Stendhal
Rot und Schwarz
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6. Kapitel

Übrigens war es nicht allein Julian, der in Aufregung war. Die überaus zarte und scheue Frau von Rênal befand sich in der größten Unruhe, seit sie wußte, daß ein Fremdling fortan befugtermaßen zwischen ihr und ihren Kindern stehen sollte. Sie war daran gewöhnt, daß sie mit den drei Jungen zusammen in einem Zimmer schlief. Am Vormittag, als die drei kleinen Betten in das Zimmer getragen wurden, das nunmehr der Erzieher bewohnen sollte, waren viel Tränen geflossen. Vergebens bat sie ihren Mann, wenigstens das Bett von Stanislaus-Xaver in ihrem Schlafzimmer zu lassen.

Die weibliche Empfindsamkeit war in Frau von Rênal übertrieben entwickelt. Sie machte sich von dem künftigen Hauslehrer das widerlichste Bild, indem sie sich einen groben schlechtgepflegten Gesellen vorstellte, der den Auftrag hätte, ihre Kinder zu malträtieren, und dies aus keinem andern Grunde, als weil er Latein verstand, eine wildfremde unnütze Sprache.

Mit der behenden Grazie, die ihr eigen war, sobald sie sich unbeobachtet fühlte, war Frau von Rênal eben durch die Glastür des nach dem Vorgarten zu gelegenen Salons ins Freie getreten, da bemerkte sie am Tor einen Bauernjungen, der ihr beinahe noch wie ein Kind erschien, mit totenblassem Gesicht und Tränen in den Augen. Er hatte ein schneeweißes Hemd an und eine saubere ärmellose Weste aus rotblauem Wollstoff.

Seine Gesichtsfarbe war so licht und seine Augen so sanft, daß Frau von Rênal in ihrem ein wenig romantischen Sinn zunächst dachte, es sei ein verkleidetes Mädchen, das dem Bürgermeister irgendein Anliegen vorbringen wolle. Sie bekam Mitleid mit dem armen Wesen, das dort an der Haustür nicht den Mut hatte, die Glocke zu ziehen. Deshalb ging sie hin. Im Augenblick hatte sie Kummer und Sorge über die bevorstehende Ankunft des Erziehers vergessen.

Julian stand der Tür zugewandt und bemerkte das Nahen der Frau von Rênal nicht. Beim Klang einer leisen Stimme ganz dicht an seinem Ohre schrak er zusammen.

»Was willst du, mein Kind?« fragte sie.

Er drehte sich rasch um. Frau von Rênals Augen strahlten so viel Güte aus, daß sich ein Teil von Julians Schüchternheit verlor. Betroffen von ihrer Schönheit vergaß er alles, sogar den Anlaß, warum er hergekommen war.

Sie wiederholte ihre Frage.

»Ich soll hier Hauslehrer werden, gnädige Frau«, stotterte er endlich, und voll Scham über seine Tränen machte er den Versuch, sie wegzuwischen.

Frau von Rênal fand kein Wort mehr. Sie blickten einander in die Augen. Julian hatte noch nie eine so gut gekleidete Dame gesehen und vor allem noch nie eine, die so glänzende Haut gehabt und mit so sanfter Stimme zu ihm gesprochen hatte. Und sie, sie schaute auf die dicken Tränen, die auf den eben noch blassen, jetzt aber rosigen Wangen des Bauernburschen standen. Plötzlich begann sie fröhlich und übermütig wie ein junges Mädchen zu lachen. Sie machte sich über sich selbst lustig und vermochte ihr Glück nicht zu fassen. So sah also der Erzieher aus, den sie sich als einen unsauberen und schlecht gekleideten Priester vorgestellt hatte, als Schinder und Quäler ihrer Kinder!

»Aha!« sagte sie schließlich zu ihm. »Herr Sorel, der Lateiner!«

Die Anrede ›Herr ‹ war dem jungen Manne so ungewohnt, daß er einen Augenblick nachdachte.

»Jawohl, gnädige Frau!« antwortete er befangen.

In ihrem Glücke wagte Frau Rênal die Frage: »Nicht wahr, Sie werden die armen Kinder nicht grob behandeln?«

»Ich – sie grob behandeln? Aus welchem Grunde?« fragte er erstaunt.

Sie schwieg eine kleine Weile. Dann fuhr sie leise und in wachsender Erregung fort: »Nicht wahr, Herr Sorel, Sie werden gut mit ihnen sein? Versprechen Sie mir das?«

Abermals hörte er sich in vollem Ernst ›Herr Sorel ‹ nennen, dazu von einer so vornehmen Dame. Das übertraf seine kühnsten Träume. In seinen jugendlichen Hirngespinsten waren Damen nur dann so gnädig gewesen, mit ihm zu reden, wenn er eine schöne Uniform anhatte.

