihn Nervosität und wundert sich, wenn keine Kurmethode anschlägt. Und warum scheuen sich so viele junge Männer, einen Herd zu gründen …?«

»Weil das Leben zu große Ansprüche macht,« fiel Dr. Addison ein.

»Nein umgekehrt. Weil zu große Ansprüche an das Leben gestellt werden. Und wer sein Lebensschiff mit Ansprüchen überlud, daß es scheiterte, für den hat die Welt kein Mitleid, keine Hilfskassen, keine Zufluchtsstätten, sondern nur das hart abweisende Wort: selbst schuld. Erst wenn er ganz herunter, arztbedürftig und armenhausreif, wenn seine Leiden auf der Gasse schreien, wird er von der Wohlthätigkeit bei Seite geschafft. Der stillringende, kämpfende Mittelstand, der zum Betteln nicht arm genug, zum Streiken nicht unentbehrlich genug, darf sich nicht jeder Arbeit unterziehen, weil es Arbeiten giebt, die in den Augen der Welt herabsetzen. Und wissen Sie, womit dieser Hochmuth bezahlt wird, durch Äußerlichkeiten mehr zu scheinen als man ist? Mit Entbehrung, Sorgen, Thränen und Krankheit. Und wissen Sie, wohin er führt? Abwärts, zur Hoffnungslosigkeit mit allen ihren Folgen: zum Trost im Alkohol, Morphium, Cyankali …«

»Das trifft nicht immer zu …«

»Ausnahmen bestätigen die Regel.«

Eilenden Schrittes näherte sich Herr Runft der Grube. »Was mag es geben?« rief das Kind, »Runft erscheint aufgeregt und bestürzt …« Und bleich ward Dr. Haller und seine Augen öffneten sich weit. Herr Runft beschleunigte seinen Gang. Erschöpft ließ er sich auf dem Rande der Grube nieder.

»Sie ist fort,« stieß er hervor, »sie ist verschwunden.«

»Wer?«

»Fräulein Lahmann, Fräulein Pienchen. Die Mutter schreit wie eine Verzweifelnde und wirft sich laut jammernd vor, sie hätte ihre Tochter ins Unglück getrieben. Aus Hille ist nichts herauszubringen. Die schluchzt: meinetwegen hat sie's gethan, meinetwegen. Das ganze Haus ist in Aufstand.«

Die Grube war vollzählig; es saß aber noch ein Gast unter ihnen, der war Herrn Runft wie ein Schatten gefolgt. Das Kind hatte ihn zuerst erblickt und es durchfror ihn, als es ihn sah.

Die Sonne sandte Lebenslust, kraftvoll rauschte das Meer, der Wind trug lockendes Musikklingen daher, das frohe Lachen aber antwortete nicht wie sonst aus der Doktorengrube. Das hatte der Gast mit kalten Peinhänden erstickt. Und nun schaute er sie an, jeden Einzelnen, starr und unerbittlich und hauchte ihnen zu: ich gehe nie wieder, nie wieder. Der freudemordende furchtbare Gast war die Reue.

»Was nun?« fragte Herr Runft.

Schweigen wie vorher.

»Ich gehe, sie zu suchen,« rief das Kind.

»Nach welcher Richtung? Die Insel ist meilenlang und die See … abgrundstief.«

»Man muß fragen, ob Jemand sie gesehen?«

»Geschah bereits.«

»Und?«

»Niemand konnte Auskunft geben?«

Dr. Sattler erhob sich. Man sah ihm an, daß er stark arbeitend erwog.

»Ich weiß nicht,« sprach er voranschreitend, »ob ich einen Vertrauensbruch begehe, wenn ich rede, aber ich hoffe, die Noth wird mich entschuldigen. Einen giebt es am Ort, der, wie ich vermuthe, die Spur der Vermißten mit Sicherheit auffindet … Der Indier.«

Kein Widerspruch erfolgte. Wie wäre ehedem der Mann mit dem vorder- und hinterindischen Sonnenstich zurückgewiesen worden.

»Herr Steinbach ist im Besitze seltsamer Kenntnisse,« fuhr Dr. Sattler fort.

