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Zwölftes Kapitel
Das seriöse Verlagsgeschäft«, sagte Hayley zu dem jungen, aufstrebenden Mann, der ihnen gegenübersaß, »ist zum Tode verurteilt. In kriegerischen Zeiten wie den heutigen ist es den Menschen sehr leicht gemacht, sich mit dem Tod und allen damit zusammenhängenden Problemen zu beschäftigen, und zwar durch die Anschauung. Sie können auf die Beschreibung in den Büchern verzichten. Wenn ich nicht zwei Werke militärwissenschaftlichen Inhalts im Verlage hätte, die jeder angehende Offizier kennen muß, da könnte ich mein Firmenschild vom Hause nehmen. Vor wenigen Minuten war ich gezwungen, einem unserer hervorragendsten Gelehrten zu erklären, daß ich sein neuestes Werk nicht verlegen könne, da ich dafür, außer bei einigen Bibliotheken, keinen Absatz finde.«
»Auch ein ganz junger Verleger ist nicht neugierig«, antwortete der junge Mann, »denn fast immer wird seine Neugierde als Interesse ausgelegt, und dann gerät er in eine schwache Position, aus der er nur schwer wieder herauskommt. Als ich eben kam, lief ein älterer Herr im Hausgang hin und her und betrachtete immer wieder von neuem alle dort 347 vorhandenen Ecken. Ist dieser vielleicht der von Ihnen erwähnte Gelehrte, und ist er ein Archäologe? Ihr Haus scheint mir uralt zu sein!«
»Nein, er ist kein Archäologe«, antwortete Hayley, »es ist der berühmte Naturforscher und Statistiker Professor Buffers. Er hat mir sein neuestes Werk angeboten, aber ich mußte sein Angebot ablehnen. Jetzt wird er seinen Regenschirm suchen, den er wahrscheinlich im Hausflur abgestellt hat. Er ist sehr vergeßlich. Man sagt, er gehe nie ohne Regenschirm aus und komme nie mit einem Regenschirm nach Hause. Höchstens einmal mit einem andern.«
Hayley lachte herzlich, der junge Verleger noch herzlicher, denn er sah in einer Ecke Hayleys Regenschirm stehen und dachte an die netten Geschichten, die über Hayleys Regenschirme im Umlauf waren. Deswegen frug er auch:
»Reiten Sie noch viel, Herr Hayley?«
»Nein, nicht mehr. Zur Reiterei gehört Geld, und da die Geschäfte derzeit so miserabel gehen, kann ich mir diesen kostspieligen Sport nicht mehr erlauben.«
Nun war das Gespräch wieder zu seinem Ausgangspunkt zurückgekehrt und wäre wahrscheinlich zu einem Ende gekommen, wenn nicht ein Angestellter eingetreten wäre und Hayley mitgeteilt hätte, daß Herr William Blake um eine Unterredung bitte. 348
»Haben Sie ihm gesagt, daß ich hier bin?«
»Nein, Herr Hayley!«
»Dann sagen Sie ihm, ich sei auf einer Geschäftsreise in Nordengland.«
»Sehr wohl, Herr Hayley!«
Als der Angestellte gegangen war, meinte der junge Verleger:
»Man kann immer etwas lernen, besonders wenn man noch jung ist. Warum empfangen Sie diesen Blake nicht, der doch, soviel ich weiß, einer Ihrer Autoren oder Zeichner ist? Verkehren Sie aus prinzipiellen Gründen mit Ihren Mitarbeitern nur schriftlich? Es hat sicher etwas für sich.«
»Blake ist nicht mehr mein Mitarbeiter; er hat mich grenzenlos beleidigt. Er hat einen bösartigen Vierzeiler auf mich geschrieben.«
»Jawohl, davon habe ich schon etwas gehört!«
»Sehen Sie! Alle Kollegen kennen ihn. Ich muß in meinem Geschäftsinteresse dafür sorgen, daß der Vers vergessen wird, und das kann nur dadurch geschehen, daß man Blake vergißt.«
»Aber man erzählt sich doch, daß Ihr Zeugnis Blake gerettet hat?«
»Ja, als Nebenergebnis. Ich hatte einen Zwist mit dem Vorsitzenden des Gerichts, dem Herzog von Richmond, und die Gelegenheit, sich an einem so hohen Herrn 349 zu rächen, kommt nicht alle Tage.«
»Da haben Sie ganz recht. Einer nach dem andern und der mächtigste nur unter günstigen Umständen zuerst. Ich möchte wissen, ob Blake einen andern Verleger findet.«
»Gewiß! Wahrscheinlich kurz nach seinem Tode. Das soll er auch, ich bin nicht nachträglich; besonders dann, wenn ich vorher gestorben bin und es nicht mehr weiß.«
»Sie halten also doch Blake für einen bedeutenden Dichter und Maler?«
»Für einen der bedeutendsten, und ich werde ihn durch mein Verhalten in die spärliche Reihe unserer größten Meister bringen.«
Der junge Verleger dachte rasch darüber nach, ob er schon einmal gehört habe, daß Hayley geisteskrank sei. Das war nicht der Fall. Er frug:
»Wie meinen Sie das, Herr Hayley?«
»Kleinere Geister gehen durch Nichtbeachtung zugrunde. Große, wie Blake es unzweifelhaft ist, wachsen ins Ewige. Mit immer bedeutenderen Werken wird er hoffen, sich durchzusetzen. Ich werde dafür sorgen, daß es ihm zu seinen und meinen Lebzeiten nicht gelingt.«
»Sie sind grausam, Herr Hayley!«
»Gar nicht grausam, mein lieber Freund, denn ich 350 könnte bei aller Anstrengung Blake in unserer Zeit nicht populär machen, und für Blake selbst bedeutet die Hoffnung mehr als Erfüllung.«
»Und wozu das alles, Herr Hayley?«
»Das will ich Ihnen sagen: Wenn die Welt in hundert Jahren Blakes Vierzeiler liest, und er ist ein kleiner Poet, dann lacht man höchstens über mich. Ist er in hundert Jahren der größte Dichter unserer Zeit, dann gewinnt der Vierzeiler ein ganz anderes Gesicht. Dann werden auch die bösartigsten Verse sehr ehrenvoll. Eine kluge Frau hat mich auf den Gedanken gebracht. Verstehen Sie ihn?«
Der junge Verleger geriet in ein Dilemma. Er hätte am liebsten »nein« gesagt, aber das konnte er heute noch nicht riskieren. Er sagte deswegen »ja« und war innerlich nicht unbefriedigt darüber, daß die nun erwiesene Geisteskrankheit des größten Verlegers der größten Stadt der Welt originell und keine landläufige war.
