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Eine Stellung!« sagte sich Pienchen, als sie, die reine Morgenluft athmend, zur Frau Kapitän wandelte und einen Umweg machend den vorgeschriebenen Kur-Spaziergang erledigte. »Endlich eine Stellung! Gesellschaftsdame ist leicht und viel angenehmer als Zöglinge unterrichten. Man genießt das Leben ebenso, wie die Dame, bei der man weilt, wird ebenso von den Dienstboten geachtet, hat Unterhaltung, Theater, Ausfahrten, Reisen; das ist gerade, was ich mir wünschte.«
Auf dem einsamen Dünenwege traf sie der Indier.
Herr Steinbach grüßte höflich und fragte, wie neulich der Ausflug nach Rantum bekommen sei?
»Uns recht gut,« erwiderte Pienchen schnippisch. »Ihnen hoffentlich auch, die Herren waren ja sehr lustig unterwegs.«
»Das waren sie,« entgegnete Herr Steinbach.
Pienchen schwieg betroffen. In der Antwort lag es wie Vorwurf und wie Mitleid zugleich. Galt der Vorwurf ihr? Wem galt der bedauernde sanfte Ton der Stimme? Auch ihr?
Sie schritten eine Strecke langsam neben einander.
Warum sprach er nicht? Hatte sie ihn verletzt? Warum ging er nicht seines Weges? Sie schenirte sich umzukehren, sie wollte vermeiden, ihn anzusehn.
»Ihnen mißfällt meine Begleitung?« fragte er.
»Nein, nein!« stotterte sie. – Woher wußte er ihre Gedanken?
»Ich traf Sie noch nie in dieser Gegend,« sagte er ablenkend, »die Haide ist auch nicht so anziehend wie der Strand. Und doch wandere ich hier hinaus fast täglich, kaum weiß ich einen mir lieberen Fleck Erde.«
»Sie, der Sie die Palmenhaine gesehen haben und die Wunderblumen Indiens, finden an dieser Einöde Gefallen?« fragte Pienchen ungläubig.
»Darf ich Sie zu meinem Lieblingsplatze führen? Ich möchte in Ihren Augen nicht gerne als Schelm dastehen oder als … angehender Tollhäusler … Ich weiß, wie man über mich urtheilt … Fürchten Sie nichts.«
Sie schritten fürbaß in die feldgrüne Ebene hinein.
»Wir sind zur Stelle,« sagte der Indier nach etlichem Wandern. Ein Stück Acker, von hohem Rasenwalle umzäunt, lag in der einsamen Haide. Ueber der Gitterpforte erhob sich ein schmuckloser Thorbogen aus schwarzem Holze. »Heimath für Heimathlose« stand darauf geschrieben.
Der Indier öffnete das Thor. »Ein Kirchhof!« rief Pienchen.
»Ein Friedhof,« sagte der Indier, »eine Stätte des Friedens. Kommen Sie?«
Er blickte sie mit den dunklen Augen an; widerstrebend folgte Pienchen.
»Keiner weiß, wer hier ruht,« sprach der Indier, auf die Reihen der Gräber deutend. »Die Namenlosen trug das Meer an die Insel. Wer sie aufnahm, das war erbarmende Liebe. Wo selbstlose Liebe erblüht, verblassen die Wunderblumen der Tropen. Verstehen Sie jetzt, warum dies der Ort ist, an dem ich gern verweile?«
Herr Steinbach schwieg. Er führte Pienchen zu einem grauen Granitblock an dem Ende der Gräberreihe, auf dem Worte eingemeißelt waren. »Diesen Denkstein errichtete Rumäniens Königin den Heimathlosen,« sprach er. »Lesen Sie!«
Abermals gehorchte Pienchen.
»Ja,« sagte sie, nachdem sie gelesen, »Unfall und Herzeleid ist genug auf der Erde, aber ein Jenseits giebt es nicht, das hat die Spektralanalyse bewiesen. Alle Gestirne sind brennende Gase, nirgends kann Leben bestehen.«
»Armes Mädchen,« rief Herr Steinbach. »Armes Mädchen!«
»Mein Herr!« entgegnete Pienchen, »ich wüßte nicht, womit ich Ihnen Anlaß gegeben hätte, mich zu bedauern. Uebrigens bin ich kein Mädchen, sondern Gesellschaftsdame.« Mit einer patzigen Verbeugung nahm Pienchen Abschied und eilte Westerland zu. Es war mittlerweile Zeit geworden, die Stellung anzutreten.
