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Um alles mit Anstand zu erfüllen, was sich nach der Massenmeinung gehört, ließ Julian durch seinen Freund Fouqué einen Beichtvater kommen, einen Jansenisten. Trotz dieser schlechten Wahl stand er, dank Herrn von Frilair, noch immer unter dem Schütze der Jesuiten. Hätte er sich nur einigermaßen klug benommen, so hätte er entkommen können. Aber unter der Wirkung der dumpfen Kerkerluft war sein Verstand gelähmt.
Um so glücklicher war er, als sich Frau von Rênal wieder einstellte.
»Meine höchste Pflicht gilt dir!« sagte sie, indem sie ihn umarmte. »Ich bin aus Verrières entflohen.«
Ihr gegenüber hatte Julian keine kleinliche Eigenliebe. Er erzählte ihr alle die Anwandlungen von Schwäche. Sie war voll Liebe und Güte gegen ihn. Julians Überschwang und Liebestrunkenheit waren maßlos. Es gelang Frau von Rênal, durch Bestechung und durch Mißbrauch des Ansehens ihrer alten reichen Tante, der Frömmlerin, Julian zweimal täglich besuchen zu dürfen. Als Mathilde dies erfuhr, wurde sie vor Eifersucht halb wahnsinnig. Frilair hatte ihr erklärt, seine Macht reiche nicht so weit. Er könne es nicht riskieren, ihr die Erlaubnis zu verschaffen, ihren Freund mehr als einmal täglich besuchen zu dürfen. Der vielerfahrene Intrigant ließ übrigens nichts unversucht, um ihr zu beweisen, Julian sei ihrer unwürdig. Sie liebte ihn unter tausend Qualen nur um so mehr und bereitete ihm fast jeden Tag eine entsetzliche Szene.
Julian gab sich die größte Mühe, die junge Dame, die er auf so sonderbare Weise in ihrer Ehre gefährdete, bis zu Ende ritterlich zu behandeln. Sie tat ihm leid. Aber immer von neuem warf seine schrankenlose Liebe zu Frau von Rênal seinen Vorsatz nieder. Wenn es seinen lahmen Ausflüchten nicht gelang, Mathilde zu überzeugen, daß die Besuche ihrer Rivalin harmlos seien, dann sagte er sich: »Nun muß das Ende der Tragikomödie schon sehr nahe sein. Das ist die einzige Entschuldigung meiner stümperhaften Heuchelei.«
Fräulein von La Mole erhielt die Nachricht, der Marquis von Croisenois sei ihretwegen im Duell gefallen. Herr von Thaler, der Pariser Krösus, hatte sich eine abfällige Bemerkung über Mathildens Verschwinden erlaubt. Die Gemeinheit war Sieger geblieben und hatte einen liebenswürdigen jungen Mann als Opfer dahingerafft.
Diese Nachricht machte auf Julians müde Seele einen sonderbaren, krankhaften Eindruck.
»Der arme Croisenois«, sagte er zu Mathilde, »hat sich dir und mir gegenüber sehr ritterlich und sehr verständig benommen. Unvorsichtig, wie du warst, hätte er mich hassen müssen.«
Von neuem machte sie ihm Vorwürfe der Eifersucht.
»Du ziehst mir die Frau vor, die an all unserm Unglück schuld ist!« klagte sie.
»Du bist ungerecht«, entgegnete ihr Julian. »Der Pariser Rechtsanwalt, der meine Berufung führt, wird Frau von Rênals Besuche unter den schönsten Phrasen schildern. Der Mörder wird von seinem Opfer gehegt und gepflegt. Das muß doch Eindruck machen. Vielleicht siehst du mich noch eines Tages als Held in einem Melodrama...«
Mathilde verfiel in dumpfe Niedergeschlagenheit vor Schmerz und Scham, daß sie ihren treulosen Geliebten mehr denn je liebte. Ihre rasende Eifersucht sann vergeblich auf Rache. Sie ersah kein Ende ihres Unglücks. Wie sollte sie Julians Herz wiedergewinnen, selbst wenn er gerettet würde?
Außer in den Augenblicken, da ihn Mathildens Gegenwart ablenkte, lebte Julian gänzlich seiner Liebe. Jede große und ungeheuchelte Leidenschaft hat seltsame Wirkungen. So kam es, daß Frau von Rênal die Sorglosigkeit und friedsame Heiterkeit ihres Geliebten allmählich teilte.
