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XI.

Des Hechenplaickners Rößlein trabten an jenem Abend zwar munter nach Hause, und das Wägelein rollte wohl lustig dahin, aber die, die darinnen saßen, waren traurig und betrübt. Seit sie eingestiegen, schienen sich alle das tiefste Schweigen auferlegt zu haben; nur der Vater ergriff einmal, als sie unten an der Kirche von Niederndorf vorbeifuhren, das Wort und sagte zu Rosi:

»Aber was ist denn das heute gewesen? was hast denn du mit dem Florian?«

Die Rosi antwortete aber weich und bittend:

»O Vater, frag' mich nur heute nicht, denn ich kann dir nichts sagen. Ich bin schwach und krank und möchte sterben!«

Der Vater schwieg, und das Wägelein rollte in der Dämmerung lustig dahin.

Als es vor der Heimat stille hielt, kam die Wirtin, und zwar, da die Nacht schon eingebrochen, mit dem Lichte heraus und rief fröhlich:

»Nu, ist's recht schön gewesen? Hat's euch gefallen?«

Sie erhielt keine Antwort und leuchtete daher neugierig, aber doch besorgt in das Wägelein hinein. Da ersah sie der Rosi totenbleiches und ihres Mannes kummervolles Haupt und rief trostlos:

»Ja, mein Gott, was ist denn geschehen?«

»Nichts Gutes!« sagte der alte Hechenplaickner. »Das erste ist, daß die Rosi ordentlich herauskommt. Das Mädel ist bissen worden.«

»O Jesus, Jesus, Jesus!« rief die Mutter im größten Schrecken – »bissen worden? von einem wütigen Hund?«

»Man weiß noch nicht von wem.«

Weitere Fragen blieben vorderhand unbeantwortet, denn der Vater und der Lorenz, der vom Bocke gesprungen, gingen nun daran, die Rosi aus dem Wagen zu heben, was auch ganz gut gelang. Aber auf dem Boden konnte sie nicht stehen und sie mußten sie in den Armen halten.

»Tragt mich nur gleich hinauf ins Bett,« sprach sie mit schwachem Tone und gab den beiden Schwestern noch die Hand. Der Vater und der Bruder faßten sie sanft und sorgfältig an, trugen sie über die Stiege hinauf und legten sie auf ihr Lager. Da reichte sie auch ihnen noch die Hand, dankte und wünschte ihnen gute Nacht. Die Mutter blieb gleich bei ihr, nahm ihr das Gewand ab und legte einen Verband auf die Wunde, was sie in ähnlichen Fällen schon öfter geübt hatte und meisterlich verstand. Dann ließ sie eilig ein Feldbett aufschlagen, um auch in der Nacht bei der Tochter zu sein und ihrer warten zu können. Als die Leidende hinlänglich gepflegt und das Krankenzimmer eingerichtet war, kam aber der Mutter die Neugierde und die Sorge wieder und sie sprach:

»Aber, Rosi, was ist's denn heute gewesen? wie ist denn das gekommen?«

Worauf die Rost weich und bittend antwortete:

»Mutter frag' mich nicht, denn ich kann nichts sagen. Ich bin schwach und möchte sterben!«

Die Mutter suchte zu trösten und sie mit milden Bitten zum Reden zu bringen, aber das Mädchen war wirklich schwach und schlief bald ein.

Die Verletzung war übrigens nicht unerheblich, sondern so bedeutend, daß am andern Morgen ein Wundfieber eintrat. Die Kranke fing zu phantasieren an und sprach im Traum; die Mutter horchte aufmerksam auf jedes Wort, das sie flüsternd hören ließ. Der Fieberwahn schien aber, da sie oftmals dazu lächelte, ganz angenehmen Inhalts zu sein und der Held desselben kein anderer als – der Florian von Langkampfen, doch nicht als Gegner, sondern als Freund und als Geliebter.

