Heinrich Stilling
Eine wahre englische Katze
Heinrich Stilling

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Elftes Kapitel

Einen Tag vor der Eröffnung des Staatsprozesses gegen William Blake hatte Fuseli zwei Plätze in dem Postwagen belegt, der nach Chichester fuhr. Für sich und Varley. Aber Varley war nicht zu finden. »Gott verflucht«, tobte Fuseli, »was mich dieser Bursche schon für Geld gekostet hat, das geht auf keine Kuhhaut. Wenn ich vor meiner Sophie sterbe und rein gar nichts hinterlasse, dann muß ich ihr auf dem Totenbette sagen:

›Geh zu Varley und sieh nach, ob er noch etwas hat. Und wenn noch etwas da ist, da nimm es ihm gleich fort, denn alles, was er hat, stammt von mir. Aber es wird schon nichts da sein.‹«

Aber Varley war bereits in Chichester eingetroffen. Acht Tage lang war er auf der Landstraße marschiert, und nach jeder Meile hatte er an einem Baum nächst der Landstraße seine derzeitigen Kräfte ausprobiert. Ältere Bäume setzten ihm heftigen Widerstand entgegen, aber eine Reihe junger Tannen, die in den Straßengräben lagen, bezeichneten den Weg, den er genommen hatte, und es muß zugegeben werden, daß es immer stärkere Bäume wurden, je näher er seinem 313 Ziele kam. Ja, Varleys Kraft wuchs in diesen Tagen beinahe ins Unglaubliche. Ein junger Eichbaum, der vor einigen Jahren zu Ehren Seiner Majestät dicht vor den Toren von Chichester gepflanzt worden war, mußte mit allen Wurzeln daran glauben, und wenn ein halbes Dutzend Polizisten an der Stelle von einem Dutzend Kinder, die Varleys Kraft ehrfurchtsvoll bewunderten, seinem Meisterstreich beigewohnt hätten, dann wäre er wohl auch auf das Rathaus gekommen, aber keineswegs in so gehobener Stimmung.

Auf dem Rathaus angelangt, verlangte er von dem Diener, sofort in den Saal geführt zu werden, der für den Hochverratsprozeß Blake bestimmt sei. Obwohl Varley durch die lange Wanderung und die großen Anstrengungen etwas reduziert aussah, imponierte er doch durch seine mächtige Gestalt und durch seine starke Stimme, die keinen Widerspruch aufkommen ließ. Varley stieg in dem großen Rathaussaal auf die Empore und hielt sich dort längere Zeit auf. Dann kam er wieder herunter und schien durchaus befriedigt. Dem Diener drückte er mehrere seiner berühmten Pillen als Trinkgeld in die Hand und machte ihn dabei darauf aufmerksam, daß sie besonders gut für Erdbeben geeignet seien.

»Nehmen Sie«, so sagte er, »ein Stück vor der Eröffnung der Gerichtsverhandlung, ein Stück während der 314 Gerichtsverhandlung und ein Stück bei der Urteilsverkündung. Aber die letzte Pille nehmen Sie im Freien und hundert Meter vom Rathaus entfernt. Sie werden Ihr blaues Wunder erleben.«

Dann schritt er majestätisch davon.

Der Ratsdiener sah ihm nach. Die drei Pillen hielt er in der geschlossenen Hand, und als Varley außer Sicht war, roch er daran. Sie waren absolut geruchlos.

 

Sir Herbert Linlithgow hatte Betty und ihren Generalstab in seinem Arbeitszimmer eingeschlossen und die Fensterläden heruntergelassen. Der Raum sah für die Katzen recht gemütlich aus, aber ihre Stimmung war sehr schlecht.

»Innerhalb zwölf Stunden«, hatte er zu Betty gesagt, »wird mir ein Plan vorgelegt, der geeignet ist, in weiteren vierundzwanzig Stunden alle im Marine- und Armeewarenhaus befindlichen Ratten auf möglichst humane Weise (Linlithgow war ein Schotte und daher geneigt, die Humanität nicht zu vergessen) auszurotten. Wenn dir, liebe Betty, und deinem Stab das nicht möglich ist, dann muß ich, so leid es mir tut, auf alle weiteren Dienste verzichten. Ich habe nämlich einen Plan, bei dem eure Mitwirkung absolut nicht notwendig ist.«

Mit einem Menschen, dessen Dienste absolut nicht 315 mehr notwendig sind, macht man selten Umstände, obwohl die Statistik behauptet, daß das in unserer Zeit viel besser geworden sei. Tiere, die nicht mehr notwendig sind, behandelte man aber ganz sicher zu allen Zeiten gleich, und deswegen wird man die pessimistische Stimmung der Katzen verstehen, die traurig rund um den Schreibtisch des Sir Herbert hockten.

Immerhin war Betty nicht ganz so niedergeschlagen wie ihre drei Gefährtinnen, denn sie war schließlich eine wahre englische Katze, während die andern drei aus Indien stammten und sich demnächst auf landläufige Art umbringen lassen mußten, ohne eine Bitte um eine vornehme Todesart wagen zu dürfen. –

Die Stimmung der drei indobritischen Katzen war so verzweifelt, daß sie in einer gemeinsamen Vorkonferenz beschlossen hatten, Betty auf die gleiche Weise zum Tode zu bringen, wie es ihnen durch Menschenhand beschieden war. Das war natürlich ein nutzloser und gleichzeitig ein lächerlicher Beschluß, aber die drei Katzen hatten nun schon so lange mit den Menschen zusammengelebt, daß sie tierische und menschliche Handlungen in den gleichen Topf warfen. –

Daß der Plan nicht ausgeführt wurde und Betty leben blieb und Ahnfrau einer Dynastie hervorragender, wirklicher englischer Katzen wurde, verdankt sie den deformierten Pfoten jener indischen Katze, die einmal 316 die Aufmerksamkeit Professor Buffers hervorgerufen hatte und dann eine sehr rasche Karriere machte. Diese Katze behauptete, daß sie nicht zupacken könne und gegen Blutvergießen eine Abneigung besitze, obwohl sie indirekt das grausamste Katzenwesen war, das wahrscheinlich überhaupt je gelebt hat. Obwohl selbst eine indische Katze, hatte sie nicht gezögert, an Stelle Bettys, die standhaft ihre Unterschrift verweigerte, den Vernichtungsbefehl Sir Herberts mit großem Behagen gegenzuzeichnen. –