»Otium cum dignate«, sagte Generalmajor Sir Reginald Bulber zum Maler Fuseli, »diesen Ausspruch wirft einem jeder Redner an den Kopf, der mithilft, dem verdienten Manne den Laufpaß zu geben, und die Gelegenheit benutzt, um mit ein paar Brocken Latein zu prunken. Man soll in Zukunft mit Würden ruhen. 351 Aber kann man mit Würde ruhen, wenn man aus seinen Würden herausgeworfen wird?«
»Es ist ein saudummer Ausspruch«, antwortete Fuseli, und er badete sich förmlich in dem Wort ›saudumm‹, »aber hat man Sie denn nicht zum Ehrenpräsidenten der Verwaltung des Marine- und Armeewarenhauses gemacht? Ich an Ihrer Stelle würde jeden Tag einen Spaziergang durch die Firma machen, mit einem abschließenden Besuch an der Hauptkasse. Ich ließe mir die Ehre teuer bezahlen!«
»Das müssen sie schon sowieso, lieber Herr Fuseli, ohne daß ich an die Kasse gehe, ich habe seinerzeit einen sehr günstigen Vertrag abgeschlossen; aber es ist mir peinlich, Geld einzustecken ohne irgendeine Gegenleistung. Seitdem Sir Herbert Linlithgow an der Spitze der Verwaltung steht, ist es morgen das erstemal, daß ich in meinem Amt als Ehrenpräsident etwas leisten kann. Ich langweile mich zu Tode.«
»Lieber General, das ist die Aufgabe aller Leute, die pensioniert werden, und jede Verwaltung hat den sehnlichen Wunsch, daß diese Aufgabe so schnell wie möglich ein Ende findet. Dem muß der Pensionierte entgegenarbeiten und sich schon in den Geschäftszeiten einen Lieblingssport zulegen, dem er dann bei seiner Pensionierung sein ganzes Interesse widmet. Damit schlägt er den bösen Wünschen der andern 352 ein Schnippchen. Leider ist das bei den meisten Pensionierten nicht der Fall, und deswegen kommen sie mit einem baldigen Tod den Wünschen der andern entgegen.«
»Sie sind ein großer Philosoph«, rief der General und faßte Fuseli unter dem Arm, »die Bekanntschaft mit Ihnen wirkt unbedingt verlängernd auf mein Leben.«
Sir Reginald Bulber hatte den Maler Fuseli durch Professor Buffers kennengelernt. Die beiden hatten sehr rasch aneinander Gefallen gefunden, denn beide gehörten zu den wenigen Menschen, die nie aus ihrem Herzen eine Mördergrube machen und ihre Meinungen sofort, nicht mehr oder weniger, sondern mehr als nötig, zum Ausdruck bringen.
Seitdem Fuseli Sir Reginald Bulber kannte, warf er mit indischen Soldatenflüchen um sich, gottlob den wenigsten Menschen verständlich, dagegen erzählte Sir Reginald häufig lustige und intime Geschichten aus Malerkreisen, die indessen bei Damen nicht immer volles Verständnis fanden.
Aber da Sir Reginald schon lange vor den Pointen in ein lautes Gelächter ausbrach und die Pointen noch mit einem rauheren Gelächter begleitete, so freute man sich im großen und ganzen über den Erzähler und kam selten in die Lage, sich über die Erzählungen 353 zu ärgern. Und das war gut so.
Sir Reginald liebte Fuseli, und man kann einem Kunstmaler seine Liebe und Freundschaft nicht besser beweisen als dadurch, daß man ihm einen lohnenden Auftrag verschafft. In dem Sitzungssaal des Marine- und Armeewarenhauses befand sich noch genügend Platz, um ein schönes Porträt aufzuhängen, und Sir Reginald war fest entschlossen, die nackte Wand mit Hilfe Fuselis verschwinden zu lassen und dadurch dem Marine- und Armeewarenhaus, seinem Freund Fuseli und schließlich auch sich selbst einen Dienst zu erweisen.
Er lud also Fuseli für die morgige Generalversammlung ein, der zwar erst ablehnte, aber schließlich durch den öfteren Hinweis auf die nackte Wand die Einladung akzeptierte.
Über die Wichtigkeit dieser Generalversammlung liefen die merkwürdigsten Gerüchte umher. Eines dieser Gerüchte beruhte schon von Anfang an auf Wahrheit. Der Kriegsminister Purple hatte sich mit einem ganzen Stab seiner Offiziere angesagt, und es kamen sogar anstatt angesagter dreizehn deren vierundfünfzig. Ob dabei die Mitteilung der Firma, daß sie alle Gäste zu einem frugalen Imbiß einladen würde, eine große Rolle gespielt hat, vermag ich nicht anzugeben. 354
Ein zweites Gerücht konnte sich erst am Schluß der Sitzung eventuell als Wahrheit herausstellen, nämlich, daß am Ende der Sitzung keine lebende Ratte mehr in den Kellern und in den Warenlagern des Marine- und Armeewarenhauses existieren würde. Dieses Gerücht glaubten selbst die ursprünglichsten Verbreiter am wenigsten. –
Früh am Morgen brachten Soldaten, die fast durchweg Brillen trugen, also zweifellos im Kriegsministerium beschäftigt wurden, eine Anzahl merkwürdiger Apparate ins Warenhaus und verteilten sie an den Plätzen, wo sich die Ratten wie zu Hause fühlten. Die Ratten glaubten, daß sich in diesen Gefäßen ein besonderes Festessen befinde und verhielten sich in Anwesenheit der bebrillten Soldaten sehr manierlich. Erst als diese fort waren, versuchten sie, den Inhalt kennenzulernen. Da die Gefäße fest verschlossen waren, wurden sie böse und schimpften auf die Menschen, die nicht verstanden, daß Ratten zu allen und nicht nur zu bestimmten Tageszeiten fressen wollen und können.
Inzwischen versammelten sich im Sitzungssaale des Warenhauses die Teilnehmer an dieser denkwürdigen Sitzung. Generalmajor Sir Reginald Bulber war mißgestimmt, als er den Lehnstuhl des Ehrenpräsidenten unter dem Porträt des vorletzten Direktors des 355 Warenhauses vorfand. Eigenhändig schleifte er ihn an eine andere Stelle, nämlich an die leere Wand, wo noch kein Porträt hing. Sofort begann die leere Wand zu reden: Warum bin ich noch immer nackt, warum bin ich noch immer nackt?
Mylord Purple trat pünktlich auf die Minute ein, woraus die Wichtigkeit der Sitzung ersichtlich ist, die vierundfünfzig Offiziere waren schon eine halbe Stunde vorher da und die aufgestellten Portweinflaschen schon eine Viertelstunde vor Beginn der Sitzung leer. Der Maler Fuseli kam erst fünf Minuten vor Eröffnung der Sitzung und warf mit vielen indischen Redensarten um sich, als er die durchweg leeren Flaschen sah.
Gottlob verstanden ihn die wenigsten Anwesenden, denn die Mehrheit bestand aus Offizieren des Kriegsministeriums, und die Zivilisten gehörten den hochgebildeten Kreisen Londons an; aber es waren doch gleich einige frische Flaschen im Saal.
