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Hille blühte wie eine der Sylter Rosen, die am besten heimlich gedeihen. Unter dem Schutze eines Hauses, einer Mauer, eines Erdwalles oder Holzzaunes können sich Bäume und Sträucher auszweigen, jedes Aestlein, das über den Schutz hinausstrebt, wird vom Weststurm erfaßt. Der Wind biegt es, der mit daher sausende Sand zerfetzt die Blätter und tödtet die Knospe lang vor dem Erwachen. Was aber geschützt erblüht, das prangt und duftet doppelt köstlich, und so auch die Rosen von Sylt.
Nicht auf Wegen und Stegen darf man sie suchen, nicht an der Straße, Allen zu gefallen: an das Haus geschmiegt erwächst sie, die liebliche Genossin der Familie.
Hille blühte, denn auch sie hatte Schutz gefunden, Schutz vor dem erkältenden Hauche aussichtslosen Lebens, vor den schneidenden Sorgen um die Zukunft. Noch hatte sie nicht gelitten wie Pienchen, nur unbestimmtes Bangen erfaßte sie, wenn sie der Schwester Klagen und Anklagen vernahm. Klagen über die erbärmliche, freudlose Gegenwart, Klagen über das trostlos Kommende, Anklage gegen das Schicksal, das Allen, Allen Glück spendete … Allen, nur ihr nicht. Hille war noch zu jung, um das Leben in seinem vollen Ernst zu begreifen, noch erschien es ihr Spielzeug, wie die Jahre der Kindheit, noch fürchtete sie sich nicht wie Pienchen vor dem Gespenste der zu erwartenden Tage. Und doch fühlte auch sie ahnend den Druck, unter dem Pienchen ermattete, er beschlich sie wie das Luftgift einer ansteckenden Krankheit, gegen deren Ausbruch sich ihre gesündere Natur wehrte, wenn auch auf Kosten des jugendfrohen Gedeihens.
Nun aber war alle Sorge machtlos an ihr, der graue Schleier der Zukunft war lichtes Morgenroth geworden, dessen verheißender Widerschein Hilles Wangen färbte, als wären sie schwellende Knospen Sylter Rosen.
»An Ihnen Fräulein, sieht man, wie Sylt gut thut,« sagte Eschels Meike. –
Ei, dumme Meike, das hatte ja der Brief auf dem angebrannten Papier gethan.
Niemals kamen so viel Briefe auf angebranntem Papier nach Westerland als in dieser Zeit, die Adresse mit schöner, kaufmännisch angeleiteter Handschrift geschrieben, das H in Hille mit besonderem Schwung. Der letzte Brief jedoch war von Minna und auch nicht postlagernd, wie sonst einer der mit schöner Aufschrift, wie gestochen. »Liebe Hille,« schrieb sie zum Schluß, »ich freue mich sehr, daß Du zum Ball gehen wirst. Mein Bruder sagt, wenn er da wäre, er würde nur allein mit Dir tanzen, liebe Hille, und, liebe Hille, er würde sein Wort halten. O, liebe Hille, wir zählen die Tage, daß Du kommst. Der liebe Gott segne Dich, liebe Hille, indem Du meinen Bruder so glücklich machst.«
»Ich werde mir den Fuß verstauchen,« sprach Hille zu sich, »da merkt Mama nichts und Pienchen auch nichts.«
Daß Hille der Mutter sich nicht anzuvertrauen wagte, das hatte seine guten Gründe; was aber hielt sie ab, Pienchen ihr Glück mitzutheilen?
Eben das Glück.
Pienchen hatte wieder böse Stunden gehabt. Der Verkehr mit den Herren war ja angenehm, schon aus dem Grunde, weil es das Einerlei des auf sich allein Verwiesenseins unterbrach und die Bitterkeitsausbrüche der Mutter einschränkte. Aber ihr schien, als wenn die Herren ihren Kenntnissen, ihrem Wissen nicht mit gebührender Schätzung begegneten und, wie studirten Männern allgemein nachgesagt wird, auch sie als zu duckende Mitbewerberin auf dem Gebiete des geistigen Kampfes ums Dasein absichtlich nicht vollwerthig gelten lassen wollten. Den Doktoren hätte sie gefragten Falls großes Uebergewicht zugestanden, dem Kollaborator wohl auf altsprachlichem Bereich, jedoch nie und nimmer in modernen Fächern die Herrschaft eingeräumt. Wie aber konnten der Maler und Herr Runft sich erdreisten, als Unstudirte ebenso von oben herabzublicken, wie die Studirten? Wie sollte sie über Himeyer denken, der sie gebeten, ihm historische Stoffe suchen zu helfen, da er auf der Schule in Geschichte »ungenügend« erhalten habe? War das Ernst gewesen? Und neulich – das Gespräch gerieth auf das Wachsthum der Pflanzen in dem weißen Seesande – als sie Alles sagte, was Herr Wergheim über Liebig vorgetragen, von den Nährbodensalzen und daß man Bohnen mit weichem Wasser kochen müsse, weil sie Kalk enthielten, der schädlich auf die Knochenbildung einwirke, hatte Herr Runft gefragt, ob sie Luzerne für geeignete Vorfrucht vor Weizen hielte oder Rapssaat? Was wollte er mit solcher Aufgabe, von der er voraussetzen mußte, daß sie einer Lehrerin, selbst einer mit ersten Zeugnissen, zu fachmännisch sei? Wollte man sich lustig machen?