Große Gedanken bleiben so lange in der Luft hängen, bis die Menschen zusammenkommen, die Macht genug haben, diese Gedanken auszuführen. Wenn dann diese Gedanken (ihrer Meinung nach) von ihnen selbst sind, dann steht der Ausführung nichts mehr im Wege. Zur gleichen Zeit, als die Katzen traurig in dem Arbeitszimmer Sir Herberts hockten, saß er mit seinem Onkel, Professor Buffers, an dem Schreibtisch des Kriegsministers Lord Purple.

Lord Purple hatte den beiden Herren von einer ganz geheim zu behandelnden Erfindung berichtet, die er, das heißt einer seiner Offiziere, gemacht hatte, und von der Professor Buffers sofort behauptete, daß sie eigentlich sein geistiges Eigentum sei, obwohl er mit diesem Offizier diese Erfindung schon lange diskutiert hatte. Auch Sir Herbert reklamierte sie für sich, 317 denn er hatte sie aus einem Notizbuch des Offiziers kennengelernt, das sein Onkel auf der Straße vor seinem Haus verloren hatte. Er hatte das aber durch die vielen Aufregungen der letzten Zeit vergessen. – Bei den gegenwärtigen freundschaftlichen Beziehungen kam man aber bald zu einem Beschluß, und noch am gleichen Abend wurden die vier Katzen von Sir Herbert in Freiheit gesetzt.

Sir Herbert lächelte dabei gutmütig, nur die Putzfrauen waren sehr böse, als sie am nächsten Morgen, am Tage des Prozesses in Chichester, das Arbeitszimmer Sir Herberts betraten.

 

Es gibt Menschen, bei denen selbst der gewiegte Gastwirt erst bei Nichtbezahlung der Rechnung bemerkt, daß sie mit ausgefransten Hosen ihren Einzug gehalten haben.

Varley begab sich nach Besichtigung des Rathauses in den ersten Gasthof des Ortes, verlangte dort das beste Zimmer und ein reichhaltiges Nachtessen.

Ein reichliches Nachtessen kann jeder einigermaßen wendige Wirt beschaffen, das beste Zimmer ist sehr oft vergeben. In diesem Falle war es für Mister Pettycoat, den Kronanwalt aus London, bestimmt und das zweitbeste für den Professor Fuseli, gleichfalls aus London. Die eifrige Frage Varleys, ob Mister 318 Pettycoat aus London schon eingetroffen sei, konnte der Wirt in seinem und noch mehr im Interesse des Kronanwalts verneinen.

Von dem Professor Fuseli erzählte Varley, daß dieser seines Wissens ein Mann sei, der auf Komfort nicht den geringsten Wert lege und mit dem drittbesten oder sogar dem einfachsten Zimmer des Hauses zufrieden sei.

So erhielt Varley das zweitbeste Zimmer im Gasthaus und entfaltete eine außerordentliche Geschäftigkeit, sobald ihn der Wirt unter vielen Bücklingen empfangen hatte, die ihm eigentlich gestattet hätten, die ausgefransten Hosen Varleys näher zu betrachten. Einen netten Kalender, der das Zimmer schmückte, nahm er von der Wand, schnitt ihn mit Hilfe seines Rasiermessers in etwa ein Dutzend Teile und beschrieb die Rückseiten. Nachdem er das erledigt hatte, begab er sich in den Speisesaal, um das reichliche Nachtessen einzunehmen.

Kaum hatte er sich niedergelassen, als die Post vorfuhr, die Fuseli nach Chichester brachte.

Man kann sich die Wut Fuselis vorstellen, als er Varley vorfand, im Begriffe, der angenehmsten Beschäftigung der Menschen nachzugehen. In allen Tönen fluchend, nahm er den Teller Varleys und aß in seiner Aufregung alles auf, was auf dem Tische 319 stand, und das war nicht wenig. Varley saß schuldbewußt dabei, wagte kein Wort der Verteidigung, weil er keines fand, und ging später ohne Nachtessen in das zweitbeste Zimmer des Hauses.

So rächt sich im Leben alles und manchmal sofort, wie in diesem Falle. –

Fuseli wälzte sich schlaflos auf dem harten Bett in seiner Kammer, teils wegen des harten Bettes, teils in Angst um Blake, als Varley sich schon im Rathaus befand und seine am Tag vorher geschriebenen Zettel auf den Plätzen der Richter und des Anklagevertreters verteilte.

Nachdem dies geschehen war, stieg er auf die Tribüne, wo sich zwei Sitze zwischen zwei Säulen befanden, die seiner Ansicht nach den ganzen Bau trugen. Dann schlief er ein, obwohl er sich seit einiger Zeit angelegentlich mit der Lebensgeschichte des Apostels Petrus beschäftigt hatte und im entscheidenden Augenblick ganz anders handeln wollte wie dieser. –

Varley wurde durch das Stimmengewirr der ersten ankommenden Zuhörer aufgeweckt. Unter ihnen waren die Herzogin von Richmond und Lady Hesketh. Ihre Gnaden die Frau Herzogin trug unter ihrem Arm in einem Futteral einen Gegenstand, der einem Regenschirm ähnelte, aber es augenscheinlich nicht war.