Fuseli fluchte fortan bis zu seinem Lebensende nur noch auf Indisch, immer mit den Vorteilen und nie mit den Nachteilen des Fluchens. –
Betty hatte früh am Morgen die geheimnisvollen Gefäße beschnuppert und dank ihrem ausgeprägten Geruchsinn einige Wahrnehmungen gemacht, die den andern Katzen infolge ihrer minderwertigen Rasse abgingen. Sie beschloß, daraus ihre Vorteile zu ziehen, 356 und demgemäß war ihre Rede eine ganze Dosis hinterhältiger als diejenige, die der Kriegsminister Lord Purple den im Sitzungssaal versammelten Menschen hielt. Lord Purple lobte die Direktion des Warenhauses nicht stärker, als ein Minister loben darf, um nicht in Verdacht zu geraten. Betty, die englische Katze, wußte, daß man indische Katzen ohne Grenzen beschmeicheln kann. Insbesondere lobte sie ihren Generalstabschef, die Katze mit den deformierten Pfoten. Sie war die intelligenteste Katze und von allen am gefährlichsten. Während ihrer Rede – und sie sprach, bis sie ganz heiser wurde – funkelten ihre schönen Augen in einem mystischen Lichte, dessen Reiz sich keine der Katzen entziehen konnte, vielleicht weil es aus einem Gemisch aus Angst und Mordlust bestand und ihren eigenen Seelenzustand treffend wiedergab. Als Betty unter sich das eilige Trampeln von vielen schweren Soldatenstiefeln hörte, umarmte sie die Katze mit den deformierten Pfoten und bat sie, mit ihr hinunter zu den Ratten zu steigen, denn es gäbe dort etwas Interessantes und Entscheidendes zu sehen. Die Katze mit den deformierten Pfoten war durch die lange Rede in eine Art Hypnose geraten und folgte ihr willenlos.
Eben waren noch einige Soldaten dabei, eine Lücke in der Kellertüre zu schließen, aus der weißgrüne Dämpfe 357 hervorschlängelten. Wie die Katze mit den deformierten Pfoten in den Keller gelangte, kann ich nicht angeben. Auf alle Fälle muß sie sich, wenn es freiwillig geschah, sehr angestrengt haben, denn an der schmalen Öffnung waren später Blutspuren zu erkennen. Betty kehrte allein in das Arbeitszimmer Sir Herberts zurück und bat nun die dicke Katze, ihr zu folgen. Die dicke Katze folgte ihr wie im Traum und wurde, da der Spalt inzwischen verstopft war, durch eine zerbrochene Scheibe in den Keller eingelassen, die gleich darauf von einem Soldaten, den das aufgeregte Miauen Bettys herbeigerufen hatte, verstopft wurde. Soviel ich weiß, mit einigen Lumpen. Der Soldat streichelte dann Betty und meldete ihre bewiesene Umsicht dem aufsichtführenden Offizier, und als Betty eine halbe Stunde später allein an der Verbindungstüre hockte, die Linlithgows Arbeitszimmer von dem Sitzungssaal trennte und eifrig lauschte, was dort vorging, da wußte schon Kriegsminister Lord Purple, welchen hervorragenden Anteil Betty an dem Erfolg des Experiments hatte. Glück und Entschlossenheit sind auch im Tierleben Faktoren, die den Erfolg verbürgen.
Genau zwei Stunden nach der Eröffnung der Sitzung flüsterte ein Offizier dem Kriegsminister einige Worte ins Ohr. Der Kriegsminister ergriff auch sofort sein Portweinglas. Aber ehe er sich erheben konnte, öffnete 358 sich das Arbeitszimmer Sir Herberts, Betty sprang heraus und dem Minister sofort auf den Schoß. Im ersten Augenblick wollte Lord Purple Betty abschütteln, aber da er nicht wußte, ob sie sich nicht an seiner Hose festkrallen würde, blieb er sitzen, streichelte sie und hielt so seine Rede. In Gegenwart von vierundfünfzig seiner Offiziere befleißigte er sich einer militärischen Kürze. Dem stand nichts im Wege, denn wenn tatsächlich ein Erfolg vorliegt, dann ist man nicht gezwungen, lange daran herumzureden, insbesondere wenn man die Mittel, die zu diesem Erfolg führten, geheimhalten will.
In kurzen Worten teilte also Lord Purple den atemlos lauschenden Zuhörern mit, daß in diesem Augenblick keine lebende Ratte mehr in den Kellern des Marine- und Armeewarenhauses existiere, und daß dieses Nagetier in absehbarer Zeit der Vergangenheit angehören würde.
Da inzwischen die bebrillten Soldaten die geheimnisvollen Gefäße abmontierten und darüber noch einige Zeit vergehen mußte, erteilte der Ehrenpräsident, das einzige Mal, wo er zum Wort kam, dem Professor Buffers den Auftrag, seine Arbeit »über den effektiven Schaden der Freßgier der Ratten im Verlaufe der neueren Geschichte« zur Vorlesung zu bringen.
Da die Statistik in diesem Vortrag einen breiten Raum 359 einnahm, dauerte er sehr lange. Betty schlief auf dem Schoße des Kriegsministers ein, auch viele der Anwesenden auf ihren Stühlen, weil ihr Interesse für diese neue Wissenschaft nicht sehr groß war.
Als Buffers geendet hatte, waren auch die Aufräumungsarbeiten in den Kellern des Warenhauses beendet und die schlechte Luft abgezogen. Die Leichen der Ratten hatte man natürlich liegen gelassen und sogar noch mehr in den Vordergrund geschoben.
Sämtliche Anwesenden, mit Lord Purple und Betty an der Spitze, zogen durch sämtliche Räume und waren über den Anblick, der sich ihnen bot, hocherfreut. Niemand war da, der nicht auch Worte des Lobes für Betty fand, die unentwegt an den Beinen des Ministers vorbeistrich und ihn einmal fast zu Fall gebracht hätte. Aber der Minister wäre auch dadurch nicht aus seiner glänzenden Laune herausgebracht worden.
Der einzige Mann, der sich nicht an dem Rundgang beteiligte, war der Ehrenpräsident der Gesellschaft. Er blieb unter der weißen Wand sitzen und hoffte bei der Rückkehr der Versammlung, daß sie ihm und der weißen Wand die verdiente Aufmerksamkeit schenken würde.
Das geschah auch, und gerade von seiten des Kriegsministers. Als Sir Reginald die nachdenklichen Blicke Lord Purples sah, nickte er dem Maler Fuseli. 360
Lord Purple griff an sein Glas und hielt seine zweite Rede an diesem Tage. Er sprach aber nicht über die großen Verdienste des Generalmajors Sir Reginald Bulber, sondern über diejenigen der Katze Betty, deren rücksichtsloser Einsatz für die Belange des Marine- und Armeewarenhauses und damit für England zu diesem Erfolg in erster Linie beigetragen habe.
Unter stürmischem Beifall der Versammlung schlug er vor, die große Katze von einem bedeutenden Maler abkonterfeien zu lassen und die noch leere weiße Wand mit ihrem Porträt zu schmücken.