Herr Steinbach blickte ihr lange nach. Als sie verschwunden war, wandte er sich gen Sonnenaufgang. Seine Gedanken spannten hinüber bis zum fernen Osten.
»Meine weisen Lehrer,« sprach er, »warum wecktet Ihr mein geistiges Schauen? Daß ich Heimathlose lebend um mich sehe und die Qual erleide, ihnen den Pfad nicht zeigen zu können, den Ihr mir wieset? Den Weg vom Tode zum Leben, den die Sonne Eurer Weisheit hell beleuchtet, daß der blöde Verstand ihn ersieht? Muß ich also leiden zur Läuterung, daß ich Kraft gewinne zum Bekennen, wie Ihr bekennt?«
Er kreuzte die Arme über der Brust, sein Haupt neigte sich ein wenig nach vorne; halb schlossen sich die Lider, regungslos verharrten die Züge des Antlitzes.
Lerchen schwirrten in der Luft, er hörte nicht den jubelnden Gesang, das Tosen der Brandung scholl herüber, er vernahm nicht das Brausen, aus den blühenden Feldkräutern zogen die Strahlen der Sonne würzigen Hauch, er spürte ihn nicht; er stand in sich versenkt. –
Pienchen beschleunigte ihre Schritte. »Ein anmaßender Mensch,« dachte sie über Herrn Steinbach, »seinetwegen komme ich zu spät. Und ich hatte Recht: überall hat die Wissenschaft die doppeltkohlensaure Natronlinie entdeckt, ein Jenseits ist lächerlich. Herr Wergheim sagte einfältig lächerlich.« –
Frau Lotz lag auf dem Sopha. In ein schwarz und weiß gestreiftes Wollengewand gekleidet, sah sie wie ein preußisches Schilderhaus aus, ebenso hölzern und ebenso strenge. »Ich habe schon eine halbe Stunde gewartet,« rief sie der Eintretenden entgegen. »Liebes Fräulein, wenn man konditionirt, gehört es sich, präzise sein. Na, weil es das erste Mal ist, wollen wir es hingehn lassen.«
Pienchen wollte erwidern: es ist auch das letzte Mal, aber sie beherrschte sich. Sie mußte die Stellung behalten, mit ihr standen oder fielen alle Pläne für die Zukunft. Sie mußte die Gegenrede zügeln, so schwer es ihr ward.
»Nehmen Sie ab, Fräulein, aber draußen. Und Fräulein, nicht wahr, Sie treten ein bischen leiser auf? Meine Kopfgicht muß Zug gekriegt haben, jeder Schritt dröhnt mich. Herrjeh, Sie lassen ja die Thür aufstehn!«
Pienchen schloß die Thür. War das die süße Frau Kapitänin vom Kaffeetisch? Und die durchgeathmete Luft drinnen im Zimmer. Stimmte das mit dem Bilde, das sie sich von einer Gesellschaftsdame entworfen hatte? – Nein.
»So!« befahl Frau Lotz, als Pienchen wiederkam, »nun setzen Sie sich man her und lesen mir vor. Das Politische ist für meinen Mann, ich halte mich an den Tagesbericht, der ist immer so schön. Haben Sie ihn?«
»Ja!«
»Denn man zu.«
Pienchen begann: »Ein gräßlicher Raubmord wurde im Wirthshause des Dorfes Pohulanka …«
»Wie heißt das Dorf?«
»Pohulanka.«
»Mal'n komischen Namen. Wo es wohl liegt? Das schreiben sie nie dabei.«
»Pohulanka im Sluker Kreise,« fuhr Pienchen fort.