Lady Hesketh führte Varley zur Herzogin. 320

»Das ist der Mann, der behauptet, ich werde mit sechzig Jahren meinen Kammerdiener heiraten«, meinte Lady Hesketh, als sie Varley der Herzogin vorstellte, »er hat sehr schlechte Manieren, er läuft in der Nacht ohne Abschied aus dem Haus, und zwei meiner Mädchen hatten acht Tage zu tun, um sein Zimmer wieder in Ordnung zu bringen. Immerhin, er scheint mir doch wenigstens ein guter Freund des Angeklagten zu sein.«

Varley war sehr verlegen und bot in seiner Verlegenheit den beiden Damen seine Pillen an, aber sie wurden refüsiert. Er sagte dabei:

»Das mit dem Kammerdiener ist doch nur ein Schreibfehler gewesen; ich wollte Kammerherr schreiben, und dagegen ist doch gewiß nichts einzuwenden.«

Da sich aber Lady Hesketh augenblicklich für den in ein Futteral eingewickelten Gegenstand interessierte, den die Frau Herzogin unter dem Arm trug, bekam er nicht die verdiente Antwort.

»Es ist das Fernrohr meines verstorbenen Vaters, des berühmten Admirals, der es dreißig Jahre lang benutzte und manche Seeschlacht damit gewonnen hat. Ich werde meinen Mann fixieren, und dann wird er aufgeregt und tut genau das Gegenteil von dem, was er vorhat. Denn daß er Blake schuldig sprechen will, nur um mich zu ärgern, darauf können Sie sich, 321 meine Liebe, verlassen.«

»Und ich falle im entscheidenden Moment in Ohnmacht«, sagte Lady Hesketh, »dann entsteht eine solche Aufregung, daß man Blake darüber vollständig vergißt oder ihn sogar aus Mitleid mit mir freispricht.« Es war ein entschiedener Irrtum. Eine ohnmächtige Frau kann Männer in ihren Beschlüssen niemals beeinflussen, das kann nur eine ganz wache Frau. –

Der Angeklagte William Blake trat mit seinem Verteidiger Samuel Rose ein. Blake betrachtete den Saal, der sich inzwischen ganz gefüllt hatte, sehr aufmerksam. Seine Blicke schweiften umher, und er begrüßte die ihm Bekannten mit einem freundlichen und freien Lächeln. Ihm schien diese Angelegenheit auf Tod oder Leben von keiner allzu großen Bedeutung zu sein. Samuel Rose blickte ernst auf den Boden. Er sah sehr schlecht aus und schritt mühselig vorwärts. Ein kleiner Mann mit einem großen schwarzen Vollbart hielt sich dicht an seiner Seite, stützte ihn, Rose selbst kaum bemerkbar, aber allen Anwesenden, und leitete ihn an seinen Platz. Dort saß er dann mit gesenktem Kopf und geschlossenen Augen und fast ohne Bewegung. Manchmal sank sein Kopf gegen die Brüstung, dann raffte er sich mit übermenschlicher Anstrengung zusammen und saß da wie der steinerne Gast.

Der kleine Mann mit dem schwarzen Vollbart flüsterte 322 Rose einige Worte ins Ohr, Rose nickte, und gleich darauf tauchte der kleine Mann auf der Empore auf, die rund um den Saal ging. Ungefähr Varley gegenüber setzte er sich dort in die erste Reihe. –

Der Kronanwalt trat ein, ein noch ziemlich junger Mann mit einem robusten, rosigen, frischen Gesicht. Jetzt wickelte die Herzogin hastig das Fernrohr ihres Vaters, des Admirals, aus dem Futteral und richtete es gegen die Pforte. Der Zug der Richter bewegte sich in den Saal mit Seiner Gnaden dem Herzog von Richmond an der Spitze. Der Zug stockte einen Augenblick, denn der Herzog sah das Fernrohr seines Schwiegervaters drohend auf sich gerichtet.

»Das ist die erste Wirkung«, flüsterte die Herzogin Varley zu, »zweifeln Sie an meinem Erfolg?«

»Eure Gnaden«, antwortete Varley, »kann nicht während vieler Stunden das schwere Fernrohr halten, das ist ganz unmöglich.«

»Sie scheinen mir ein starker Mann zu sein, Varley! Sie müssen mir das Fernrohr halten, und ich schaue hindurch. Mein vergrößerter Blick ruft die Wirkung hervor.«

So hielt Varley mit der rechten Hand das Fernrohr, damit die Herzogin hindurchschauen konnte, und mit der linken Hand umklammerte er eine der tragenden Säulen. Er war wirklich ein starker Mann. – 323

Der Zug der Richter bewegte sich weiter, und die Richter nahmen ihre Plätze ein. Als sie sich gesetzt hatten, begann sofort eine allgemeine, erregte Unterhaltung, die Varley mit großer Aufmerksamkeit verfolgte. Schließlich entstand daraus ein allgemeines Gelächter, das Varley sehr böse aufnahm und dafür die Richter zeitlebens in die Hölle wünschte.

Jeder der Richter hatte auf seinem Platz einen Zettel gefunden, gleich unterschrieben: »Ein Astrologe, der sich noch nie in seinem Leben getäuscht hat.« Die Zettel begannen auch alle mit den gleichen Sätzen, nämlich, daß die niedergeschriebenen Voraussagen nur in dem Falle eintreten werden, wenn der Angeklagte William Blake als schuldig erkannt würde, sonst wäre es mehr als wahrscheinlich, daß sich die Gestirne eines Bessern besännen. Die Voraussagen bei einer Verurteilung Blake waren mehr als grausamer Natur. Daß die Herzogin von Richmond während eines Wannenbades dem Herzog eigenhändig den Hals abschneiden würde, war noch nicht einmal so schlimm, denn etwas Ähnliches soll bereits in den Dramen von Shakespeare vorkommen und konnte von dem Astrologen dort entlehnt sein. Wenn er aber dem Raritätensammler Graf Egrinham voraussagte, daß er sich eines Tages in einem Anfall der Verzweiflung über die schreckliche Konstellation seiner 324 Sterne und über ein Fehlurteil mit einem Splitter seiner wertvollsten chinesischen Porzellanvase, die er extra zu diesem Zwecke zerschlug, die Schläfenadern öffnen würde, so war das entschieden eine originelle Art, aus dem Leben zu gehen.