»Kommst endlich, du böser! – ein Jahr lang hast mich warten lassen – heut' bin ich die Germania – schau nur, wie schön ich bin – o, daß du nur heute da bist – aber bald mußt wieder kommen – bald – bald bald. – Oder bleib lieber gleich bei uns –«

Der Mutter war es ein großer Trost, daß wenigstens die Bilder, die der Tochter vorschwebten, nicht wild und schrecklich, sondern freundlich und anmutig waren. Sie lauschte und lauschte und jedes Wort gab zu erkennen, daß sich die Rosi nur mit dem Florian beschäftige, aber gerade in dieser Beschäftigung sich sehr glücklich fühle.

Gegen Mittag, als der Fieberwahn vergangen, schaute die Rosi ihre Mutter liebreich an, reichte ihr die Hand und sagte:

»Hast wohl viel Elend mit mir! o Mutter, Mutter, ich bin himmelhoch heruntergestürzt und jetzt schwer krank. Ich weiß nicht, ob mir das Herz noch bricht, oder ob ich wieder aufkomme und dir wieder helfen kann in der Hauswirtschaft. Und nur eines bitt ich dich – laß mich nichts mehr hören und nichts mehr wissen von der Welt und keinen Namen darfst mir nennen und fragen darfst mich nichts, sonst könnt' ich sterben. Vielleicht geh' ich ins Kloster, wenn ich's besser überlegen kann. Am liebsten wär ich im Himmel oben!«

Frau Hechenplaickner war schmerzlich betroffen von diesen Reden. Daß das schöne Mädchen, ihre Lieblingstochter, der sie nach allen ihren Vorzügen ein Leben voll Glück und Freude vorausgesagt, nun selbst jede Hoffnung einer bessern Zukunft aufgegeben hatte und bereits ans Sterben dachte oder sich in den Frieden eines Frauenklosters zurückziehen wollte – das ging ihr tief zu Herzen. Wenn sie allein war, weinte sie fast immer, aber die Tochter ließ sie ihre Traurigkeit nicht merken.

Diese aber überstand in ihrer Jugendkraft auch ihre Leidenstage und war nach einiger Zeit wieder so weit genesen, daß sie in den Garten gehen und dort etliche Stunden verweilen konnte. Auf geselligen Umgang ließ sie sich jedoch noch gar nicht ein. Sie bat wiederholt und dringend, doch alle ihre jungen Freundinnen aus den nächsten Bauernhöfen, die so gerne gekommen wären, von ihr fern zu halten; »Mannsbilder« wollte sie noch weniger sehen.

Mit ihren Geschwistern war sie sanft und gut, sprach aber auch mit ihnen nur, was eben nötig war. Dagegen schien ihre Dankbarkeit für die Mutter täglich zuzunehmen, und wenn sie dem alten Vater begegnete, so gab sie ihm immer eine Patschhand und fragte freundlich, wie es ihm gehe. Dieser setzte sich auch manchmal zu ihr in den Garten, und dort sprachen sie von den Äpfeln und den Birnen, die damals wuchsen, von dem Türken und dem befürchteten Futtermangel, aber niemals von dem Florian.

Die Geschäfte, die ihr sonst als Schenkin in der Herrenstube obgelegen, hatte indessen die Marie, ihre Schwester, übernommen, welche damals ins zwanzigste Jahr ging und in jene höhere Stellung, wie bereits erwähnt, schon längst vorzurücken gewünscht hatte. Der Rosi wurde daher in diesen Tagen keine Arbeit zugemutet, und sie verlangte auch nicht danach.

Ehe aber die Rosi in den Garten ging, nämlich in den ersten acht Tagen nach der Passion zu Erl, kehrte in dem stillen Wirtshause der Sewi ein reges Leben ein, welches jedoch von dem Mädchen kaum beachtet wurde. Teilnahme oder Neugierde, der Trieb, einen guten Rat zu geben, sich aufzudrängen und etwas drein zu reden, sie führten jetzt an jenen einsamen Ort so manchen Gast, der schon lange nicht mehr dort gewesen war. Das Herrenstübel stand selten leer, aber auch in der Bauernstube war der Besuch jetzt lebhafter als zuvor. Jeder wackere Landmann und Familienvater, der des Weges kam, wollte der Bäuerin daheim und seinen Töchtern etwas aus der Sewi bringen, und jeder war daher beflissen, von den Weiberleuten, denn mit dem Vater war nichts zu richten, sich etwas erzählen zu lassen.