Außer Generalmajor Sir Reginald Bulber und dem Maler Fuseli, dessen Stimme aber als ungültig betrachtet wurde und der seinem Ärger darüber mit einigen indischen Redensarten Ausdruck gab, war niemand dagegen.
Der Antrag Lord Purples wurde zum Beschluß erhoben und der anwesende Kunstmaler Fuseli mit der Ausführung betraut.
Da ein beträchtliches Honorar ausgesetzt wurde, konnte Fuseli den Auftrag nicht ablehnen, aber er rächte seinen Freund. Und dadurch, daß er zwar in die Mitte des Bildes, in ihrem ganzen Selbstbewußtsein, die berühmteste Katze Englands setzte, aber an allen vier Ecken Tierköpfe, die tief in das Bild hineinragten. Oben rechts war es ein Affenkopf mit den 361 Gesichtszügen Sir Herberts, oben links ein Kamel mit den Gesichtszügen Professor Buffers, unten links ein Löwe mit den eigenen und unten rechts ein Esel mit denjenigen Lord Purples.
Daß Lord Purple kein Esel war, bezeichnet die Tatsache, daß er in Zukunft nie das Warenhaus betrat, ohne längere Zeit vor dem Meisterwerk Fuselis gestanden zu haben. Die Katze betrachtete er nicht lange, aber um so länger den Eselskopf rechts unten in der Ecke und nickte ihm freundlich zu.
Ja, es gelang ihm sogar einmal, den gnädigen König unter einem Vorwand in das Marine- und Armeewarenhaus und dann in das Sitzungszimmer zu bringen, kurz nachdem beide eine heftige Auseinandersetzung gehabt hatten.
Der König betrachtete die Katze, sah nur die Katze und sprach über sie und ihre Verdienste einige bedeutende Worte, bis er keine mehr fand. Dann wollte er weitergehen. Da griff Lord Purple in das Wehrgehenke des neben ihm stehenden Flügeladjutanten Seiner Majestät, zog den Degen heraus, fuhr mit der Spitze um den Kopf des Esels und sagte:
». . . Und das bin ich, Eure Majestät!«
Der gnädige König nickte und lachte darauf sehr laut, bis ihm ein unangenehmer Gedanke kam. Da ging sein königliches Lachen in einen Husten über. 362
William Blake hatte Felpham für immer verlassen und war nach London gezogen. In der South-Melton-Straße Nummer 19 fand er ein passendes Quartier, ein ziemlich großes, etwas dunkles Zimmer, aber mit einer herrlichen, hellen Küche.
An dem Tage, wo er den Verleger Hayley besucht hatte, war er sehr schweigsam. Wenn William schweigsam war, dann sprach Frau Katherine um so mehr.
»Wir werden hier doch billiger leben als in Felpham«, sagte sie, »es ist ein Irrtum, wenn man glaubt, daß das Landleben nicht kostspielig sei. Niemand besucht uns hier unter dem Vorwand, daß er einmal gute Landluft genießen will, die ja nichts kostet. Aber die frische Landluft ist für den Besucher unzertrennlich geknüpft an die frischen Landeier, und die habe ich nicht umsonst bekommen. Wenn ich nur an Varley denke! Zum Frühstück aß er vier Landeier bei der Lady Hesketh, und wenn er dann zu uns kam, sah er mich so lange vorwurfsvoll an, bis ich ihm vier weitere Eier offerierte, und dann mußten es auch noch vier Spiegeleier sein, in sehr viel Butter gebacken, und du weißt doch, wie die Butter heute teuer ist. Weniger als vier Eier konnte ich doch dem großen, starken Mann nicht anbieten, und – William – so leid es mir für dich tut, aber deine Propheten sind 363 auch nicht billig gewesen. Beinahe jeden Tag zwei oder drei Propheten zum Mittagessen, das läuft ins Geld. Ich bin überzeugt, wir leben in der Stadt billiger als auf dem Land.«
»Wir müssen billiger leben, Katherine«, antwortete Blake, »wenigstens so lange, bis ich mich durchgesetzt habe.«
»Wie lange wird das noch dauern, William?«
»Ich weiß es nicht, Katherine.«
»Ich will es ja auch nicht auf den Tag wissen, William, aber sage wenigstens, wann ungefähr? In einem Jahr, in zwei Jahren, in zehn Jahren?«
»Es kann auch länger dauern, Katherine.«
»Aber, William, dann haben wir gar nichts mehr davon.«
»Ich vielleicht nicht, aber du. Es gibt manchen Schriftsteller, der nach seinem Tode sehr berühmt wurde und dessen Witwe so viel Geld bekam, daß sie gar nicht wußte, was sie damit anfangen sollte. Diese Frauen reisen nach der Schweiz und dann nach Italien, und dort heiraten sie dann meistens einen jungen Mann und kommen sehr glücklich nach London zurück. Ich versichere dir, Katherine, deine Aussichten sind gar nicht so schlecht, wie du denkst. Ich weiß, wer ich bin.«
Katherine Blake seufzte: 364
»Siehst du, William, damit gibst du dich zufrieden, und wenn die Menschen dir nicht glauben, dann drehst du ihnen den Rücken zu. Davon können wir aber nicht leben.«
William sagte:
»Sei froh, Katherine, daß ich den Menschen den Rücken zukehren kann, das hält mich aufrecht. Wer sich bücken kann, der kriecht auch bald und merkt es nicht. Willst du, daß ich um einiger Silberlinge wegen krieche und Staub fresse?«
»William, auch einer der Propheten, die dich besuchten, hat zu Lebzeiten Staub gegessen, so hast du mir wenigstens erzählt. Ist er dadurch in seiner Eigenschaft als Prophet geringer geworden?«
Blake schwieg.
»So sprich doch nicht immer in Gleichnissen, oder wie man das nennt«, klagte Frau Katherine, »in Dingen, die sich auf das tägliche Leben beziehen, ist das gewiß nicht notwendig, und mich strengt ein solches Gespräch so an, daß ich Kopfweh bekomme, und das willst du doch gewiß nicht, William?«
»Ach, Katherine«, sagte Blake nur noch, und Tränen standen in seinen Augen.
Katherine hatte Blake noch nie weinen sehen, und er sah so traurig und hilflos aus, daß sie große Angst bekam. 365
Sie stand von ihrem Platz auf, ging hinaus und schwur sich, niemals mehr Fragen dieser Art zu stellen. Erst einen Tag nach dem Tode ihres Gatten erzählte sie diese Geschichte dem Miniaturenmaler John Varley. Der Riese wiegte den Kopf hin und her, dann sah er lange Frau Katherine an und sagte nur:
»Sehr groß, Frau Blake, sehr groß!«
Und Katherine wußte nicht, wen oder was er für sehr groß hielt.
In dem Erdgeschoß des Hauses South-Melton-Straße Nummer 19 betrieb ein älterer Mann ein gutgehendes Metzgergeschäft.