Es ist nicht bekannt geworden, was Varley dem Anklagevertreter vorausgesagt hat, aber aus dem verbissenen Ton, mit dem der rosige Mann seine Anklage eröffnete, ging hervor, daß hier Varley seiner grausamen Phantasie überhaupt keine Grenzen gesetzt hatte. –

Der junge, rosige Mann erschien an Wissen ein Greis, und zwar ein Greis, der sich von den Windeln an mit der Geschichte des Hochverrats und speziell der Spionage beschäftigt hatte. Seine historischen Exkurse bewiesen gegen Ende hin schlagend, daß der Fall Blake alles in den Schatten stellte, was die Bösewichte aller Zeiten in dieser Hinsicht geleistet hatten.

»Einfache Spione«, sagte er, »ich möchte sie Wiesen- und Waldspione nennen, gab es und gibt es unzählige. Es ist für entgleiste Menschen, insbesondere in Kriegszeiten, die einfachste Art, Geld zu verdienen. Doppelte Spione, die ihre Kenntnisse nach beiden Seiten verwerten, gibt es schon weniger, denn dazu gehört eine besondere Intelligenz und Schlauheit. Dafür bringt diese Tätigkeit auch oft doppelt soviel ein wie die 325 ersterwähnte einfache Spionage. Sie ist in meinen Augen auch doppelt so strafbar, selbst wenn auf die einfache Spionage schon Todesstrafe gesetzt ist. Spione und Hochverräter, die nicht nur dieses Handwerk treiben, sondern sich dabei auch noch ihrer körperlichen Kräfte bedienen, die dann auch noch weit über dem Durchschnitt stehen, sind wegen dieser ihrer Doppelbegabung die weitaus gefährlichsten, wenn auch, gottlob, die seltensten. Die Voruntersuchung, bei der wir den Angeklagten aus gewissen Gründen in Freiheit ließen, hat ergeben, daß Blake sowohl ein nicht unbedeutender Maler wie auch ein nicht unbedeutender Schriftsteller ist. Es nimmt daher den Kriminalisten kein Wunder, daß der Doppelbegabung im ideellen Sinn eine Doppelbegabung, vielleicht eine Tripelbegabung im kriminellen Sinn, gegenübersteht, nämlich der Trieb zur Spionage, der Trieb, sein Opfer durch seine maßlosen körperlichen Kräfte zu schädigen, gesundheitlich schwer zu schädigen und schließlich eine unflätige Sprache, die weder vor unserem ganzen Volke noch vor unserem gnädigen König zurückschreckt.«

Der noch junge, rosige Mann setzte nach diesem langen Satz eine kurze Kunstpause an. Um dem Publikum anzudeuten, daß er aus dem Stegreif sprach, sah er in die Höhe, woher die freien Redner ihre Gedanken 326 beziehen, wenn sie ein Thema verlassen, um auf ein anderes überzugehen. Dabei fiel sein Blick auf das Fernrohr.

Wenige Augenblicke darauf trat ein Gerichtsdiener zur Herzogin und verlangte die Fortnahme des Fernrohrs. Die Herzogin war sehr empört, Varley nicht ganz unzufrieden, weil er seine Kräfte für eine andere Gelegenheit zusammenhalten mußte; der Kronanwalt traurig, als er den Namen der Dame erfuhr, jedoch schnell getröstet, wie ihm der Herzog dankbar zunickte.

Der Vertreter der Anklage wendete sich nun ausführlich der bisherigen Lebensgeschichte William Blakes zu. Blake folgte seinen Ausführungen gespannt, denn er erfuhr viele Dinge, die ihm bisher gänzlich unbekannt waren.

Daß es sich der Staatsanwalt nicht entgehen ließ, von den sogenannten prophetischen Gaben Blakes zu sprechen, um den später wirklich aufgehängten Hofkupferstecher eine ganze Zeitlang ins Leben zurückzurufen, verübelte er ihm nicht. Nur als er dann bemerkte, daß das eigentlich nur geschah, um an ihn die rhetorische Frage zu stellen, ob der vierzehnjährige Blake nicht auch vielleicht noch einen weiteren Galgen gesehen hätte, geziert mit seiner eigenen Persönlichkeit, da wurde er ärgerlich, aber er sagte kein Wort. 327 Um so lauter ließ sich Fuseli vernehmen, der ganz in der Nähe, im Rücken des Staatsanwaltes, saß. Da seine Äußerungen sehr rasch aufeinanderfolgten, ich möchte sagen, beinahe gleichzeitig, so konnte der Staatsanwalt nicht feststellen, wieviel Personen über seine rhetorische Frage erbost waren.

Er beschloß daher, abzuwarten, und ging zu einem neuen Thema über. Mit einer ausholenden Handbewegung, die über die ganze Zeugenbank fuhr, aber damit natürlich auch unbeabsichtigt über die Entlastungszeugen, zeigte er, was von dort alles zur Unterstützung seiner Anklage zu erwarten sei. Alsdann rief er namentlich auf und zuerst den Gardedragoner Schofield. Als Schofield vortrat, hatte er einen hochroten Kopf, aber schon seit dem Abend vorher. Das muß ich vorausschicken, ehe ich mich selbst zurückziehe und die Originalakten des Hochverratsprozesses Blake zu Worte kommen lasse.

Schofield gab von der Zeugenbank aus an, daß Blake die hochverräterischen Worte gesprochen habe, die in den Verhandlungsbericht aufgenommen worden waren. Sie sind auf Seite 4 des eben genannten Verhandlungsberichtes, auf Zeile 16 bis 18 protokolliert, von dem weiter oben genannten Dragoner Schofield gelesen und genehmigt und von Herrn Friedensrichter Tredcroft besiegelt worden. 328

»Blake sagte:

Erstens: zwei Worte, die wiedergegeben werden können! Nämlich: der König . . .

Zweitens: zwei weitere Worte, die nicht wiedergegeben werden können! Nämlich: weil sie eine Beleidigung sind und jedermann auf ihre Wiedergabe nicht angewiesen ist, weil er sie kennt.