»Weißt du«, sagte Julian zu ihr, »damals auf unsern gemeinsamen Spaziergängen in den Wäldern von Vergy, da hätte ich so glücklich sein müssen wie jetzt. Aber ein ungestümer Ehrgeiz entführte meine Seele gewaltsam in ein Traumland. Statt deinen holden Leib, der meinen Lippen so nahe war, an mein Herz zu drücken, ließ ich mir die Gegenwart durch Gedanken an die Zukunft rauben. Ich malte mir tausend Kämpfe aus, die ich bestehen zu müssen wähnte, ehe sich mir ein ungeheures Glück erschlösse...
Genug! Ich wäre gestorben, ohne das echte Glück zu erfahren, wenn du nicht zu mir in mein Gefängnis gekommen wärst!«
Zwei Ereignisse sollten Julians ruhiges Leben noch stören. Sein Beichtvater, wenngleich durch und durch Jansenist, fiel dennoch in das Netz der Jesuitenintrige und ward unwissentlich ihr Werkzeug. Eines Tages sagte er zu Julian, er müsse alles tun, um begnadigt zu werden. Da die Pariser Geistlichkeit viel Einfluß auf den Justizminister hätte, gäbe es ein einfaches Mittel. Er müsse auffällig fromm werden.
»Auffällig?« wiederholte Julian. »Jetzt durchschaue ich Sie! Also auch Sie spielen Komödie!«
Der Jansenist verlor seine Würde nicht. »Ihre Jugend«, sagte er, »Ihr interessantes Gesicht (ein Geschenk der Vorsehung!), sogar der unerklärliche Anlaß Ihrer Untat, die hochherzigen Bemühungen des Fräuleins von La Mole zu Ihren Gunsten und schließlich die erstaunliche Freundschaft Ihres Opfers für Sie – alles das hat dazu beigetragen, daß Sie der Held der jungen Frauen von Besançon geworden sind. Man hört nichts reden als von Ihnen. Wenn Sie nun mit einem Male ein Heiliger würden, so machte dies auf tausend Frauenherzen den tiefsten Eindruck. An Ihnen liegt es, der Sache des Glaubens einen großen Dienst zu erweisen. Die Tränen, die über Ihre Bekehrung fließen werden, machen den verderblichen Einfluß von zehn Auflagen der Werke Voltaires zunichte.«
Kalt entgegnete Julian: »Und was habe ich davon, wenn ich mich zu guter Letzt selbst verachten muß? Ich bin ehrgeizig gewesen. Deshalb tadle ich mich nicht. Darin war ich ein Kind meiner Zeit. Jetzt lebe ich in den Tag hinein. Es fällt mir nicht ein, mich zu einer solchen Niederträchtigkeit herzugeben...«
Der andere Zwischenfall, der Julian ungleich näherging, hatte seinen Ursprung in Frau von Rênals Naivität. Es war irgendeiner intriganten Freundin gelungen, ihr einzureden, es sei ihre Pflicht, nach Saint-Cloud zu fahren und sich König Karl dem Zehnten zu Füßen zu werfen.
Ehedem wäre sie lieber gestorben, als daß sie sich derart vor aller Welt bloßgestellt hätte; aber jetzt nach der Trennung von Julian und andern großen Opfern war ihr dies gänzlich gleichgültig.
»Ich will zum Könige gehen und laut eingestehen, daß du mein Geliebter bist...«
»Ich will dich nicht mehr sehen«, unterbrach Julian ihre Worte, »ich lasse mein Gefängnis vor dir verschließen, und ich nehme mir bestimmt tags darauf aus Verzweiflung das Leben, wenn du mir nicht schwörst, keinerlei Schritte zu unternehmen, die uns beide vor aller Welt lächerlich machen!
Fräulein von La Mole hat großen Einfluß in Paris. Sei überzeugt, daß sie alles tut, was menschenmöglich ist. Laß uns den kleinen Seelen keinen Anlaß geben, sich über uns lustig zu machen!«
Die ungesunde Luft des Gefängnisses hielt Julian kaum noch aus. Glücklicherweise war an dem Tage, da er seinen letzten Gang antreten mußte, der schönste Sonnenschein. So war er in mutiger Stimmung. Die frische Luft war ihm ein köstlicher Genuß, just wie dem Seemann nach langer Meerfahrt ein Spaziergang auf dem Festlande.