Allerdings war es nicht so schwierig, jetzt in der Sewi einige Neuigkeiten aufzulesen. Die Geschichte der letzten Tage war von der Mutter gedeutet und enträtselt worden. Diese hielt es nämlich für ihre Pflicht, dem Vater und den älteren Geschwistern alles mitzuteilen, was ihr die arme Rosi anvertraut hatte, also vor allem den schlimmen Verdacht und die üblen Nachreden, die der Valentin aus dem Hirschengarten mitgebracht. Jetzt verstanden sie alle, warum die Rosi den Florian in der Passion zur Rede gestellt, vielmehr ihn ausgescholten hatte. Sie waren auch alle der Meinung, daß sie ganz recht getan; namentlich sprach der Vater öfter mit Nachdruck seine Billigung aus.

Die Mitteilungen der Mutter verursachten aber auch eine große Aufregung. Zumal der Lorenz war in den ersten Tagen ganz unbändig und verlangte vom Vater nur immer einen guten Rat, ob er den Florian auf dem nächsten Markte mit dem Messer niederstechen oder mit dem Prügel totschlagen oder mit dem Terzerol erschießen solle.

Der Vater selbst aber mahnte ihn dringend, ja nichts Unrechtes zu beginnen. Was man immer tun wolle, es könne nur vor Gericht geschehen.

Über ein wackeres junges Kleeblatt, das mit dieser Geschichte nur in sehr losem Zusammenhang stand, brachte dieselbe gleichwohl einige unangenehme Stunden. Der nachteilige Einfluß, den die deutsche Malerei auf der Rosi guten Ruf und ihre Aussichten in die Zukunft geäußert hatte, rächte sich jetzt auch an deren damaligen Vertretern in der Sewi, obgleich diese erst einige Wochen dort waren und an dem früheren Gerede keine Schuld trugen. Sie fanden, und mit Recht, daß der Wind plötzlich umgeschlagen war.

»Wenn die Maler nicht wären, hätte die Rosi jetzt den Florian!« sagte die Mutter einst im Herrenstübel, und diese Worte blieben nicht unbeachtet. Die Maler schnürten ihre Bündel, zahlten ihre Rechnung und gingen davon. Da man ihnen aber nichts Übles nachzutragen hatte, so war der Abschied doch ganz freundlich, ja von seiten der Marie und der beiden andern Töchter sogar recht herzlich. So kam man in allen Ehren auseinander.

Von den Dreien, die damals wanderten, war übrigens der eine aus Apenrade, der andere aus dem Riesengebirge, der dritte aus dem bayerischen Walde. Der erste hatte Tannenbäume, der zweite Felsenwände, der dritte Wasserstürze gemalt.

Die häufigen Gäste, die damals in die Sewi kamen, nahmen aber nicht nur die Neuigkeiten mit, sondern sie trugen auch manche herbei, die leider nicht alle ergötzlich waren. Am andern Tage gegen die Vesperzeit brachte z. B. der Maurerseppel von Durchholzen die Kunde, wer der gewesen, der die Rosi verwundet. In der Sewi hatte man bis zu jener Stunde noch keine Ahnung davon.

»Was,« sagte der Maurerseppel, als er dies bemerkte, »das wißt ihr nicht? Da seid ihr aber noch weit zurück!«

»Nu, wer ist's denn gewesen?« fragten alle, auch die Mutter, die eben von der Rosi, welche schlief, herabgekommen war.

»Nu, wer denn anders als der Florian von Langkampfen?« sagte der Maurerseppel lachend.

Die andern konnten diese Mitteilung nicht so erheiternd finden; sie sahen sich vielmehr mit erstaunten, aber ernsten Augen an.