Drittens: er sagte, daß in Kürze Napoleon in England landen werde und er dann an seiner Seite stände.«

Hier erhob sich Blake und rief zum Erstaunen des Gerichtshofes: »Falsch!«

»Blake erklärte weiter«, so fuhr der Zeuge Schofield fort, »daß alle Soldaten wie die Sklaven gekauft worden seien, und hat mehrmals gerufen: ›Der König, der verdammte König!‹ Kurzum, er hat in verruchter und aufrührerischer Weise versucht, unsern Herrn und König in Haß und Verachtung bei seinen Untertanen zu bringen.«

Nun bringt das Protokoll eine Bemerkung über Frau Katherine:

»Frau Blake war hinzugekommen und hat ihren Mann in seinen aufrührerischen Bemerkungen unterstützt, indem sie sagte, obwohl sie nur eine Frau sei, würde sie bis zum letzten Blutstropfen kämpfen und an der Seite der Franzosen marschieren, wenn sie landen würden. Der Angeklagte, so stark von seiner Frau 329 ermutigt, habe ihn, Schofield, aus dem Garten hinausgeworfen und wie ein Wahnsinniger auf ihn losgeschlagen.«

Frau Katherine hörte diese Worte, welche sich auf sie bezogen, ruhig an. Dann stand sie auf, drückte dem neben ihr sitzenden Fuseli die Hand und ging an dem Staatsanwalt vorbei in der Richtung auf die Anklagebank.

»Was wollen Sie?« herrschte sie der rosige Mann an.

»Ich bin Katherine Blake und will zu meinem Mann.«

»Was wollen Sie bei Ihrem Mann?«

»Mich zu ihm setzen.«

»Warum?«

»Weil der Herr Dragoner die Wahrheit gesagt hat: ich bin an allem schuld.«

Bei diesen Worten Katherinens wurde es mäuschenstill im Saale. Die Frauen betrachteten gespannt teils den rosigen Mann, teils die Jury und die Richter, die Männer alle Frau Katherine.

Der Staatsanwalt wurde unter den Blicken der Frauen liebenswürdig.

»Meine gute Frau Blake«, sagte er, »die Bemerkungen des Zeugen, die wir eben gehört haben, sind für die Anklagebehörde völlig neu und müßten in einem separaten Verfahren behandelt werden. Diese Absicht besteht aber bei uns nicht, denn der Dragoner 330 Schofield wird wohl kaum behaupten, daß auch Sie gegen ihn Gewalt angewendet haben. Und was Ihre Redensarten anbetrifft, so sind das lediglich Wiederholungen von Äußerungen Ihres Mannes. So betrachtet, sind sie interessant, aber nur interessant. Sowenig man einen Papagei . . .«

Der Staatsanwalt konnte nicht weiter sprechen. Ein Entrüstungssturm aller anwesenden Frauen setzte ein, geleitet von der schrillen Stimme der Lady Hesketh, die sehr gebildet war und sofort wußte, was der Staatsanwalt weiter sagen wollte.

Als der Sturm abebbte, verbesserte er sich und sagte: »Sowenig man einen Kanarienvogel . . .«

Da setzte der Sturm wieder ein, diesmal geführt von der Herzogin von Richmond, und endete erst, als Ihre Gnaden gänzlich erschöpft war. Der Staatsanwalt hörte sich den Sturm mit verschränkten Armen an, aber seine ersten Gedanken, die Zuhörer zu entfernen, verwarf er schnell, denn außer der Herzogin von Richmond und der Lady Hesketh erkannte er noch viele andere Damen der Gesellschaft, die sich mit Hilfe ihrer sozialen Positionen mit Händen und Füßen dagegen wehren würden und fähig waren, den glücklicherweise nicht vollendeten Satz an maßgebender Stelle als ausgesprochen glaubhaft zu machen. 331

Katherine Blake wußte nichts anderes zu tun, als ihr Taschentuch hervorzuziehen und zu weinen. Das rührte nun die Herzen der Männer sehr, und Fuseli und der Verleger Hayley sprangen gleichzeitig auf, um sie wieder an ihren Platz zurückzugeleiten. Der Anblick Hayleys erregte allgemeine Aufmerksamkeit. Er trug einen Verband in Turbanform um den Kopf und sah aus wie ein verwundeter Offizier, der noch vor kurzem auf dem Schlachtfeld gelegen hatte.

Kehren wir nun mit Vorsicht wieder zu den Akten zurück:

»Nach Schofield trat der Dragoner Cock vor und bestätigte als Augen- und Ohrenzeuge all das, was Schofield zu Protokoll gegeben hatte. Dann trat eine Pause ein, weil der Herr Kronanwalt nach einem dritten Belastungszeugen suchen ließ, der aber nicht erschienen war, ein alter Mann namens Jones. Dazu gab der Verteidiger Blakes eine Erklärung ab.«

Von dieser Erklärung habe ich in den Akten kein Wort gefunden, und dadurch wurde ich sehr mißtrauisch gegen die Akten und fand selbstverständlich andere Quellen. Mit diesen reichlich sprudelnden, nichtamtlichen, unparteiischen und reinen Quellen arbeite ich nun weiter. Der Zeuge Jones, der bekanntlich nichts mit den Gerichten zu tun haben wollte, war vor einiger Zeit gestorben, aber er wäre auch nicht 332 gekommen, wenn er gelebt hätte. Es gab um das Jahr 1800 herum noch mehr Ausreden als heute. Daß dieser tote Zeuge taub gewesen war, wußte Samuel Rose. Sitzend meldete er sich zu Wort und verwandelte durch einen ärztlichen Nachweis den Zeugen des Staatsanwalts in einen Zeugen der Verteidigung. Wenn das der tote Jones, der mit dem Gericht nichts zu tun haben wollte, gehört hätte, dann wäre er erfreut gewesen. Er hatte Humor.

Der Staatsanwalt rekapitulierte nunmehr nochmals die Äußerungen Blakes, woraus der Verteidiger sah, daß die Zeugenliste der Anklage nur aus den beiden Dragonern bestand.