Frau von Rênal war nicht minder überrascht über Julians zartes Gesicht, seine großen schwarzen Augen und sein hübsches Haar, das heute lockiger denn sonst war, weil er, um sich zu kühlen, eben den Kopf in das Brunnenbecken am Markt gesteckt hatte. Ihre größte Freude aber an diesem fatalen Hauslehrer, vor dessen Strenge und Grobheit ihr so sehr gebangt hatte, war seine mädchenhafte Schüchternheit. Für das friedsame Gemüt der Frau von Rênal war der Widerspruch zwischen dem, was sie eben noch befürchtet hatte, und dem, was sie jetzt sah, ein wahres Ereignis. Endlich gewann sie ihren Gleichmut zurück. Nun erschrak sie, daß sie mit einem Bauernburschen in Hemdsärmeln an der Haustür stand.

Ziemlich verlegen sagte sie: »Kommen Sie mit herein, Herr Sorel!«

Nie in ihrem Leben hatte eine ungetrübt angenehme Empfindung sie so stark erregt, und noch nie war ihr etwas so Erfreuliches plötzlich an die Stelle von Angst und Sorge getreten. Ihre netten Jungen, die sie so hegte und pflegte, sollten also doch keinem schmutzigen und nörgelnden Priester in die Hände fallen!

Kaum in dem Hausflur, wandte sie sich nach Julian um, der ihr schüchtern folgte. Sie sah sein Staunen beim Anblick des prächtigen Hauses. Auch das gereichte ihm in ihren Augen zum Vorteil. Nur mit etwas konnte sie sich nicht abfinden: sie hatte das Gefühl, als müsse der Erzieher im schwarzen Rock gehen.

»Können Sie wirklich Lateinisch, Herr Sorel?« begann sie von neuem, indem sie stehen blieb. In all ihrem Glück hatte sie mit einem Male tödliche Angst, es könnte doch nicht so sein.

Ihre Frage verletzte Julians Stolz. Das Entzücken, in dem er eine Viertelstunde gelebt hatte, war dahin.

»Gewiß, gnädige Frau«, erwiderte er, wobei er sich Mühe gab, gleichgültig auszusehen. »Ich verstehe Lateinisch ebensogut wie der Herr Pfarrer; ja, wie er manchmal zu sagen beliebt, sogar besser.«

Frau von Rênal fand, Julian sähe jetzt recht böse aus. Er stand zwei Schritte von ihr entfernt. Dicht an ihn herantretend, flüsterte sie ihm zu: »Nicht wahr, in den ersten Tagen werden Sie meine Kinder nicht schlagen, auch wenn sie ihre Aufgaben nicht können?«

Beim Klange der sanften, fast flehentlichen Worte einer so schönen Frau vergaß Julian, was er seiner Würde als Lateiner schuldete. Frau von Rênals Gesicht war ganz nahe dem seinen. Er spürte den leisen Duft weiblicher Sommerkleider. Das verwirrte den armen Bauernjungen im höchsten Maße. Er ward feuerrot, und schweratmend sagte er mit bebender Stimme: »Fürchten Sie nichts, gnädige Frau! Ich werde Ihnen in allem folgsam sein!«

Erst jetzt, nachdem sie keine Sorge mehr um ihre Kinder hatte, fiel ihr auf, daß Julian ein sehr schöner Mensch war. Seine fast weiblichen Züge und seine verlegene Miene machten auf sie, die selbst so außerordentlich scheu und schüchtern war, durchaus keinen lächerlichen Eindruck. Im Gegenteil, das echt Männliche, das man gewöhnlich von Mannesschönheit verlangt, hätte Frau von Rênal Furcht eingeflößt.

»Wie alt sind Sie, Herr Sorel?« fragte sie.

»Bald neunzehn, gnädige Frau!«

»Mein Ältester ist elf Jahre«, erzählte sie, nunmehr völlig wieder im Gleichgewicht. »Er könnte beinahe noch Ihr Spielkamerad sein. Sie werden ihm Vernunft beibringen. Sein Vater hat ihn einmal strafen wollen, da ist das Kind eine volle Woche krank gewesen. Und doch war es bloß ein ganz leichter Schlag...«

»Wie anders ist es mir doch ergangen!« dachte Julian bei sich. »Noch gestern hat mich mein Vater geschlagen. Die reichen Leute haben es gut!«

Frau von Rênal glaubte bereits, in der Seele Julians bis in die geringsten Nuancen Bescheid zu wissen. Sie deutete die Betrübtheit, die ihn sichtlich ergriffen hatte, für Schüchternheit und wollte ihn ermutigen.