»Vorwärts!« rief er sich zu. »Welch ein Glück! Ich habe Mut!«
Nie war sein Kopf so voller Poesie gewesen, wie im Augenblick, ehe er fallen sollte. Die holden Stunden, die er einst in den Wäldern von Vergy erlebt hatte, tauchten ihm in der Erinnerung auf, greifbar, klar und deutlich, in reicher Fülle.
Alles ging in einfacher, mannhafter Weise vor sich. An seinem Verhalten war nichts Geziertes.
Zwei Tage vorher hatte er zu Fouqué gesagt: »Ich kann mich nicht verbürgen, daß ich keine Erregung verrate. Das häßliche Kerkerloch verursacht mir bisweilen Fieberanfälle, in denen ich mich selber nicht wiedererkenne. Furcht jedoch ... nein, man soll mich nicht erblassen sehen!«
Er hatte die nötigen Anordnungen getroffen, daß Fouqué sowohl Mathilde wie Frau von Rênal am Morgen des letzten Tages fortbrachte. Frau von Rênal hatte ihm nochmals schwören müssen, am Leben zu bleiben.
»Wer weiß«, sagte er zu Fouqué, »ob wir nach dem Tode nicht doch Empfindungen haben. Ich möchte gern in der kleinen Grotte ruhen – ja, ruhen ist das rechte Wort dafür – hoch in den Bergen über Verrières. Ich habe dir wohl erzählt, daß ich dort in der Grotte mehrmals die Nacht verbracht habe. Meine Blicke schweiften weithin über die reichen Gefilde Frankreichs, während mir der Ehrgeiz die Seele durchloderte. Der Ehrgeiz, das war damals meine Leidenschaft! Mit einem Wort, diese wunderbar gelegene Grotte ist mir lieb und wert. Denke daran! Die braven Besançoner schlagen aus allem Geld. Wenn du es schlau anfängst, werden sie dir meine irdische Hülle verschachern.«
Der traurige Handel gelang Fouqué. Als er in der Nacht in seinem Zimmer allein bei dem Leichnam des Freundes wachte, sah er zu seiner größten Überraschung Mathilde eintreten. Er hatte sie vor wenigen Stunden sieben Meilen hinter Besançon verlassen. Ihre Blicke irrten durch den Raum.
»Ich will ihn sehen!« sagte sie.
Fouqué hatte weder den Mut zu reden noch aufzustehen. Stumm wies er mit der Hand auf einen großen blauen Mantel, der am Boden lag. Er deckte Julians irdische Reste.
Mathilde sank in die Knie. Die Erinnerung an Bonifaz von La Mole und Margarete von Navarra verlieh ihr übermenschliche Kraft. Mit zitternden Händen schlug sie den Mantel zurück. Fouqué wandte seine Blicke ab.
Er hörte, wie Mathilde durch das Zimmer schritt. Sie zündete mehrere Kerzen an. Als es Fouqué über sich gewann, hinzusehen, hatte sie Julians Haupt vor sich auf einen kleinen Marmortisch gestellt und küßte es auf die Stirn.
Mathilde folgte ihrem Geliebten nach der Grabstätte, die er sich gewünscht hatte. Eine große Anzahl von Priestern begleitete die Bahre. Ohne daß es einer unter ihnen wußte, hielt sie in dem verhängten Wagen, in dem sie fuhr, den Kopf des Mannes, den sie so sehr geliebt hatte, auf ihrem Schoße.
So, in tiefer Nacht, gelangte der Zug auf einen der Gipfel der Juraberge und vor die von zahllosen Kerzen prächtig erleuchtete kleine Grotte. Vierundzwanzig Priester zelebrierten die Totenmesse. Eine Menge Einwohner der kleinen Gebirgsdörfer, durch die der Zug gekommen war, hatten sich ihm angeschlossen.
Mitten unter ihnen stand Mathilde in langem Trauerkleid und ließ nach Beendigung des Requiems mehrere tausend Silbertaler unter die Leute werfen.
Als sie dann allein mit Fouqué war, begrub sie eigenhändig das Haupt des Toten. Der Freund sah zu, halb wahnsinnig vor Schmerz.
Auf Mathildens Veranlassung wurde die Grotte mit Marmorskulpturen ausgeschmückt, die unter großen Kosten aus Italien herbeigeschafft worden waren.
Frau von Rênal blieb ihrem Gelübde treu. Sie suchte den Tod nicht, aber drei Tage nach Julians Ende verschied sie in den Armen ihrer Kinder.