»Haben Sie nichts dagegen, Herr Blake«, sagte er eines Tages besonders freundlich, als Blake ein paar Scheiben Schinken kaufen wollte, »wenn ich mich auch Künstler nenne? Sie sagen zu mir: Mister Miller, schneiden Sie mir vier dünne Scheiben Schinken, und wissen, daß Sie wirklich dünngeschnittene Scheiben Schinken erhalten. Und wie dünn! Sehen Sie her!« Er blies die Scheiben leicht an, und sie rollten sich sofort.
»Glauben Sie mir, Herr Blake, es gibt in ganz London keine vier Metzger, die so dünne Scheiben Schinken schneiden können wie ich. Sie lächeln, Herr Blake, aber stellen Sie sich vor, es kommt jemand in den 366 Laden und hat einen Groschen in der Hand und will dafür – nun, Schinken haben. Jeder Metzger schüttelt den Kopf und schneidet eine Scheibe Schinken ab und legt sie dem armen Mann hin. Haben Sie schon einmal in das Gesicht eines armen Menschen sehen können, dem der Metzger eine Scheibe Schinken hinlegt?«
»Jawohl«, sagte Blake, »ich gehöre auch dazu.«
»Von Ihnen spreche ich nicht, aber von all den andern. Nun, es gibt vier Metzger in London, die können so dünne Scheiben Schinken schneiden, daß sie dem armen Mann vier Scheiben hinlegen können, die nur das Gewicht einer gewöhnlichen Scheibe besitzen, Herr Blake! Haben Sie schon einmal in das Gesicht eines armen Menschen gesehen, der eine Scheibe Schinken erwartet und vier Scheiben erhält?«
»Nein«, sagte Blake.
»Aber Sie können sich das vorstellen, Herr Blake, denn Sie sind auch Dichter. Einer von den vier Metzgern, die merkwürdigerweise sehr miteinander befreundet sind, bin ich. Was meinen Sie, darf ich mich Künstler nennen?«
»Sie können sich Künstler und Dichter nennen, Herr Miller«, meinte Blake, »es ist gar nicht gesagt, daß Sie zum Beweis Gedrucktes vorlegen müssen. Ich habe das auch einmal geglaubt, aber heute liegen in meinen Schubladen Dramen, so viele, wie Shakespeare 367 geschrieben hat, und warten darauf, eines Tages als Licht zu dienen.«
»Nur das nicht«, rief Mister Miller, »verbranntes Papier nützt selbst keinem Geschäftsmann mehr etwas.« Mit diesen Worten wickelte er die vier Scheiben wieder aus dem Papier und legte sie nochmals auf die Waage.
»Das ist noch nie dagewesen«, rief er dann mit bewegter Stimme, »zum erstenmal ist es mir geglückt, nicht nur vier Scheiben für einen Groschen zu schneiden, sondern fünf. Ich hatte gemerkt, daß Sie, Herr Blake, nicht Ihr ganzes Gewicht erhalten hatten und deswegen legte ich den Schinken noch einmal auf die Waage. Nun haben Sie das volle Gewicht in fünf Scheiben und kein Zehntelgramm mehr oder weniger. Das ist nun eine Leistung, die mir kein Metzger in ganz London nachmacht. Hier ist der Schinken und frisch eingewickelt. Guten Abend, Herr Kollege!«
Blake war eigentlich, abgesehen von wenigen Zornanfällen, immer gutgelaunt. Aber an diesem Abend so gut gelaunt, daß Frau Katherine staunte.
»Die Menschen sind doch viel besser«, meinte er, »als wir in unsern raschen Jahren glaubten. Wir lernten in die Falten zu sehen und sahen viel Gutes. – Miller ist ein anständiger Mensch, er hatte den Schinken in eine Seite meines Kataloges vom Jahre 1805 368 eingewickelt, und um mich das nicht merken zu lassen, wurde er in wenigen Augenblicken zum wahren Dichter. Hundert böse Kritiker, die mich abgeschlachtet haben, pardoniere ich und lege sie auf die eine Waagschale und das gute Herz Millers auf die andere, und sie sinkt . . . nein, sie schnellt fröhlich hinauf an das Herz Gottes!«
»William, wie kannst du so etwas sagen? Wenn das Herz des Metzgermeisters Miller schwerer wiegen soll als die Seelen von hundert Kritikern, dann zieht doch die Waage nach unten? Das willst du aber doch gar nicht sagen? Und wenn du noch weiter behauptest, daß die Waage mit dem Herzen Millers bis zum Herzen Gottes schnellen würde, ich glaube, dann würde sich Gott bedanken, so ans Herz getroffen zu werden. William, ich habe bemerkt, daß du immer falsche Bilder gebrauchst, wenn du in Begeisterung kommst, und dann kann ich die Gescheiteren unter deinen Kritikern ganz gut verstehen, wenn ich auch nur eine einfache Frau bin.«
»Katherine, nicht die Bilder sind das Wesentliche, sondern die Begeisterung, die diese nach deiner Meinung falschen Bilder veranlaßt. Der Geist der Begeisterung strömt in diese falschen Bilder, und Gottes und der Wahrheit Pulsschlag mischt sich mit ihnen und dadurch . . . Nicht traurig werden, Katherine!« 369
Blake verließ die South-Melton-Straße Nummer 19 und zog nach Fontain Court Nummer 3. Das Zimmer war kleiner und noch etwas dunkler, auch die Küche war nicht sehr hell, aber sie ging auf einen großen viereckigen Hof hinaus, und Blake konnte das Leben und Treiben der Menschen beobachten.
Wenn die Kinder Ringelreihen tanzten, saß er stets am Fenster und zeichnete. Aber nicht die Kinder, sondern die alten Propheten, wie sie am Mittag aus dem Glanze der Mittagssonne heraus in das Haus in Felpham traten und Gastfreundschaft heischten. Sie trugen abgetragene Kleider und lange Bärte, aber ihre Augen blitzten in jugendlichem Feuer; sie gingen im Tanzschritt, und ihre Gebärden waren die Gebärden von Kindern, die bereit sind, sich an den Händen zu fassen.