»Wie ist Ihr voller Name, Herr Sorel?« fragte sie, mit einer Innigkeit im Ton, deren Zauber Julian empfand, ohne sich sagen zu können, warum.

»Ich heiße Julian Sorel, gnädige Frau. Mir ist bange, weil ich zum ersten Male in meinem Leben ein fremdes Haus betrete. Darum bedarf ich Ihrer Fürsprache und in den ersten Tagen in vielen Dingen Ihrer Nachsicht. Ich bin nie in die höhere Schule gegangen. Dazu war ich zu arm. Auch habe ich nie mit andern Menschen gesprochen, außer mit dem Stabsarzt, einem Verwandten von uns. Er war Ritter der Ehrenlegion ... Und mit dem Herrn Pfarrer Chélan. Er wird Ihnen Gutes über mich sagen. Meine Brüder haben mich immer verprügelt. Denen dürfen sie keinen Glauben schenken, wenn sie mich schlechtmachen! Verzeihen Sie mir meine Fehler, gnädige Frau! Ich werde nie mit Absicht etwas Schlechtes tun.«

Während dieser langen Rede gewann Julian seine Selbstbeherrschung wieder. Er schaute Frau von Rênal an. Wirkliche angeborene Anmut ist allgewaltig, zumal wenn sie einem Menschen eigen ist, der gar nicht an sie denkt. Julian, der sehr wohl wußte, was Weibesschönheit ist, hätte in diesem Augenblick geschworen, Frau von Rênal sei erst zwanzig Jahre alt. Urplötzlich durchzuckte ihn der verwegene Gedanke, ihr die Hand zu küssen. Gleich darauf erschrak er freilich über sich selber. Aber dann wieder sagte er sich: »Es wäre feig von mir, wenn ich eine mir vielleicht nützliche Tat nicht ausführte. Es wird die Mißachtung verringern, die diese schöne Frau gegen mich armen Burschen, der eben der Sägemühle entronnen ist, wahrscheinlich hegt.« Sein Mut wuchs wohl ein wenig, weil er sich erinnerte, daß seit einem halben Jahre bisweilen sonntags von hübschen Mädchen hinter ihm getuschelt ward, er sei ein hübscher Kerl.

Wie er so mit sich kämpfte, unterwies ihn Frau von Rênal mit ein paar Worten über die Art, wie er sich bei den Kindern einführen solle. Die Gewalt, die er sich antat, machte ihn von neuem leichenblaß. Nur mit Mühe brachte er die Worte heraus: »Gnädige Frau, niemals werde ich Ihre Kinder schlagen. Das schwöre ich bei Gott!«

Bei diesen Worten wagte er Frau von Rênals Hand zu erfassen und an seine Lippen zu führen.

Die Geste hatte sie überrascht. Im Nachdenken ward sie betroffen. Es war ein sehr heißer Tag. Deshalb trug sie die Arme bloß, nur von einem Schal bedeckt. Als Julian ihre Hand an seinen Mund zog, war der eine ganz nackt gewesen. Alsbald zürnte sie sich selbst. Es dünkte sie, daß sie viel schneller hätte empört sein müssen.

In diesem Augenblick trat Herr von Rênal aus seinem Arbeitszimmer. Er hatte die Stimmen gehört. In dem salbungsvollen und väterlichen Ton, den er annahm, wenn er im Amt eine Trauung vollzog, sprach er zu Julian: »Es ist höchst wichtig, daß ich mit Ihnen rede, ehe die Kinder Sie zu sehen bekommen!«

Damit ließ er Julian in sein Zimmer eintreten. Seine Frau wollte die beiden allein lassen, aber Herr von Rênal hielt sie zurück. Nachdem die Tür geschlossen war, setzte er sich gravitätisch. Sodann begann er: »Der Herr Pfarrer hat mir gesagt, Sie seien ein tüchtiger Mensch. Es wird Sie hier jedermann mit Achtung behandeln, und wenn ich mit Ihnen zufrieden bin, werde ich Ihnen später behilflich sein, damit Sie einen kleinen festen Posten bekommen. Ich will, daß Sie fortan weder mit Ihren Verwandten noch mit Ihren Bekannten verkehren. Das Gehabe dieser Leute ist nichts für meine Kinder. Hier sind zwölf Taler für den ersten Monat! Aber ich verlange Ihr Ehrenwort, daß Ihr Vater keinen Groschen davon bekommt.«

Der Bürgermeister war auf den alten Sorel schlecht zu sprechen, weil er ihn bei dem Handel doch übertrumpft hatte.