»Und woher weiß man's denn?« fragte Marie, die Schwester.

»Das haben wir gestern im Wirtshaus zu Erl herausgebracht. Da ist der Geometer gewesen und hat gleich so einen Plan – wie sagt man denn? – so einen Stationsplan aufgezeichnet –«

»Situationsplan!« verbesserte die Marie, welche, wie man daraus ersieht, im Umgang mit den Mappierern schon einiges gelernt hatte.

»Nu ja, halt so einen Plan,« fuhr der Seppel fort, »von der dritten, der vierten und der fünften Bank und hat alle Leut' neingeschrieben, die da gesessen sind. Die sind uns glücklicherweis' noch alle eingefallen, eines nach dem andern. Und da hat sich herausgestellt, daß in derselbigen Gegend lauter junge Mädeln und Weiberleute gesessen sind und nur drei Mannsbilder, der Vater, der Lorenz und der Florian. Jetzt haben wir's schon, hat der Geometer gesagt, jetzt rechnet sich's ganz madamatisch raus; die Weiberleut, die beißen nicht – der Vater und der Bruder auch nicht, also muß es der Florian gewesen sein! Na, was wir gelacht haben!«

Des Maurerseppels Heiterkeit wirkte diesesmal nicht ansteckend. Vielmehr trieben seine letzten Worte die Zuhörer alle auseinander. Der Vater ging grimmig ans Fenster, die Marie mit den Schwestern ins Herrenstübel, der Lorenz in den Stall. Nur die Mutter hielt stand und mußte sich von dem unfeinen Gaste noch sagen lassen:

»Aber närrisch, warum fragt ihr denn die Rosi nicht? die muß es ja doch am besten wissen.«

»Wir wissen nicht, ob sie es weiß,« entgegnete die Mutter schmerzlich. »Und fragen darf man sie nicht; wenn man sie fragt, so stirbt sie.«

»Die wird aber alle Tage feiner, und jetzt dürfte sie's doch bald wohlfeiler geben!« sagte der Maurerseppel in einer Art, die leider sehr höhnisch klang. »Und wenn sie jedesmal sterben muß, so oft man sie etwas fragt, da hat sie wohl viel zu tun.«

Da die Mutter kein Wort mehr sprach, sondern sich beleidigt an einen andern Tisch setzte, so wünschte er bald einen guten Abend und ging seiner Wege.

Des Maurerseppels Erscheinung hatte keinen angenehmen Eindruck hinterlassen, aber von dem Kelch, den er zuerst gereicht, sollte die Familie leider noch öfter trinken.

Es kamen nämlich gerade in den nächsten Tagen die Basen und die Gevatterinnen wie die Tattermännlein ( Samandra maculata L.) nach dem Regen aus allen Winkeln hervorgebrochen, um der betrübten Mutter angeblich einigen Trost zu bringen, eigentlich aber doch mehr um sie gründlich zu unterrichten, wie allenthalben, so weit man von der Sewi rede, über die arme Rosi gelacht werde. Manche brachten auch die schalkhaften Bemerkungen und die witzigen Einfälle mit, die sie da und dort in diesem Betreffe aufgelesen hatten. Ihrer war bald eine große Zahl.

Wenn die Mutter so die Lächerlichkeit betrachtete, der ihre vor wenigen Tagen noch so angesehene, sogar für stolz gehaltene Tochter und mit ihr die ganze Familie verfallen war, so überkam sie ein tiefes Herzeleid. Dies gab sie mitunter auch deutlich zu erkennen, aber ihre Freundinnen zeigten nicht viel Teilnahme an ihrem Kummer.

»Er soll sie nur heiraten,« sagten sie immer lustig und wohlgemut, »dann ist das ganze Gelächter vorbei.«

Dieser Ausgang wäre der Frau Hechenplaickner wohl auch der liebste gewesen, aber sie konnte ihn jetzt nicht mehr für möglich halten. Jedenfalls lag es nicht in ihrer Macht, ihn herbeizuführen oder auch nur ihn näher zu rücken.


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