»Na ja, da steht es ja. Wo mag das wohl sein, im Sluker Kreise? Ob es in der Nähe ist?«
»Ich glaube in Böhmen oder Rußland.«
»Oh, dann thun sie uns nichts, dann ist es ja weit weg. Lesen Sie man weiter.«
»Im Sluker Kreise von einer Bande wohlhabender Bauern der Gemeinde Zavstrovicze verübt, welche gegen Mitternacht in das genannte Wirthshaus eindrangen und …«
»O Gott, nun kommt es wohl, das Gräsen läuft mir schon über.«
»Und, mit Aexten bewaffnet …«
»Uh. So'n scharfes Beil geht mir immer durch und durch.«
»Den siebzigjährigen Pächter desselben, sammt dessen beiden Kinder …«
»Steht da nichts von der Frau?«
»Nein.«
»Die haben sie wohl schon früher mal todt gemacht, oder sie ist rechtzeitig gestorben, daß sie so'n Unglück doch nicht erleben sollte.«
»In grausamer Weise tödteten … Die Mörder hieben mit ihren Aexten den unglücklichen Greis und dessen Sohn förmlich in Stücke …«
»Nein, nein, hören Sie auf, das kann ich nicht aushalten. – Wo habe ich blos mein Taschentuch. Na, hier ist es. – In Stücke steht da, in kleine Stücke? … Wie wird es weiter?«
»Und als die kleine Tochter sich weigerte, ihnen den Ort anzugeben, wo das Vermögen des Vaters versteckt sei, schnitten sie ihr beide Hände ab …«
»Mein Gott, das arme kleine Mädchen … nein, wie mir das nahe geht. Beide Hände?« Frau Lotz wischte die Augen. »Beide Hände?«
»Beide.«
Frau Lotz schluchzte. »Das arme Kind. Nicht mal 'n Schilling Geld kann man ihr schenken … sie kann ja nichts anfassen. Ist es schon aus?«
»Ja.«
»Was kommt nun?«
»Der Verein zur Verbreitung Gesittung fördernder Volksschriften feierte gestern –«
»Ne, ne. Das wollen wir überschlagen. Die Vereine liest mein Mann, da haben wir Damen doch nicht so das Verständniß für. Was kommt nun?«
»Selbstmord,« las Pienchen.
»Selbstmörder sind sehr Mode,« sagte Frau Lotz. »Ist wieder Eine ins Wasser gesprungen?«
»Ja.«
»Stehn da Motiven bei?«
»Enttäuschte Hoffnungen.«
»Was war sie für eine?«
»Aus guter Familie.«
»Armes Mädchen,« sagte Frau Lotz und weinte.
Pienchen sprang auf. Das Wort hatte sie erschreckt. Schon einmal vernahm sie es heut Morgen, und nun wieder. Furchtbares Wort: Armes Mädchen.
Es drängte sie hinaus ins Freie. Die Krankenzimmerluft widerstand ihr. Oder war es der Dunst, der aus der Zeitung aufstieg, der ekle Geruch nach Blut und Mord?
»Nun? … Ich meinte, Sie könnten so ausgezeichnet vorlesen? Ihre Frau Mutter erzählte es. Sie hat es auch wohl nur so gesagt.«
»Ich lese schon,« entgegnete Pienchen und zwang sich:
»Zur Verrohung der unteren Schichten …«
»Ja, das Volk ist fürchterlich roh. Wo es das blos einmal her hat? Es lernt doch Lesen grade wie wir. Aber das kommt, weil keine Bildung drin sticht. Gewiß ist schon wieder das Messer …«
»Ganz recht,« sagte Pienchen mit Anstrengung.
»Lebendig aufgeschlitzt …« las Pienchen.
»O, Du Gerechter,« rief Frau Lotz. »Wie ist sowas menschenmöglich? Liebes Fräulein, auf meinem Nachttisch stehen die Hoffmannstropfen; weißer Zucker ist in der blauen Tüte. Gießen Sie mir ein paar Tropfen auf ein Stück, sonst komme ich nicht drüber weg.«
Pienchen ging, nahm ein Fläschchen, tränkte ein Stück Zucker mit dem Inhalte desselben und brachte es der Frau Lotz, die den Mund öffnete und die Augen schloß, wie man zu thun pflegt, wenn der Arzneilöffel anrückt.
Die stärkenden Tropfen hatten eine seltsame Wirkung. Frau Lotz spuckte mit aller Gewalt, verzog das Gesicht, verdrehte die Augen und rang nach Athem. »Wasser,« gurgelte sie, »Wasser.« – Pienchen erschrak heftig. Die Wasserflasche stand vor ihr, aber sie gewahrte sie in der Aufregung nicht, stürzte umher und suchte. »Wasser,« krächzte Frau Lotz und deutete mit der Hand auf die Karaffe.
Jetzt sah Pienchen, schoß hin, und im selben Augenblick hatte sie das danebenstehende Trinkglas zerschlagen. Für solche Hast war es zu dünnwandig gearbeitet.
Da Frau Lotz sich immer beängstigender geberdete, ging Pienchen auf das Ganze und brachte ihr den Flaschenhals an den nach Hülfe schnappenden Mund. Ergebniß: eine nasse Sache, deren Mittelpunkt Frau Lotz war. Die Flasche blieb merkwürdigerweise heil.