»Zuvörderst, Herr Sorel... ich habe nämlich den Befehl gegeben, daß Sie hier jedermann mit Herr anzureden hat. Sie werden die Vorteile, in ein vornehmes Hauswesen gekommen zu sein, bald verspüren. Was ich sagen wollte, Herr Sorel: Es schickt sich nicht, daß die Kinder Sie in Hemdsärmeln sehen ... Sind die Dienstboten ihm so begegnet?«

Die letzte Frage richtete er an seine Frau.

»Nein, mein Lieber«, erwiderte sie versonnen.

»Um so besser. Hier, ziehen Sie das mal an!« Er reichte dem erstaunten jungen Mann einen Rock von sich. »So! Jetzt geht's zum Schneider Durand!«

Als Herr von Rênal mit dem neuen, nunmehr ganz in Schwarz gekleideten Hauslehrer nach einer reichlichen Stunde zurückkam, fand er seine Frau noch immer auf dem nämlichen Flecke sitzen. In Julians Gegenwart fühlte sie sich beruhigt. Während sie ihn musterte, verlor sie jede Angst vor ihm. Julians Gedanken aber weilten nicht bei ihr. Trotz aller seiner Menschen- und Schicksalsverachtung war er in diesem Augenblicke seelisch ein Kind. Es war ihm, als sei in den drei Stunden, seit er voll Hangen und Bangen in der Kirche gesessen, ein jahrelanges Stück Leben vergangen. Da bemerkte er die eisige Miene der Frau von Rênal. Er begriff, daß sie ihm zürnte, weil er ihr die Hand zu küssen gewagt. Aber mit den neuen Kleidern, die so ganz anders waren denn die, die er gewohnt war zu tragen, hatte sich das Gefühl des Stolzes bei ihm eingestellt. Er war über die Maßen erregt, aber gleichzeitig vom Drange beseelt, seine Freude zu verbergen. Dadurch kam etwas Jähes und Halbverrücktes in jede seiner Bewegungen. Frau von Rênal betrachtete ihn voller Erstaunen. Und Herr von Rênal ermahnte ihn: »Würde, Haltung! Das ist die Hauptsache, Herr Sorel! Sonst haben die Kinder keinen Respekt vor Ihnen.«

»Herr Bürgermeister«, entgegnete Julian, »der neue Anzug beengt mich noch. Als armer Bauernsohn habe ich nur immer Westen getragen. Wenn die Herrschaften gestatten, ziehe ich mich auf mein Zimmer zurück.«

Als der Ankömmling verschwunden war, fragte Herr von Rênal seine Frau: »Na, was sagst du zu unsrer neuen Erwerbung?«

Ohne daß sie es wollte und ohne daß sie sich über das Wie und Warum klar ward, machte Frau von Rênal eine Bewegung, die ihren Mann über ihre wirklichen Empfindungen täuschen sollte.

»Ich bin durchaus nicht so entzückt wie du von diesem Bauernjungen. Dein Entgegenkommen wird ihn so dreist machen, daß du ihn schon nach ein paar Wochen wieder wegschicken mußt.«

»So schicken wir ihn eben wieder weg! Die Sache hat uns dann hundert und so und so viel Franken gekostet, aber Verrières hat die Kinder des Herrn von Rênal in Begleitung eines Erziehers gesehen. Besagter Zweck wäre nicht erreicht, wenn ich Julian in seinem Bauernkittel gelassen hätte. Und wenn ich ihn wieder wegschicke, so geht er selbstverständlich ohne den kompletten, schwarzen Anzug, den ich eben für ihn bei Durand bestellt habe. Ihm verbleibt nur das Fertiggekaufte, das ich ihn gleich habe anziehen lassen.«

Die Stunde, die Julian in seinem Zimmer verbrachte, verging Frau von Rênal wie ein Augenblick. Die Kinder hatten die Ankunft des Hauslehrers erfahren und bestürmten ihre Mutter mit allerlei Fragen. Endlich erschien Julian. Er war wie umgewandelt. Er sah nicht nur würdevoll aus; er war es durch und durch.

Er ward den Kindern vorgestellt, und der Ton, in dem er sie begrüßte, versetzte sogar Herrn von Rênal in Verwunderung.