Eines Tages sah er, wie ein wohl fünfjähriges Kind von seiner Mutter Abschied nahm. Eine alte Frau stand dabei, und die Mutter hob das Kind in die Höhe und küßte es unter strömenden Tränen. Das Kind stemmte seine Fäustchen gegen die Brust der Mutter, schrie und wehrte sich. Da setzte die Mutter das Kind wieder auf den Boden. Das Kind lächelte nun, und das Gesicht der Mutter war sehr traurig. Dann nahm die alte Frau das Kind an der Hand und ging mit ihm über den Hof, dem Ausgang zu. In der Mitte des 370 Hofes blieb das Kind stehen und rief: Mutter! Die Mutter aber, die inzwischen in den dunkeln Hausflur gegangen war, trat wieder heraus und winkte dem Kinde mit dem Taschentuch zu, und Blake sah nun, daß sie unter Tränen lächelte. Da ging das Kind wieder einen Schritt weiter, drehte sich um und rief: Mutter! Und diesmal klang sein Ruf so, als ob es die Mutter bitten würde, zu ihm zu kommen. Aber die Mutter blieb an der Haustüre stehen, winkte mit ihrem Taschentuch, und da sie dann näher an den Hausflur trat, konnte Blake ihr Gesicht nicht mehr erkennen. Aber er sah, wie die alte Frau das Kind zum Hofausgang zog, wie der Ruf des Kindes immer schneller, schmerzlicher und sehnsüchtiger wurde, und als das Kind plötzlich laut schrie, da wußte er, daß die Mutter nun im dunkeln Hausflur stand, an die Wand gelehnt, und ihr Taschentuch an die Augen preßte und einsamer war als er in seinem ganzen Leben.
Da schloß er das Fenster, ging an den Küchentisch, setzte sich und stützte sein Gesicht mit den Händen. Er weinte nicht, aber Frau Katherine glaubte, daß sie ihren Mann zum zweitenmal im Leben weinen sah. Sie öffnete leise die Türe und verließ den Raum.
An einem Morgen hielt unter einem Kastanienbaum, dem einzigen größeren Baum im Umkreis, eine sehr 371 vornehme Kutsche. Auf dem Bock saß ein dicker, ein sehr dicker und würdiger Kutscher, und hinten auf einem silbergestrichenen Brett standen zwei lange, hagere Diener mit geflochtenen Zöpfen. Der würdige Kutscher trug eine mächtige gepuderte Perücke und schwitzte trotzdem so wenig wie die zwei hageren Diener.
Als das junge, schöne Mädchen mit dem Florentiner Strohhut in den Händen ausstieg, dem Fontain Court entgegenging, den Blick nach rückwärts warf und das Gespann betrachtete, da saß der dicke Kutscher noch immer unbeweglich auf seinem hohen Sitz, die beiden Diener standen unbeweglich dicht nebeneinander, und auch die silbergrauen Pferde bewegten sich kaum, obwohl es ein sehr warmer Tag war. Es waren ja zwei vornehme Pferde, zwei vornehme Diener, ein märchenhaft vornehmer Kutscher, aber das Mädchen war ganz einfach und jung und trug einen Florentiner Strohhut an einem breiten Seidenband in der Hand. Auf dem Hofe saßen auf niedrigen Stühlen einige Frauen und schwatzten, Kinder tanzten Ringelreihen. Das junge Mädchen trat an die Frauen heran, und als es näher kam, erhoben sich die Frauen, denn sie hatten erkannt, daß der Strohhut an dem breiten Seidenband sehr wertvoll war.
Das Mädchen frug mit einer hohen Stimme, die den 372 Klang einer Silberglocke hatte, ob hier ein Maler namens William Blake wohne.
Die Frauen wußten es nicht, aber eines der tanzenden Kinder ließ die Hand des Nachbarkindes los und wies nach oben.
Da schritt das Mädchen mit einem kleinen, dummen Gefühl im Rücken entschlossen auf den dunkeln Gang zu, und sein weißblondes Haar erhellte den Korridor und die enge Treppe, die in den zweiten Stock führte. William Blake stand an der Türe, und als das Mädchen kam, nahm er es an der Hand und leitete es zu seinem Lieblingsplatz an dem Küchenfenster. Mit einer Handbewegung bat er es, Platz zu nehmen, und das Mädchen setzte sich.
Blake hatte früher oft Besuch empfangen von sehr bedeutenden Leuten, mit dem Propheten angefangen bis zu Oliver Cromwell, der Lordprotektor gewesen war; aber mit vornehmen Damen hatte er wenig zu tun gehabt. Immerhin, er glaubte seine Sache recht gut gemacht zu haben. Er wußte auch, daß man vornehme Damen mit der Konversation beginnen lassen muß, weil sie dadurch dem Gespräch die gewünschte Richtung geben und verhindern, daß die Männer Unsinn sprechen. Also wartete er und konnte warten, denn Katherine war ausgegangen. Das Mädchen sah auf und sagte: 373
»Kennen Sie mich, Herr Blake? Wenn meine Mutter wüßte, daß ich Sie besuche, dann hätte sie keine ruhige Minute mehr.«
»Ich bin ein alter Mann, mein Fräulein, und ich glaube, daß Ihre Frau Mutter auch so keine ruhige Minute hat.«
»Und da sagen Sie nun, Herr Blake, daß Sie meine Mutter nicht kennen? Aber dafür achtet Sie meine Großmutter um so mehr, denn Ihnen verdankt sie, daß ihre Ehe glücklich wurde. Jetzt aber wissen Sie bestimmt, wer meine Großmutter ist?«
»Vielleicht, aber ich sehe nur Sie vor mir sitzen und möchte Sie zeichnen!«
»Gewiß, Herr Blake, kommen Sie zu mir, oder besser, kommen Sie zu meiner Großmutter. Sie wird sich freuen, Sie zu sehen, und dort können Sie mich auch ungestört zeichnen.«
»Ich möchte Sie hier zeichnen, mein Fräulein!«
Das Mädchen warf einen ungewissen Blick durch die Küche. Blake fing ihn auf und sagte:
»Was führt Sie zu mir? Ich nehme nicht an, daß Sie nur zu mir kamen, um mir von Ihrer Frau Großmutter zu erzählen?«
»Nein, Herr Blake. Der Vater meiner Mutter war Admiral, und dessen Bruder war Pfarrer, und dieser Pfarrer hat einen Enkel, den ich kenne.« 374
»Bravo, Sie sind ein sehr klares Mädchen«, rief Blake, »und der Enkel des Pfarrers sollte glücklich mit Ihnen werden!«
Das Mädchen wurde rot im Gesicht, nicht weil es sich schämte, sondern weil es nicht ganz leicht war, den Gedankengängen Blakes zu folgen, und es hatte doch die feste Absicht, es zu tun.
Es sagte:
»Mein Vater hat sehr viel Geld, und der Enkel des Pfarrers gar keines.«
Blake antwortete:
»Dann lassen Sie doch das Geld Ihres Vaters fahren! Ich habe nur einmal im Leben zehn Goldstücke auf einem Häufchen gesehen und die gierigen Blicke der Menschen darauf. Da schrieb ich einen Vers und legte ihn zu dem Goldhäufchen:
Schätzt euch der Adler den Abgrund ab, Ist's an dem Maulwurf, daß er die Frage lös'? Meßt ihr die Weisheit mit einem Silberstab Oder die Liebe in einem gold'nen Gefäß? |
Das Geld gehörte Fuseli, und die wenigst gierigen Blicke darauf warf Varley. Vielleicht, weil er doch einen Teil davon abbekam, um sich wieder einmal von seinen Schulden zu befreien.«
»Ich habe von Varley 375 auch schon gehört«, sagte das Mädchen, »Großmutter erzählt, er sei ein guter Freund von Ihnen und der stärkste Mann, den sie im ganzen Leben getroffen habe. Und Großmutter hat viele Männer getroffen. Sie erzählte mir, Varley hätte in seinem Zorn um ein Haar eine ganze Stadt in Trümmer gelegt.«
»Ich weiß«, antwortete Blake, »und dann durch seine Pillen wieder aufgerichtet.«
Blake, der sich inzwischen gesetzt hatte, stand wieder auf.
