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Florian ging, wie sich von selbst versteht, auf den ersten Platz, wo »die bessern Leute« sitzen. Dort beschritt er, da die vordern Reihen schon ziemlich gefüllt waren, die vierte derselben und setzte sich ruhig hin, das Schauspiel zu erwarten. Weil das mehr erwähnte Dorf Erl auf der andern Seite des Inns gelegen und wohl fünf Stunden von Langkampfen entfernt ist, er sich auch nur selten in dieser Gegend zeigte, so gewahrte er im Hause nur zwei oder drei zerstreute Häupter, die er von den Märkten her kannte und daher zu grüßen hatte, blieb aber sonst ganz unbeachtet, obwohl ihm die nächsten Nachbarinnen anzusehen glaubten, daß er nicht zum gemeinen Bauernvolk gehöre.
Er war aber noch nicht lange auf seinem Platze, als sich in dem ländlichen Publikum eine merkbare Bewegung erhob. Von der schmalen Türe zur rechten Hand kam nämlich nicht ohne Hindernisse ein kleines Häuflein gutgekleideter Schaugäste herein, welches augenscheinlich zusammengehörte und unverzüglich die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich zog. Voran schritt mit breiten Schultern Herr Thomas Hechenplaickner, der männiglich bekannte Wirt von der Sewi, ihm folgten seine Töchter und diesen sein Sohn. Ein frohes Summen ging durch die versammelte Menge, als wenn sich jedermann freute, daß auch sie gekommen. Die Rosi von der Sewi, die Rosi, die Rosi – flüsterten selbst unbekannte Nachbarinnen dem jungen Wirte von Langkampfen zu.
Unter diesem halblauten Schwirren näherte sich der kleine Zug der Stelle, welche unser Florian besetzt hielt. Sie kamen in die dritte Reihe, wo sich gerade noch einiger Raum bot, Haupt an Haupt hereingeschritten. Die reckenhafte Gestalt des Vaters verdeckte noch das Gefolge seiner Kinder. Endlich hatte er seinen Platz gefunden und eingenommen, womit denn auch der Vorhang weggezogen war, der bis dahin seine älteste Tochter verhüllt hatte, so daß nun die ganze blühende Rosi plötzlich in ihrer vollen Schönheit und ihrer vollen Pracht vor unserm Florian stand. Der Eindruck war überwältigend. Jene milde Trauer, die auf dem Antlitz lag, die edlen Züge, die herrliche Gestalt – die Maler, die Germania, die Strümpfe und alles war vergessen. Es ging ihm wie ein wonnevoller Blitz durch Leib und Seele – sie war die rechte, die einzige!
Und so fuhr er denn auch sogleich in die Höhe und rief wie bezaubert: »Gott sei Dank, daß ich dich auch einmal sehe, du schöne Rosi – ich bin der Florian von Langkampfen!«
Diese Worte waren aber kaum verhallt, als sich das holde Antlitz der lieblichen Maid bereits verfinstert hatte; ihre Stirne runzelte sich, ihre Augen leuchteten tödlich und sie sprach laut und hörbar: »Also du bist der, der ein ehrliches Mädel so zugrund richtet?«
»Ist das dein schönster Gruß, du wilde Dirn?« versetzte der Florian betroffen. »Und hätt'st mir so gut gefallen!«
Das Mädchen gab aber keine Antwort, sondern ließ sich auf seinen Stuhl nieder und schlug den Blick zu Boden.
Dieser Auftritt zog aller Augen nach der Mitte der Halle und auf die beiden handelnden Gestalten. Der Vater, die zwei Schwestern und der Bruder waren in der Überraschung sprachlos geworden, von den andern aber hatten, wie sich von selbst versteht, den Laut der Worte, welche die Rosi gesprochen, nur die Nächsten vernommen. Daher allgemeine Neugierde, allgemeines Flüstern, halblautes und lautes Fragen, was es denn gewesen, was sie gesagt und wer der Angesprochene sei. Allmählich wurde die Unruhe nur dadurch etwas beschwichtigt, daß vorne auf der Bühne der Schutzgeist im Flügelkleide auftrat und seinen Gesang begann, welchen das Bauernorchester mit allerlei Tonwerkzeugen kunstreich begleitete.
Aber obgleich die Vorstellung als Eröffnungsfeier gelten sollte, so waren die Hauptpersonen des Spiels vorderhand doch nicht der Heiland, Jesus Christus von Nazareth, und die Jungfrau Maria, sondern der Florian von Langkampfen und die Jungfrau Rosi, welche beide, nachdem die Röte der ersten Aufregung verflogen war, bleich und regungslos, wie marmorne Götterbilder, auf ihren Stühlen saßen. Das allgemeine »Geschau« kam immer wieder auf sie zurück, und das Geflüster pflanzte sich ununterbrochen fort und fort, bis auch dem Letzten im letzten Winkel die ersehnte Kunde geworden, was sie gesagt und wer der junge Mensch sei, den sie so hart angelassen.