Rose führte jetzt seine Zeugen vor. Doch bevor er den Hausdiener John vom Gasthof zum »Fuchsen« aufrufen ließ, bat er den Präsidenten des Gerichtshofes, den Dragoner Schofield noch einmal vortreten zu lassen.

»Sind Sie einst«, sagte er, »zum Sergeanten befördert und dann wegen Trunksucht degradiert worden?«

Schofield gab das widerstrebend zu.

Miß Haynes trat vor. Die Gerichtsakten nennen sie »eine wohlwollende und klardenkende Frau«. Nach meinen Forschungen war der Aktuar des Gerichts ihr Schwiegersohn, und so gewinnt diese gerichtsnotorische Äußerung noch bedeutend an Wert. Sie 333 beendete ihre außerordentlich günstigen Aussagen für Blake mit den Versen eines längeren Gedichtes des Angeklagten, das sie zu diesem Zwecke auswendig gelernt hatte. Sie vergaß es dem Herzog von Richmond nie mehr, daß er sie bei dem dritten Vers unterbrach.

Mister Hosier bezeugte, daß er Schofields Schwur gehört hatte, sich an Blake zu rächen und ihn, wenn möglich, an den Galgen zu bringen, eine Drohung, die er einen Tag nach der Auseinandersetzung aussprach. Nach einigen weiteren Zeugen, die alle für Blake günstig aussagten, trat schließlich der Verleger Hayley vor die Schranken. Er zitterte vor Erwartung in den Beinen, wie sein Reitpferd, wenn es vier Wochen ungeritten im Stalle stand und die Möglichkeit sah, wieder einmal in die Öffentlichkeit zu kommen. Er sprach, wie ein Verleger sprechen kann, zu dessen Autoren die besten Stilisten der Zeit gehören. Er redete mit Begeisterung von Blakes liebenswertem und friedlichem Charakter und der Vornehmheit seiner Veranlagung und der Sanftheit seines Wesens. Als er nach Beendigung seiner Vorlesung zufällig an seinen verwundeten Kopf griff, um festzustellen, ob der Verband noch hielt, da war außer Samuel Rose kaum noch jemand im Saal, der nicht dem Gericht angehörend an der Freisprechung Blakes zweifelte. 334

Samuel Rose sah den Staatsanwalt nicht an, denn er kannte dessen Meinung, aber er betrachtete den Herzog von Richmond und sah seine Blicke, die er nach der Tribüne richtete, auf der Ihre Gnaden, die Frau Herzogin, saß.

Nach einem letzten finsteren Blick erhob sich der Herzog.

Ein Zeitgenosse schreibt dazu:

»Der Herzog von Richmond, der während der Verhandlung einige unverantwortliche Bemerkungen gemacht hatte und sich Blake gegenüber durchaus voreingenommen benahm, hielt eine Ansprache, und ihr Inhalt war durchaus feindselig für Blake.«

Noch während der Rede des Herzogs war Samuel Rose aufgestanden. Mühselig aufgestanden, denn er hatte bisher die Verteidigung von seinem Sitze aus geführt. Sein Blick begegnete dem Blick Varleys auf der Tribüne. Da stand auch Varley auf, trat hinter seinen Platz und umklammerte beide Säulen. Die zwei Männer kannten sich nicht, aber Samuel Rose lächelte Varley zu, und Varley nickte mehrmals mit dem Kopf.

»Was machen Sie da?« frug Lady Hesketh den Miniaturenmaler aus London.

»Was Simson tat, als er keinen andern Ausweg wußte.«

Lady Hesketh war eine Engländerin, sie sagte nur: 335

»Schon jetzt, lieber Varley? Es ist meiner Meinung nach noch etwas zu früh.«

Die Herzogin von Richmond betrachtete den Koloß Varley, wie er breitbeinig dastand, und meinte nur: »Wie müssen Sie stark sein, Varley! Sind wir denn auch gleich tot?«

»Eure Gnaden, dafür möchte ich meine Hand ins Feuer legen. Und Ihr Herr Gemahl einige Sekunden später.«

»Dann ist es gut«, meinte die Herzogin und wickelte das Fernrohr ihres verstorbenen Vaters von neuem aus dem Futteral.

Die ersten Worte Samuel Roses waren kaum verständlich. Aber mählich wuchs die Kraft seiner Sprache und füllte den großen Raum. Es war nicht mehr der todkranke Mann, der sprach, es war das Unterhausmitglied, der Parteiführer Rose, dessen Worte einst im Parlament Stürme der Begeisterung hervorgerufen hatten.

Den Namen Blakes erwähnte er anfangs kaum. Er sprach von der gegenwärtigen politischen Lage Englands und davon, daß, wie schon so oft in seiner Geschichte, diese Lage fast hoffnungslos zu nennen sei. »Aber haben wir auch in den schwärzesten Stunden jemals verzweifelt? Wir sind in der Welt als sehr kühle Menschen verschrien. Ist aber unsere 336 Leidenschaftslosigkeit nicht ein großes Geschenk Gottes? Das tobende Meer zerschlägt die Schiffe, das aufbrausende Volk verliert den klaren Blick und stürzt in den Abgrund seiner Leidenschaft.«

Dann kam er auf den Hochverrat und die Spionage zu sprechen.