Das Mädchen sagte dann rasch:
»Der Enkel des Pfarrers ist auch sehr stark, aber kann man glücklich werden, wenn man kein Geld hat und sehr reiche Verwandte?«
Blake antwortete:
»Es ist wohl schwerer als für jemand, der arm ist unter Armen!«
Als er den traurigen Blick des Mädchens sah, legte er ganz vorsichtig den Arm um seine schlanke Hüfte und flüsterte:
». . . oder die Liebe in einem gold'nen Gefäß?«
Er nahm das Mädchen wieder an die Hand und führte es durch die Küche, zog die Schubladen auf und zeigte ihm, was an Geräten da war. Dann ging er mit ihm in das dunkle Wohnzimmer, öffnete die Schränke, gestattete dem Mädchen einen Blick hinein und kehrte 376 dann mit ihm in die Küche zurück.
»Ich bin eines armen Mannes Sohn gewesen, und meine Frau war die Tochter eines armen Gärtners. Für das, was ich gearbeitet habe in meinem Leben, es ist viel gewesen . . .«
Das Mädchen flüsterte: »Großmutter sagt, Sie seien der größte Dichter Englands!«
». . . Für das, was ich gearbeitet habe in meinem Leben, erzielte ich nicht mehr, als der Leibkutscher einer Herzogin in einem Jahre an Gage erhält.«
Das Mädchen flüsterte:
»Meine Großmutter ist Herzogin!«
»Aber, mein Fräulein, wenn ich mein Leben betrachte, so bin ich doch im großen und ganzen sehr glücklich gewesen, und ich glaube, meine Katherine auch, – ganz ohne Geld. Und wenn ich Ihnen etwas wünschen darf, mein Fräulein, so wünsche ich Ihnen, daß Sie ein so schönes Leben führen dürfen wie ich, denn mein Leben ist nicht arm gewesen, mein Leben war reich: Gott gebe Ihnen das gleiche.«
Das junge Mädchen haschte nach der Hand Blakes, um sie zu küssen. Er entzog sie ihr rasch, trat an den Tisch und fand, wohl zum ersten Male in seinem Leben, schnell, was er suchte.
Das Mädchen las: 377
Geheimnis der Liebe | |
Sprich nicht von deiner Liebe, Lieb' bietet sich nicht dar! Ein sanfter Wind muß wehen, Schweigsam und unsichtbar. |
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Ich sprach und sprach zur Liebe, Schüttet' mein Herz ihr aus; Da zittert' sie in kalter Angst Und ging zur Tür hinaus. |
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Und da sie kaum gegangen war, Ein Wanderer schritt vorbei; War schweigsam und war unsichtbar: Nahm sie mit leisem Schrei. |
Als das Mädchen geendet hatte, legte es das Blatt auf den Tisch und sagte:
»Hätte ich nicht von meiner Liebe sprechen dürfen, Herr Blake?«
Blake drückte ihr das Blatt wieder in die Hand:
»Mit mir durften Sie es, aber nicht mit ihm!«
»Ich will es, wenn Sie es sagen, aber warum darf ich es nicht? Ich habe Ihr Gedicht noch nicht ganz verstanden!« 378
Da legte Blake den Finger auf den Mund, schlich auf den Fußspitzen an die Türe und öffnete sie. Er lächelte ermunternd. Da sprang das junge, schöne Ding hinaus, wie ein kleines Bürgermädchen, mäßigte erst in der Nähe des Kastanienbaumes seinen beschwingten Schritt, und als es in den Wagen stieg, erst dann war es wieder die einzige Enkelin ihrer Gnaden, der Frau Herzogin von Richmond. Der würdige Kutscher saß unbeweglich auf seinem erhöhten Sitze, die beiden Diener standen unbeweglich nebeneinander. Nur die beiden silbergrauen Pferde scharrten und kapriolten, so daß der würdige Kutscher fast in Versuchung kam, über den unter Umständen notwendigen Gebrauch der Peitsche nachzudenken.
Einige Monate vor Blakes Tod, ich glaube, es war an dem Sterbetage Beethovens, stand Blake nicht wie gewohnt früh auf. Es war ein nebeliger, kalter Tag, und Katherine hatte, nach langen Beratungen mit sich selbst und sorgfältigem Abwägen des Für und Dawider, ein prasselndes Kaminfeuer entfacht.
Blake saß im Bett und malte an seinem »Alten vom Tage«. Ein Greis, mächtig von Gestalt, kniet in der Sonnenscheibe, und füllt sie fast ganz aus. Schwarze Wolken ziehen vorüber, und ein wilder Sturm begleitet sie. Der Alte trägt das wallende Haupthaar und 379 den langen Bart des Propheten, und der Sturm zerrt daran. Aber das Antlitz des Alten ist gelassen und ernst. Tief beugt er sich in den Abgrund, in der Hand hält er einen weitgeöffneten Zirkel. Des Zirkels Arme sind feurige Blitze, und sie fahren in die tiefste Tiefe der neunfachen Finsternis. Der Alte vom Tage mißt die Finsternis; denn die Finsternis ist meßbar und wägbar, und das ist eine Verheißung. Die feurigen Blitze, von der nervigen Hand in die Tiefe gesenkt, leuchten, die Strahlen der Sonne folgen ihnen nach, und die Ränder der vorüberjagenden Wolken glänzen hell. Der endliche Sieg des Tages wird errungen werden.
Blake schien mit seinem Werke zufrieden zu sein, denn oftmals hielt er das Bild weit von sich ab und nickte.
Frau Katherine saß am Kamin, in eine Handarbeit vertieft. Manchmal sah sie in das zuckende Spiel der Flammen, und einmal blickte sie angestrengt lange hinein und wischte sich die Augen.
»Was ist?« frug Blake.
»William«, antwortete Katherine, und ihre Stimme zitterte, »die Gnade ist über mich gekommen. Aus den Flammen tritt eine Gestalt und grüßt mich!«
»Siehst du«, sagte Blake, und legte lächelnd den Stift nieder, »ich habe es mir halbwegs gedacht. Du hast 380 so lange tapfer gerungen, daß Gott dir nicht die Gnade versagen konnte. Es war nicht ganz leicht mit mir, aber du bist tapfer gewesen, Gott will nicht, daß du ganz einsam bleibst.«
»Sage es noch einmal«, bat Katherine.
»Gott will nicht, daß du einsam bleibst: du bist sehr tapfer gewesen.« Dann nahm Blake den Stift wieder auf und malte weiter.