Im übrigen ging das Spiel seinen ruhigen Gang. Der Heiland ritt auf seiner Eselin in Jerusalem ein, die Hierosolymitaner und Hierosolymitanerinnen begleiteten ihn mit Palmbüschen und Hosianna, die Fußwaschung und das Abendmahl zogen würdig vorüber und endlich war man auch auf dem Ölberg angekommen. Man sah die Jünger in den giftgrünen Büschen schlummern und an mehreren Stricken, die auch dem unbewaffneten Auge sichtbar, schwebte der Engel mit dem Leidenskelch heran, um auf dieselbe Weise wieder zu verschwinden. Dann kam die Schar der Widersacher mit den Spießen und den Morgensternen, an ihrer Spitze der rotbärtige Judas, der sich ehrerbietig näherte, um dem Meister den verräterischen Kuß zu bieten. Die Szene, die die schöne Rosi herbeigeführt, war für jetzt doch gänzlich zurückgetreten und aller Aufmerksamkeit in heiliger Spannung der Bühne zugewendet, als plötzlich – – –
Zuerst ein Schrei, dann zwei und drei auf einmal und sofort in schmetterndem Durcheinander alle denkbaren Äußerungen der Überraschung, des Schreckens und der Verzweiflung. Zugleich krachten die stürzenden Balken, die Bretter, die Sessel, die Stühle, die Bänke und das ganze Auditorium. In der Mitte war nämlich das Gerüste eingebrochen, und etliche Dutzend Menschenkinder, die sich eben in seligster Schaulust gewiegt, waren plötzlich wie weggefegt. Einzelne Arme und Beine gaukelten noch in den Lüften, um auch bald zu versinken. Nur wer ganz dicht am Rand des neuen Kraters stand, sah in einen wild wogenden Pfuhl von Gewändern, Schürzen, Röcken, Mänteln, von Balken, Brettern, Sesseln, Stühlen, Bänken hinunter, aus denen sich alle bekannten menschlichen Gliedmaßen unter betäubendem Lärm ihrer damaligen Besitzer herauszuwinden suchten.
Dem ersten Schrecken folgte aber unverzüglich ein zweiter. Es ist schon erwähnt worden, daß der ganze Raum, den die Zuschauer innehatten, vor den Sonnenstrahlen durch eine vielfach zusammengenähte Blahe geschützt war. Diese wurde an den vier Ecken von vier strebsamen Hopfenstangen emporgehalten, ruhte aber in einem hölzernen Ringe hauptsächlich auf einem ausgedienten Maibaum, welcher in der Mitte aufgepflanzt war. Der Maibaum ragte, die Blahe durchbohrend, weit über sie hinaus und sah vornehm auf die Hopfenstangen herunter, fast wie ein Fürst auf seine Vasallen, oder wie ein alter deutscher Kaiser auf die vier Herzoge des Reichs. Aber des Maibaums Stellung war gleichwohl nicht recht gesichert. Es fehlte ihm eine tiefere Wurzel in dem Boden; er war nur leichtfertig eingesteckt und an dem Gerüste, das die Stühle trug, nur nachlässig angebunden, so daß, als dieses eingebrochen, auch er – per sostegno manco würde Dante sagen – seinem Untergange entgegen gehen mußte. Er schüttelte einige Male bedenklich den Wipfel und wiegte sich zweifelnd hin und her, faßte dann aber plötzlich einen raschen Entschluß und stürzte unter grauenvollem Angstgeschrei des Publikums ins Volk hinunter, welches er aber nicht ganz erreichte, weil er mit dem oberen Ende auf den Palast des Pilatus auffiel, sich da niederließ und ruhig liegen blieb. Diesem Prachtgebäude hatte niemand so viel Kraft des Widerstandes zugetraut, und die Dankbarkeit für seine guten Dienste äußerte sich daher in jenen lauten Zurufen, welche man in England cheers zu nennen pflegt. Mit herzinniger Freude erkannten jetzt alle, daß die neue Gefahr vorüber und kein Schaden mehr geschehen sei. Nur eine alte Baßgeige, welche der Bumpfersimmerl an die hölzernen Mauern des Palastes gelehnt, war durch den Luftdruck drehend geworden und hatte sich wieder dröhnend in das Orchester hinuntergestürzt.