»Es gibt eine neue Wissenschaft, man nennt sie Statistik. Besäßen wir eine solche Statistik über Spione und Hochverräter, dann würden wir zweifelsfrei feststellen können, daß diese Pest unter uns Engländern am wenigsten verbreitet ist. Warum? Weil wir zu nüchtern sind und – zu vaterlandsliebend. Meine Ansichten über Hochverrat und Spionage stehen jenen des Herrn Kronanwalts diametral gegenüber. Der Herr Kronanwalt möge mir die Namen jener Engländer nennen, die gegen England in England spioniert haben. Ich kenne keine, denn unsere Leidenschaftslosigkeit und unsere Phantasielosigkeit verhindern uns, diesem infamen Geschäfte nachzugehen. Denn, meine Herren Richter, ein Verräter muß zwei Talente besitzen, sonst ist er ein armseliger Tropf von einem Verräter: Leidenschaft und Phantasie. Sie werden sagen, Blake ist Maler und Dichter, und ohne Leidenschaft ist beides undenkbar. Ich sage mehr: Blake ist ein großer Maler und einer der größten Dichter, die England hervorgebracht hat.« Samuel 337 Rose nahm einen kleinen Schluck Wasser aus dem Glase, das vor ihm stand, und fuhr, zu Blake gewandt, fort:

»Lieber Blake, ich weiß, was ich jetzt sagen werde und gesagt habe, klingt Ihnen nicht schön, denn Sie sind ein einfacher Mensch und fernab von jeder Ruhmgier. Aber es geht hier auf Leben und Tod, und nicht allein für Sie! Es geht um die Ehre Englands, und wird sie verachtet, dann bedeutet das den Tod Englands.«

 

Und dann wieder der Jury und dem Richter zugewandt:

»Wollen Sie auf die Aussage eines Trunkenboldes und seines Komplicen hin ewige Schmach über England bringen? Ich sagte, wir Engländer sind kühle Menschen. Aber im Augenblicke, wo die große Not über das Land kommt, vielleicht in jedem Jahrhundert einmal, dann wächst aus unserer Kühle die große Leidenschaft, die – England rettet.

Ich habe niemandem hier auf der Zeugenbank gesagt, um was es sich letzten Endes handelt. Sie kamen freiwillig, und den wenigsten von ihnen ist bekannt, daß es sich bei William Blake um einen der größten Poeten Englands handelt, dem man wegen der Aussagen eines dem Trunke ergebenen Soldaten am Halse hängen will. Nun sitzen ohne Unterschied des Standes auf der 338 Zeugenbank John, der Stallknecht des Gasthauses zum ›Fuchsen‹ (John steht bei diesen Worten auf), Herr Hosier, Lederhändler, aus London (Herr Hosier steht auf), Herr Consens, der wohlhabende Mühlenbesitzer (Herr Consens steht auf), Frau Haynes, die Frau seines Dieners (Frau Haynes steht auf), Herr und Frau Grinder vom Gasthaus zum ›Fuchsen‹ (die beiden erheben sich), und zeugen für ihn.«

 

Der Verlagsbuchhändler Hayley ist aufgestanden, denn er fürchtet, daß ihn Samuel Rose vergessen hat.

 

»Und dort steht Hayley! Wer kennt in England nicht Hayley? Das Unglück wollte es, daß Herr Hayley vor kurzer Zeit vom Pferde stürzte und lange mit dem Tode rang. Trotz des Widerspruches der Ärzte, die alles fürchteten, hat er sich hierher begeben, um für Blake zu zeugen. Ich danke Ihnen, Herr Hayley, im Namen Englands.«

 

Samuel Rose nahm einen Schluck Wasser; es hatte den Anschein, als ob er zu lächeln versuchte.

Dann sprach er weiter; aber nicht mehr in zusammenhängenden Worten:

»Blake ist leidenschaftlich. Wo ist ein großer Dichter und Maler, der nicht leidenschaftlich ist? Alles Große 339 geschieht in Leidenschaft. Groß ist das Volk, das leidenschaftliche Dichter hat und kühle Staatsmänner und kühl ist in seiner Gesamtheit. Leidenschaft lebt in William Blakes Werk. Nicht die Leidenschaft der Spione und Hochverräter, die Leidenschaft des großen Dichters und Patrioten. Ist hier im Saale jemand, der glaubt, daß Samuel Rose in einem Augenblick . . .«

Rose murmelte einige Worte, dunkle Wellen zogen an seinen Augen vorüber. Er ergreift mit beiden Händen die Brüstung, und noch einmal kehrt alle Kraft zurück.

»Hat ein englischer Dichter«, ruft er, »je schönere Worte der Vaterlandsliebe gefunden wie William Blake? Kann der Dichter des patriotischsten Liedes Englands ein Spion und Hochverräter sein?«

 

Vor Rose liegt ein Gedicht Blakes. Er nimmt es auf und läßt es sofort wieder sinken, denn die Buchstaben verschwimmen vor seinen Augen. Er sieht voll Verzweiflung in die Höhe und erkennt auf der Empore die mächtige Gestalt Varleys, der noch immer die beiden Säulen umklammert hält. Aber hinter Varley, auf der weißen Wand, erscheinen plötzlich in tiefem Schwarz die Verse Blakes.

Rechtsanwalt Rose liest sie ab, und seine Stimme klingt klar und hell wie die Fanfare des Jüngsten Gerichtes: 340

Ein Kriegslied der Engländer
        Stellt ihn bereit, den Eisenhelm des Krieges,
Heraus die Lose, werft sie in den weiten Raum;
Der Schicksalsengel blättert sie mit starker Hand
Und schleudert sie hinab zur dunkeln Erde.

Gegenüber Varley auf der Estrade sitzt der kleine Mann mit dem großen schwarzen Vollbart. Kaum sind die Worte verklungen, da ruft er mit sonorer Stimme in den Saal:

»Bereitet euch! Bereitet euch!«

Dann setzt er sich wieder.

        Bereitet eure Herzen für des Todes kalte Hand!
Bereitet eure Seelen für den Flug und eure Leiber für die kalte Erde!
Bereitet eure Waffen für den großen Sieg
Und eure Augen, um den Herrn zu schauen.

Der kleine Mann steht wieder auf, aber diesmal spricht er nicht mehr allein: eine zweite Stimme ist eingefallen, die Stimme Varleys:

»Bereitet euch! Bereitet euch!« 341

        Wes' schlimme List ist's? Soll mir denn
Das Herz erzittern und die Zunge stammeln?
Ein Leben hab' ich, dreie möcht' ich geben,
Über des Sieges Feld mit Toten aufzusteigen.