Die Gnade, die über Katherine Blake kam, blieb ihr bis zum Lebensende erhalten, aber es war nicht ganz die gleiche, wie sie William erfuhr. Keine Prophetenköpfe stiegen aus den flatternden Flammen, auch nicht Helden der Schlachten, auch nicht Helden des Geistes. Aber es waren ihr bekannte und vertraute Gesichter, wie dasjenige des biederen Metzgermeisters aus der South-Melton-Straße Nummer 19, der vor zwei Jahren am Schlagfluß gestorben war. Sie sprachen auch nicht mit Autorität über irdische und unirdische Dinge, und verlangten keineswegs, daß Katherine ihnen mit Ehrerbietung lauschte und dabei selber kaum zum Worte kam.
Im Gegenteil, sie hörten die Auseinandersetzungen Katherinens mit großer Aufmerksamkeit an, und wenn sie etwas frugen, dann waren es Fragen über Dinge, in denen Katherine genau Bescheid wußte. Die 381 Lebensmittelpreise von damals und heute spielten in den Unterhaltungen eine große Rolle, und auch die Krankheiten, mit denen die Verstorbenen geplagt waren und die dann die Ursachen wurden, daß sie nur noch auf diesem Wege sich mit Katherine unterhalten konnten, wurden ausgiebig behandelt. Dabei erfuhr Katherine auch, daß die meisten Menschen an ganz andern Krankheiten sterben, als ihre Ärzte glauben oder sie glauben machen. Sie war darüber aber nicht erstaunt. Nach dem Tode Williams saß sie lange Zeit, Tag und Nacht, an dem flackernden Feuer und wartete darauf, daß er ihr erscheinen würde. Aber er kam nicht, doch an seiner Stelle eine ihr bekannte alte Wäscherin aus Soho, die fünf Söhne hatte, und vier davon englische Soldaten, in der ganzen Welt zerstreut. Sie war am gleichen Tage wie William gestorben. Das gab für Katherine sehr viel Arbeit, denn sie konnte die gute Frau nicht abweisen, die am gleichen Tage mit ihrem William gestorben war. Sie war also sehr traurig, daß ihr William nicht erschien, »aber«, sagte sie eines Tages zu der Familie Library: »William ist mir der liebste Mensch auf Erden gewesen, aber er sprach oft so hoch daher, daß ich ihm gar nicht folgen konnte. Ich fürchte, daß, wenn er nun so lange mit den großen Geistern zusammen ist, er gar nicht mehr anders kann, und daß ich ihn mit meinem gewöhnlichen 382 Verstand nicht verstehen werde. Und ein Mensch wie William kann nicht für unsereins verständlich sprechen, besonders wenn er auch noch aus den Flammen sprechen muß. Ich würde weinen, wenn ich ihn nicht verstände, und das hat er auch schon im Leben nicht vertragen können. Es ist schon besser so.«
Jetzt muß ich vom Sterben William Blakes sprechen, und ich darf es nicht mit eigenen Worten tun, was mir aus einem triftigen Grund gar nicht gefällt: wenn nämlich der Schriftsteller seine Arbeit beendet, dann nimmt er noch einmal einen Anlauf und verneigt sich durch einen schönen Schluß vor dem Publikum. Besonders vor jenem Publikum, das eine Erzählung auf den letzten Seiten nachprüft, ob es auch eventuell die ersten Seiten lesen soll. Und dieses Publikum ist so groß!
Deswegen gibt es auch viele Schriftsteller, die sich sonst gerne der Arbeiten meistens verstorbener Kollegen bedienen und gegen Ende vollständig darauf verzichten, obwohl sie wissen, daß ihre Bücher dadurch nicht besser werden.
Wenn ich nun der Familie Library, was zu deutsch Bibliothek heißt, das Wort übergebe, so wird derjenige, der nachprüfen will, ob 383
Eine wahre englische Katze
oder
Das Buch von der Einsamkeit
und den wenigen Freunden
für ihn lesbar ist, nicht meine schriftstellerischen Eigenschaften beurteilen können, sondern diejenigen der Familie Library.
Ich weiß nicht, wer die Familie Library war, die diese Aufzeichnungen über das Sterben William Blakes hinterlassen hat, ich habe auch nichts in den Bibliotheken über sie gefunden. Aber ich werde selbst nichts Besseres und in den Bibliotheken nichts Schöneres finden können:
Blake hatte bereits sein 71. Jahr erreicht, da schwanden ihm seine Kräfte. Doch blieb er dabei immer froh und zufrieden bis zu seinem Ende. »Ich triumphiere«, sagte er, »im Sterben, und habe keinen Kummer als den, daß ich dich verlassen muß, Katherine; wir haben glücklich zusammen gelebt und haben lange gelebt, aber wir werden nun getrennt werden. Warum soll ich den Tod fürchten? Nein, ich fürchte ihn nicht. Ich habe mich bestrebt, zu leben, wie Christus gebietet, und habe gesucht, Gott treulich anzubeten in meinem Hause, wenn ich von niemand gesehen wurde.« Er 384 wurde immer schwächer und schwächer und konnte nicht mehr aufrecht sitzen; er lag in seinem Bett ohne andere Wartung und Pflege als die seiner Frau, welche selbst alt und schwach, der Hilfe anderer bedurfte. Der »Alte vom Tage« war ein solcher Liebling von Blake, daß er noch drei Tage vor seinem Tode, im Bette sitzend und durch ein Polster unterstützt, ihn mit den ausgesuchtesten Farben und in seiner besten Manier malte. Er entwarf und retuschierte wieder, hielt sein Werk vor sich hin und warf es dann weg, indem er ausrief: »Da! So wird es gut sein! Ich kann es nicht besser machen!« Da sah er seine Frau in Tränen, sie fühlte, daß es seine letzte Arbeit sei. »Bleib stehen, Katherine!« rief er, »bleib in der Stellung, die du eben einnahmst, ich will dich zeichnen, denn du bist mir immer ein Engel gewesen.« Sie gehorchte, und der sterbende Künstler entwarf ein schönes Bild. Die wahre Freudigkeit, mit der dieser besondere Mann den Tod empfing, machte seine letzten Augenblicke sehr ergreifend. Er lag da und sang Lieder, und Gedichte und Gesang waren beide die Erzeugnisse des Augenblicks. Er beklagte dabei, daß er diese Eingebungen, wie er sie nannte, nicht mehr aufzeichnen konnte. »Katherine«, sagte er, »ich bin ein veränderlicher Mann, ich stand immer auf und schrieb meine Gedanken nieder, es mochte nun regnen, schneien oder 385 die Sonne scheinen, und du standest auch auf und setztest dich an meine Seite, das kann nun nicht mehr länger so bleiben.«
Es war am 12. August 1827, daß William Blake die letzte Veränderung erlebte, ohne erkennbare Schmerzen.
»Seine Frau«, schreibt ein Biograph, »saß bei ihm und wachte, und wurde des Augenblicks nicht gewahr, da sein Atem stille stand.