»Meine jungen Herren«, schloß Julian seine Ansprache, »ich bin hier, euch das Latein zu lehren. Ihr wißt, was es heißt, ein Kapitel auswendig zu lernen. Hier habe ich die Heilige Schrift...« Dabei zeigte er ihnen seine schwarz eingebundene Miniaturausgabe der lateinischen Bibel. »Es ist die Geschichte unsers Heilands Jesu Christi, also der Teil, den man das Neue Testament nennt. Ich werde euch oft Kapitel daraus auswendig lernen lassen. Heute will ich selber einmal eins aufsagen.«

Adolf, der älteste Junge, hatte das Buch entgegengenommen.

»Schlage es aufs Geratewohl auf!« fuhr Julian fort. »Und sage mir das Anfangswort irgendeines Absatzes auf! Ich werde die Heilige Schrift, die unser aller Richtschnur ist, auswendig hersagen, bis ihr mir Halt sagt.«

Adolf schlug das Buch auf und las ein Stück vor. Julian sagte die ganze Seite her, mit einer Leichtigkeit, als spräche er Französisch. Herr von Rênal warf seiner Frau einen Blick des Triumphes zu. Die Knaben merkten das Staunen ihrer Eltern und machten große Augen. Ein Diener kam an die Türe des Salons. Julian fuhr fort, Lateinisch zu sprechen. Der Dienstbote blieb eine Weile starr stehen und verschwand dann. Alsbald erschienen die Kammerjungfer der Frau von Rênal und die Köchin an der Tür. Inzwischen hatte Adolf bereits die achte Stelle aufgeschlagen. Julian sagte eine wie die andre glatt auf.

»Ach, du lieber Herrgott!« sagte die Köchin ganz laut, eine brave, sehr fromme Person. »So ein hübscher junger Priester!«

Dem Bürgermeister ging es an seine Eitelkeit. Statt den Hauslehrer weiterhin zu prüfen, suchte er in seinem Gedächtnis eifrigst nach lateinischen Brocken. Daraufhin zitierte er einen Vers aus Horaz.

Julians Latein beschränkte sich auf die Bibel. Er zog die Stirn hoch und erklärte: »Der fromme Beruf, dem ich mich geweiht habe, verbietet mir das Studium profaner Autoren.«

Herr von Rênal kramte noch eine stattliche Anzahl angeblicher Horazverse aus und erläuterte seinen Kindern, wer Horaz war. Aber sie schenkten seiner Rede keine Aufmerksamkeit. Sie starrten und staunten Julian an.

Da die Dienstboten noch immer an der Tür lauschten, hielt es Julian für angebracht, die Probe zu verlängern.

»Stanislaus-Xaver«, sagte er zu dem jüngsten Knaben, »jetzt mußt auch du mir eine Stelle aus der Heiligen Schrift bezeichnen!«

Der Kleine las schlecht und recht, aber voller Stolz, den Anfang eines Absatzes vor. Julian sagte die ganze Seite her. Um dem Triumph des Bürgermeisters die Krone aufzusetzen, erschienen just während Julians Rezitation Herr Valenod, der Besitzer der schönen normannischen Pferde, und Herr Charcot von Maugiron, der Landrat des Kreises. Durch diese Episode war der Titel Herr anerkannt. Auch keinem der Dienstboten fiel es ein, ihn Julian streitig zu machen.

Am Abend strömten sämtliche Bekannte des Herrn von Rênal herbei, um das Wunder zu schauen. Julian spielte den Unnahbaren und hielt sich alle vom Leibe. Die Kunde seines Wissens verbreitete sich so rasch in der ganzen Stadt, daß Herr von Rênal Angst bekam, Julian könne ihm abspenstig gemacht werden. Bereits in den nächsten Tagen schlug er ihm vor, einen Vertrag auf zwei Jahre zu unterzeichnen.

»Nein, Herr Bürgermeister«, erwiderte Julian kühl, »wenn Sie mich je wegschicken, so muß ich gehen. Was nützt mir also ein Vertrag, der mich bindet, Sie aber zu nichts verpflichtet? Ich kann nicht darauf eingehen.«

In der Folge verstand sich Julian so gut zu benehmen, daß er noch vor Ablauf des ersten Monats sogar die Achtung des Herrn von Rênal errang. Der Pfarrer hatte sich mit dem Bürgermeister entzweit. Somit konnte niemand seine ehemalige Schwärmerei für Napoleon verraten. Julian selbst sprach von seinem Abgotte nur in verächtlichen Worten.


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