Und die Mutter, die Mutter! Wie mißhandelte sie den Dativ, wie wenig schonte sie den Accusativ, wenn sie sich rechtes Ansehen geben wollte. Und wie peinlich, wenn sie die Vorzüge ihrer Töchter zur ungelegensten Zeit rühmte.
»Pienchen kann so ziemlich alle Sprachen,« hatte sie gesagt, »die sie nicht kann, garnicht mitgerechnet.«
Dr. Addison hatte gerufen. »Seht doch mal.« Darauf hatten die Uebrigen sich abgewandt, Heiterkeit zu verbergen. Es war rücksichtslos von Dr. Addison … sie haßte ihn.
Und was sollte es bedeuten, daß Dr. Haller ihr stets und stets versicherte, Herr Kollaborator Brömmer sei ein herzensguter Mensch, dessen Trefflichkeit bei näherem Umgange sicherlich zum Vorschein kommen werde, ein bescheidener Mann, der nur der Aufmunterung bedürfe, um seine etwas kleinstädtische Zurückhaltung abzulegen. Was sollte das bedeuten? Nein, nein, keine Antwort auf diese Frage! Es überlief sie siedendheiß.
Wäre doch nur ein Wesen, dem sie ihre Zweifel, ihre Besorgnisse offenbaren könnte, ein Wesen, das wahr gegen sie wäre, wahr, nur wahr.
Keiner war aufrichtig gegen sie, Keiner. Allerdings die Mutter war aufrichtig, grausam aufrichtig.
»Wenn Du nun nicht recht gesund wirst?« fragte sie.
Pienchen schwieg.
»Wenn Du das Stundengeben nun nicht vertragen kannst?«
Keine Antwort.
»Du bist dickköpfig. Du erzürnst Dich mit Deinen Herrschaften und dann ist's aus!«
»Ich gehe nur zu wirklich gebildeten Leuten.«
»Geh man! Wenn Du meinst, die Stellen sind zum Aussuchen vollauf, da irrst Du Dir, mein' Dochter. Hunderte jampeln nach Stellen; meinst Du, ich hätt' mich nicht erkundigt? Und hast Du Empfehlungen? Hast Du Zeugnisse von zufriedenen Familien? Und was verdienst Du? Eine perfekte Köchin kriegt mehr.«
»Mutter! Mutter!«
»So is es!«
»Warum kommst Du mir jetzt damit? Warum nicht früher?«
»Weil ich mich auch erst belernt habe, und weil ich bis heute vergeblich nach einer Stelle für Dich in den Zeitungen gesucht. Ueberall ist es nichts. Die Briefe kannst Du selbst lesen: einer ist wie der andere: Spottgehalt.«
»Ich schränke mich ein …«
»Ja Kind, wenn Du gesund wärst wie Eine vom Lande, dann wollte ich nichts gesagt haben. Aber die Gedächtniß-Anstrengung mit dem Examen – wo Du so mächtig schwach nach geworden bist – das mußt Du doch einsehn, Pienchen! Das Schriftliche macht klapprig. Kind, bedenke doch, wenn Du im fremden Hause nicht weiter kannst, und sie stoßen mit Dir herum, wie mit'n gesplissenen Mineralwasserkrug …«
»Mutter!«
»Kind, weine nicht; ich will ja nur Dein Bestes. Du machst Dir nichts aus Heirathen … ich zwinge Dich nicht, gewiß nicht, wenn aber Einer um Dich anhielte und Du weist ihn ab, schieb' nicht die Schuld auf mich, wenn Du's hinterher bereust. In der Ehe muß man sich an sein Glück gewöhnen, das ist mal nicht anders. Aber Du willst ja nicht.«
Pienchen schüttelte verneinend das Haupt. Sie war kraftlos zusammengebrochen. Ihre Träume von Selbstständigkeit waren verschwunden. So hinfällig war sie jetzt, so hinfällig, daß sie zu Allem Ja und Ja gesagt hätte, was von ihr verlangt worden wäre.