Aber die oben erwähnten Hopfenstangen wurden auch in den Fall hineingerissen und die ganze Blahe fiel nun über den Abgrund, über das wimmelnde, zappelnde, krabbelnde, kletternde, schreiende Chaos und deckte es zu. –
Nun aber dachten die Männer, die oben geblieben waren, sofort an das Rettungswerk und nahmen es mit allen Kräften in Angriff. Alle Hände zogen zunächst an der Blahe, um diese zu beseitigen. Sie zogen zwar immer kräftiger und heftiger, aber die Blahe rückte nicht von der Stelle, weil auf der linken Seite die Jünglinge von Kiefersfelden, Ober- und Niederaudorf, nämlich die bayerischen Schaugäste, standen, auf der rechten aber in ziemlich gleicher Zahl die männliche Jugend von Erl, Ebbs und Niederndorf, also die Tiroler. Es ist nämlich ein altes Herkommen im ganzen Grenzlande, daß in allen streitigen Sachen, die durch die Kraft der Arme zu entscheiden sind, die letzte Flechse aufs Spiel gesetzt wird, um den Sieg und den Ruhm für die eigene Nation zu erringen. Die edlen Bajuvaren, die unter der angestammten Herrschaft der Wittelsbacher lebten, konnten daher die Blahe ebensowenig loslassen wie ihre edlen Brüder, die jenseits des Innstroms wohnten und unter dem milden Zepter der Habsburger standen. Das Ringen ward auch auf beiden Seiten sogleich als ein kleines neckisches Nachspiel zu Anno Neune aufgefaßt und mit gellendem Kriegsgeschrei begleitet. So kämpften sie, den Helden der Vorzeit ähnlich, um die Blahe, wie um den Hort der Nibelungen, während nur noch die Linien eines Kopfes, eines Stiefels, eines Ellenbogens, die in jener vorübergehend auftauchten, von dem Leben unter der Decke Zeugnis gaben.
Die älteren und vernünftigeren Männer und noch mehr die mitleidigen Frauen konnten aber jenen Riesenkampf der deutschen Brüder nur mit tiefem Schmerze betrachten, denn er verzögerte ja nur die Rettung der Unglücklichen, die die Blahe bedeckte. Sie wendeten alle guten Worte auf, um die jungen Helden auf beiden Seiten zur Einstellung ihres verderblichen Wetteifers zu bewegen, aber es half nichts; die Ehre des engeren Vaterlandes gestattete kein Kompromiß. Der Heiland, dessen bitteres Leiden jetzt angenehm unterbrochen war, kam selbst in Leibrock und Mantel herbei, um den Frieden zu predigen, die Jungfrau Maria, der rotbärtige Judas, auch der sehr angesehene und einflußreiche Pilatus, alle rieten auf beiden Seiten zur Nachgiebigkeit, aber der Krieg und das Kriegsgeschrei dauerten immer wachsend fort, bis endlich der Schneiderjackel von Sacharang, ein friedliebender und unparteiischer Mensch, um dem Jammer abzuhelfen, den Palast des Pilatus erstieg, von da auf dem Maibaume weit herein turnte und zuletzt mit einem riesigen Satz auf Leben und Tod mitten in die Blahe hineinsprang, worauf deren sämtliche Nähte platzten und alle ihre Teile auseinandergingen.
Allgemeines Freudengeschrei begrüßte des Schneiderjackels kühne, rettende Tat. Auch die eben noch kämpfenden Burschen jubelten mit, denn sie hatten nachgerade selbst empfunden, daß einmal »ein Ende hergehen müsse,« waren ganz zufrieden, daß ein andrer den Streit aus der Welt geschafft und lachten sich gegenseitig aus.
Nun endlich konnte das Rettungswerk wahrhaft beginnen und den gewünschten Erfolg versprechen. Es wurde auch mit allem Eifer gepflogen, begegnete aber doch mancher Schwierigkeit, denn einerseits wurde der Menschenknäuel, da alle sich herauszuwickeln trachteten, nur um so verwickelter, und anderseits hatten sich die Trümmer und Splitter des zerbrochenen Holzwerks dermaßen zwischen das herabgestürzte Publikum geschoben und eingekeilt, daß sie nur mit langsamer Schonung und sorglicher Geduld entfernt werden konnten.
Endlich waren sie sämtlich beseitigt und alle Hindernisse gehoben, so daß die Erlösung der Bedrängten nunmehr rasch von statten gehen konnte. Als sie aber wieder alle auf ihre Füße gestellt und ins Freie geschafft waren, da zeigte sich bald, daß, so gefährlich die Sachlage auch erschienen, dennoch kein nennenswerter Schaden zu beklagen war. Es wurden allerdings mancherlei Prellungen und einige Schürfungen angemeldet, aber eine erhebliche Verletzung schien nicht vorgekommen zu sein. Daß eine solche gleichwohl mit untergelaufen, wird allerdings später noch berichtet werden.
Als die Dämmerung eingetreten, legte sich wieder eine tiefe, elegische Ruhe über den verlassenen Tempel der Kunst.