»Jedes Mittel ist mir recht,« rief Dr. Haller, »sei es noch so abergläubisch und vernunftwidrig. Nur zum Ziele muß es führen.«

»Der Vernunft wird nicht zugemuthet, sich zu verleugnen. Im Gegentheil, sie erklärt das scheinbar Unverständliche. Als ich vor einigen Tagen den Indier zu einem Spaziergange abholte – er ist mir gegenüber mittheilsamer geworden, seitdem ich ernsten Antheil an seinem Denken nehme – sagte er plötzlich: ›jetzt biegt sie in unsere Straße ein.‹ – ›Wer?‹ fragte ich. – ›Fräulein Lahmann,‹ antwortete er. Einige Minuten später ging sie in Begleitung ihrer Mutter und Schwester an dem Hause vorüber.«

»Er sah sie durch den Fensterspiegel.«

»Nein, ein solcher Spiegel ist nicht vorhanden, und man kann von dem Zimmer aus nur das Stück der Straße unmittelbar vor dem Hause übersehen. Außerdem stand er vom Fenster abgewandt, mit der Füllung seiner Zigarrentasche beschäftigt.«

»Die Damen werden dort oft um dieselbe Zeit gehen.«

»So fragte ich auch. Er aber sagte, daß er ihre Annäherung zuweilen aus weiter Ferne spüre, und zwar dann, wenn er innig an sie denken müsse. Dies sei soeben der Fall gewesen. Als Erklärung habe er dafür die zeitweilig erhöhte Schärfung der Sinne, die ihn ihren Schritt erkennen lasse, den Ton der Stimme, irgend eine Eigentümlichkeit ihres Wesens, wenn sie noch nicht in dem Bereiche des gewöhnlichen Wahrnehmungsvermögens der Sinne sei. Daß er an sie denken müsse, wenn er einen der Herren träfe, die an der Ausfahrt nach Rantum theilgenommen, sei auch nicht wunderbar, ebensowenig wie das Gefühl, als werde ihr irgend ein Leides geschehen. Und da bat er mich, abzuwenden, was ich abwenden könne. Ich suchte sie von dem Balle zu entfernen, wie der Grad unserer Bekanntschaft gestattete, sie aber wollte mich nicht verstehen.«

»Also interessirt sich der Indier für sie?«

»Nicht in gewohntem Sinne. Ein tiefes Mitleid hat ihn ergriffen, dessen er nicht Herr ist, sondern das ihn beherrscht. Der Drang, zu helfen, in Gefahr beizustehen, zu retten, liegt in jedem Menschen, dessen bessere Empfindungen nicht in Selbstsucht untergingen. Bei ihm aber, den die indischen Lehren von der Güte und Barmherzigkeit gegen alle Wesen erfüllen, ist das Mitleid derart gesteigert, daß es ihn quält wie – nun in diesem Falle – wie unerwiderte Liebe.«

»Und wir hatten kein Mitleid,« sagte das Kind. »Wir wollten lachen, wie es der Welt Brauch ist, in der für klug und gescheidt gilt, wer das Unvollkommene und Schwache verhohnlacht.«

»Würde alles Menschliche menschlich beurtheilt, wie fördersam wäre das.«

»Wo bliebe der Fortschritt ohne bessernden Tadel?« fragte Dr. Addison.

»Mit aller Kraft sich gegen das Schlechte wenden, gegen das gewollte Böse, das halte ich für menschlich. Und was den Tadel anbetrifft, so stimme ich dem Indier bei, wenn er sagt: die Unzufriedenheit mit sich selbst ist der Weg zur Vervollkommnung; klügelndes Besserwissen dagegen führt von der Erkenntniß zur Thorheit.«

»Werden wir den Indier treffen?« fragte Herr Runft.

»Ich hoffe!« entgegnete Dr. Sattler. – Sie schritten insgesammt, so rasch der nachgebende Sand erlaubte. Der sie antrieb, war der graue Gefährte; er hielt sein Wort: er wich ihnen nicht von der Seite.


 << zurück weiter >>