Zwei helle Stimmen fallen ein, die Stimmen der Herzogin von Richmond und der Lady Hesketh:

»Bereitet euch! Bereitet euch!«

        Die Pfeile des allmächt'gen Gottes liegen blank,
Des Todes Engel spähen an des Himmels Grenzen!
Viel tausend Seelen treten in das ew'ge Licht,
Schreiten zusammen auf den hellen Wolken.
Bereitet euch! Bereitet euch!
Soldaten, seid bereit! Denn Gottes Wunsch ist unsre Sache;
Soldaten, seid bereit! Seid wert der Sache:
Bereit, den Vätern droben zu begegnen:
Bereite dich, mein Heer, heute zu sterben.
Bereitet euch! Bereitet euch!
Alfred wird lächelnd in die Harfe greifen;
Normanne Wilhelm und der sehr gelehrte Clerk,
Das Löwenherz, der dunkel-ernste Eduard, seine so
Treugesinnte Königin, erheben sich und grüßen uns!

342 Nun aber bei diesem letzten Vers dröhnt es durch den ganzen Saal. Die ganze Jury ist aufgesprungen, als erster Oberstleutnant Whyte, ein Soldat, zum letzten Appell angetreten; Graf Egremont, ein Raritätensammler, asthmatisch und schwerfällig, aber voll guten Willens: »Bereitet euch! Bereitet euch!«

Der jugendliche rosige Kronanwalt zuckte mit den Achseln. Die englische Leidenschaft war über die Zuhörer und die Jury gekommen, und gegen diese Leidenschaft gab es keine Argumente mehr. Ostentativ packte er seine Akten zusammen und hoffte, dadurch kein Öl ins Feuer zu gießen. Dabei warf er manchmal einen Blick auf die Tribüne. Dort stand hochaufgerichtet die Herzogin von Richmond. Sie hielt in der ausgestreckten Hand das Fernrohr ihres Vaters, des Admirals, und zielte damit auf die Brust ihres Gatten, der klein von Statur war und unter dem ausgestreckten Fernrohr sichtlich noch kleiner wurde.

Als dann das Urteil gesprochen wurde, war der Herzog so klein, daß Ihre Gnaden, die Frau Herzogin, das Glas vor die Augen nehmen mußte, um den Gatten überhaupt erkennen zu können.

Nun aber will ich dem schon einmal zitierten Zeitgenossen das Wort geben:

»Die Jury zog sich zurück. Bei ihrer Rückkehr sprach sie das Urteil: ›Nicht schuldig!‹« 343

Ein lautes Hurra erhob sich im Gerichtssaal, in Verhöhnung aller Sachlichkeit und aller Schicklichkeit, und lärmendes Frohlocken überall.

Hayley ging zu dem Herzog von Richmond und sagte: »Ich gratuliere Eurer Hoheit, der Sie immer mit der Verurteilung trauriger Vagabunden zu tun haben, daß Sie wenigstens einmal die Genugtuung fühlen können, einen ehrlichen Mann nicht verurteilen zu müssen. Mister Blake ist friedlich, fleißig und ein verdienter Künstler!«

»Ich habe noch nie etwas von ihm gehört«, grunzte der Herzog.

»Möglich, Hoheit«, antwortete Hayley, »daß Sie nichts von ihm wissen, deswegen habe ich Ihnen das gesagt. Ich wünsche Eurer Hoheit eine geruhsame Nacht.«

Hayley sah dabei hinauf auf die Tribüne, wo die Herzogin gerade damit beschäftigt war, das Futteral um das Fernrohr zu legen. Da der Herzog bemerkte, wie Oberstleutnant Whyte dem Grafen Egremont mit den Augen zuzwinkerte und der schwerfällige Raritätensammler dieses Zwinkern an ein weiteres Jurymitglied weitergeben wollte, so unterdrückte er einige böse Worte und wandte sich brüsk ab. Als er davonging, glaubte Whyte, er würde allmählich in den Boden versinken, so klein wurde er. Blakes Freunde gratulierten ihm sehr herzlich, aber sie hielten sich 344 nicht lange bei ihm auf, als er ihnen erklärte, er müsse noch einige Augenblicke im Gerichtsgebäude verweilen, »aus künstlerischen Gründen«, wie er sagte, und er sie bat, seine Frau mitzunehmen. Sie gingen auch sehr gerne, denn in einem Gerichtssaal kann man im allgemeinen nicht fröhlich sein. Sie gingen auch nicht zusammen, denn jeder wollte seiner Freude in einer andern Form Ausdruck geben. Der eine durch einen fröhlichen Trunk, der andere, wie Hayley zum Beispiel, durch einen Zeitungsartikel, in welchem er sich über den Herzog von Richmond lustig machen konnte, ein anderer durch ein schön zusammengestelltes Nachtessen, wie Fuseli, wozu er Blakes Frau einlud, und schließlich Varley, dem es ein Herzensbedürfnis war, seiner Freude durch die Demolierung sämtlicher städtischen Laternen Ausdruck zu geben. Sie waren ihm bei seinem Einzug als vollkommen unkünstlerisch aufgefallen, und er hatte sich gelobt, wenn Blake freigesprochen würde, daß keine einzige diesen Tag überleben sollte. – Als die lärmenden Freunde verschwunden waren, zog Blake einen kleinen Zeichenblock hervor und zeichnete sorgsam die beiden Säulen, die Varley noch vor kurzer Zeit umklammert hatte. Dann schrieb er darunter: geeignet für Simson unter den Philistern oder für heiligen Sebastian unter Tortur. Dann setzte er zwei 345 Fragezeichen dahinter. Kurze Zeit darauf kam ein Rathausdiener und bat ihn, den Saal zu verlassen, da er geschlossen würde. Er rasselte mit den Schlüsseln, um Blake in die Wirklichkeit zurückzurufen.

In der Nacht noch hörte Blake, daß Samuel Rose gestorben war. Da nahm er seine Zeichnung wieder vor, legte eine Kette, die in der Mitte gesprengt war, um die Säulen und einen Berg von Rosen dazwischen. Er ging an den Ort, wo man den Rechtsanwalt gefunden hatte. Dort legte er die Zeichnung nieder. Ob sie gefunden wurde und wer sie gefunden hat, das vermag ich nicht anzugeben. 346

 


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