Trotz ihrer Schwäche stand Frau Lotz plötzlich kerzengrade auf beiden Beinen. »Gott bewahre!« rief sie voller Entrüstung. »Da kann man ja den Tod von haben. Erst giebt sie Einen flüchtiges Element ein und dann macht sie Einen platschenaß, wo meine Nerven nicht'n Spier Kaltes vertragen. Nun kann ich mich von Kopf zu Fuß umziehen.«
»Ich wußte nicht …« stotterte Pienchen.
»Mein Gott, sind Sie denn so ungeschickt, daß sie flüchtiges Element und Hoffmannstropfen nicht von'n ein kennen? Die Tropfen sind belebend und das flüchtige Element, das stinkt und darf ja und ja nicht innerlich verwechselt werden, weil doch Gift zwischen ist.«
Pienchen half Frau Lotz beim Umkleiden. »Sie haben zu Hause wohl nie was angefaßt?« fragte diese. – »Ich beschäftigte mich mit den Wissenschaften.« – »Das merkt man gleich. Bei uns sagen sie: je gelehrter, je verkehrter. Mir ist all' das Wasser in'n Rücken längs getrieben; das kann unmöglich gesund sein.«
»Ist das flüchtige Element sehr giftig?« fragte Pienchen besorgt.
»Egitt, es smeckt so slecht, herunter hab ich nicht viel gekriegt. Das wird sich wohl inwendig ebenso vertheilen wie auswendig. Ich glaube aber, Sie haben viel mehr Talent zum Kinderwarten, als eine kranke Frau aufzupassen, bei Kindern kommt es da ja auch nicht so auf an.«
Pienchen nickte stumm. In ihren Augen brannten die verhaltenen Thränen.
»Denn sehen Sie, ich kann Sie nicht gebrauchen, mir sind Sie zu unerfahren. Es war sehr unrecht von Ihrer Mutter, Sie zu empfehlen, die mußte Sie doch kennen. Das verdenke ich ihr. Das sagen Sie ihr nur. Unverantwortlich war es von ihr. Unverantwortlich! Und Ihr Lesen ist auch nicht weit her, Sie haben ja keine Brust dazu. Ich will lieber gleich nach'n Doktor schicken, daß er was für meine Nerven verschreibt. So hab' ich Ihretwegen noch Kosten. Und wer bezahlt das Glas? Das sagen Sie Ihrer Mutter auch! So was ist mir in meinem Leben noch nicht vorgekommen!«
Pienchen ging ohne ein Wort des Abschieds. Es summte ihr in den Ohren:
»Armes Mädchen!«
Und der Auftritt zu Hause. Die Mutter würde wüthen. Und die Leute! Was würden die Badebekannten sagen, denen die Mutter zu verstehen gegeben, daß ihre Tochter als »Gesellschaftsdame« nach Hamburg ginge!
Böse Stunden!
Sie schlug den Weg zur Wohnung ein. Unter die fröhliche Menschheit am Strande wagte sie sich nicht, es mußte Ihr ja Jedweder ansehen, daß sie sich schämte wie ein Schulkind, das nachgeblieben, auf dem Heimwege sich schämt, als das einzige ränzelbepackte auf der Gasse. Stand ihr denn nicht auf der Stirn leserlich und klar: ungeschickt, unerfahren, unbrauchbar? Und so fühlte sie sich auch; sie kam sich selbst schwer und unbeholfen vor, als sei alle Spannkraft von ihr gewichen. Mühe machten ihr Gang und Haltung, Mühe machte das Sehen, obwohl ihr Alles gleichgültig war, was sie sah.
Aber die Beiden, die ihr jetzt entgegen kamen, an denen sie vorüber mußte, denen sie nicht mehr ausweichen konnte, traten aus der gleichgültigen Umgebung hervor, zum Uebersehen viel, viel zu eindringlich. Die schöne Lüneburgerin und der Gelbhandschuh schritten daher, glückstrahlend, Arm in Arm, zärtliche Blicke tauschend: sie bräutlich traulich, er liebetriumphirend: Sonntagskinder im Sonnenschein.
Wie schön war sie; die Kälte des Marmors war gewichen. Liebe durchströmte ihn wärmend und röthend.
Und sein Bild hatte Pienchen nicht vergessen, der erste Eindruck war geblieben.
Nun ging das Glück an ihr vorüber, einer Anderen war es zugefallen, das seelige lichte Brautglück.
Laut aufschreien, das wäre Erleichterung gewesen, laut und wild.
Man schreit aber nicht laut auf öffentlicher Straße.