»Mutter, lege Deine Hand auf meine Stirn, mir will der Kopf zerspringen.«
Die Mutter that also, wie die Tochter bat. Pienchen schloß die Augen; unter den müden Lidern quollen Thränen hervor, schwere, langsame Thränen.
Leise setzte sich die Mutter zu Pienchen auf das Sopha. »Lehne Dich an, mein Pienchen.« Gehorsam, wie ein kleines Kind, folgte die Tochter und barg das bleiche Antlitz an der Mutter Brust. »So ist es gut,« flüsterte sie, »gut, wie bei Onkel Chlotar.«
»Hätte der an seine Verwandten gedacht,« seufzte die Mutter, »alle Noth wär' uns erspart, dann hätten wir zu leben. Sieh', Pienchen, wenn Du Dich doch einmal auswärts versuchen willst, da ist Frau Kapitän Lotz, die wünscht ein junges Mädchen um sich zu haben, als Gesellschafterin und so, das wäre vielleicht ein Posten für Dich. Gute Verpflegung und wenig Arbeit; mehr aus Freundschaft. Was meinst Du, Pienchen? Gingst Du wohl mit ihr nach Hamburg?«
»Und von Hamburg nach England,« flüsterte Pienchen. »Das wäre ein Anfang. Ja, Mama, das möchte ich.«
Und neu belebt von Hoffnung, erholte Pienchen sich gar rasch. Gleich wollte sie zur Kapitän Lotz.
»Morgen Kind, morgen; ich mach' erst Alles in die Reihe.«
»Morgen erst? Nun hab' ich nicht mehr die Freude daran. Erst morgen.«
Frau Lahmann und Frau Lotz hatten Kaffee-Freundschaft geschlossen. Die zugluftscheue Kapitänin fand die Berlinerin zu nett zum Klöhnen. Für wen setzte sie denn auch Nachmittags ihre Wehbänderhaube auf, wenn nicht für Besuch?
Kam Frau Lahmann, gab es reichlich Kaffee und reichlich Kuchen; ließ sich die eine oder andere Bekanntschaft dazu anmelden, gab es auch Eingemachtes und Frau Lotz prangte in dem schweren schwarzen Ripskleide, hatte die lange dicke goldene Uhrkette angelegt, die massiven Armbänder und die theuerste Haube mit den echten Blonden und den breiten lichtrothen Moireebändern auf. Sie war dann prachtvoll, wie ein Ladenfenster in der Weihnachtswoche.
Obgleich Frau Lotz nie ausging, war sie dennoch von Allem unterrichtet, was vorfiel. Welche von ihren Bekanntinnen etwas Neues erfuhr, eilte, die Süßigkeit der Erstmittheilung zu schlecken, das Erstaunen der Ueberraschten als Botenlohn einzuheimsen, und wie Elias von den Kolkraben mit Brod, ward Frau Lotz von den Klatschkrähen mit Neuigkeiten gefüttert. Ihre regelmäßige geistige Speise entnahm sie jedoch den Zeitungen, zumal des Morgens, wenn die Tagesblätter eben so frisch waren, wie die Semmeln. Nur war das Leiden, daß die Augen nicht recht wollten … es mußte Zug darauf geschlagen sein. Bei ihr kam Alles von Zug.
»Die Augen muß man schonen,« sagte die Lahmann. »Wenn Sie wüßten, liebe Frau Kapitän, wie schon mein Pienchen vorliest …«
»So? Kann sie das?
»Darauf hat sie Examen abgelegt. Pienchen macht sich ein Vergnügen daraus …«
»Es zucht hier so auf'n Sylt, meine Nerven bebern manchmal ordentlich …«
»Sie müßten Jemand haben, zur Gesellschaft.«
»Mein Christian meint es auch. Aber weiß man, was man für eine kriegt?«
»Ich werde mich für Sie umsehen, liebe Frau Kapitänin.«
»Auf gutes Lohn und Geschenke soll es mir garnicht ankommen. Wir haben es ja dazu.«
Nun sollte Pienchen bei Frau Lotz etliche Stunden des Tages angehende Gesellschaftsdame versuchen. Das klang standesgemäß: Gesellschaftsdame. Die Mutter aber dachte: »Bei reichen kinderlosen Leuten, wie Tochter im Hause. – Nur entfernte Verwandte als Erben. – Da liegt Musike drin.«